Warum bilden sie Staaten und unter welchen Prämissen leben sie im Staat? Weder die naturrechtlichen, rationalistisch-individualistischen Vertragstheorien, noch die organischen Staatstheorien vermögen je für sich genommen befriedigende Antworten zu geben. Denn diese haben keinen Blick für den Freiheitsanspruch, dessen der Mensch sich aber bewußt geworden ist, und jene handeln von theoretischen, nämlich konsequent rational strukturierten Menschen, die in Wirklichkeit höchst selten anzutreffen sind. Otto Depenheuer, Inhaber des Lehrstuhls für Allgemeine Staatslehre, Öffentliches Recht und Rechtsphilosophie sowie Direktor des Seminars für Staatsphilosophie und Rechtspolitik an der Universität Köln, zeigt Wege einer Synthese im Sinn eines modernen Staatsverständnisses, das zwar den Freiheitsanspruch des Einzelnen anerkennt, aber dennoch die praktischen Existenzbedingungen einer überindividuellen Gemeinschaft berücksichtigt.
Depenheuer fordert hierzu, die Vertragstheorien müßten ihren Anspruch aufgeben, „alles von Anfang an erklären” zu können. Die Wirklichkeit könne nicht am Reißbrett entworfen werden. Wenn der Staat infolge einer „grundrechtlichen Perspektivverkürzung” nur noch aus dem Grundgesetz hergeleitet werde, die Grundrechte aber nach überkommener Verfassungsdogmatik als Abwehrrechte des Einzelnen gegen den Staat gehandhabt würden, drohe eine Überforderung von Staat und Verfassung.
Denn der Staat erscheine so als „Feind” der Freiheit, die er erst ermögliche. Die Grundrechte bezögen ihre tatsächliche Wirksamkeit nicht aus einem Naturrecht, sondern aus verfassungsgesetzlicher, also staatlicher Gewährung. Universale Menschenrechte taugten nur als regulative Ideen, da kein Staat sie über sein Territorium hinaus garantieren kann. Zwar sei die vorstaatliche Freiheit, derer der Mensch sich einmal bewußt geworden ist, dem Menschen gemäß und unhintergehbar sei. Grundsätzlich sei jedoch kein Mensch „politisch weltunmittelbar”. Umgekehrt könne aber nur der Staat ethische Sätze in Recht umformen, indem er sie als Gewährungen, als individuelle Zuweisungen ausspreche („suum cuique tribuere”): Dies impliziere ein individualrechtliches, rechtsstaatliches Verteilungsprinzip.
Wenig reflektiert seien hingegen elementare Staatsfunktionen, die verfassungsdogmatisch nicht auf dem Prinzip rechtsstaatlicher Verteilungsgerechtigkeit beruhen, also etwa die Sozialversicherung. In ihr findet eine Umverteilung der Beiträge von reich zu arm, gesund zu krank, stark zu schwach nach dem Prinzip der Bedarfsdeckung statt, die dem individualrechtlichen, rationalistischen Grundsatz der Beitragsäquivalenz widerspreche. Auch beruhe die Sozialversicherung auf Zwangsmitgliedschaft, nicht – wie nach den Vertragstheorien der Staat – auf freiwilligem, vernunftgeleitetem Zusammenschluß. Damit sei ein wirksames, eigenständiges solidarisches Verteilungsprinzip nachgewiesen, das an rational-individualistischen Maßstäben nicht gerechtfertigt werden könne.
Das Solidaritätsprinzip liege apriorisch jeder Verfassungsgebung zugrunde. Es ergebe sich aus der Tatsache staatlicher Existenz, sei also selbst den Grundrechten der Verfassung vorgelagert. Es zeitige Solidar- und „Grundpflichten” des Bürgers, deren Erfüllung dem Staat als „transzendentallogische Voraussetzungen des Staates” rechtlich zustehe. Geistesgeschichtlich folge dies aus den Staatsgündungsmythen der neuzeitlichen Naturrechtslehre, nach denen sich die Menschen zunächst aus Angst vor dem Verlust des Lebens und Besitzes unter Inkaufnahme von Unfreiheit (Hobbes), sodann zum Zweck des institutionellen Schutzes des Eigentums (Locke) und schließlich zur Erlangung sozialer Sicherheit im Verfassungsstaat (von Stein) zum Staat zusammengeschlossen hätten.
Rechte gewähre der Staat seinen Bürgern zumindest auch um ihrer ethisch wertvollen Betätigung willen. Dies schließe das Akzeptieren bestimmter Vorgegebenheiten, einer Art Geschäftsgrundlage, ein. Der freiheitliche Verfassungsstaat gehe insoweit ein Risiko ein, als er darauf angewiesen sei, daß die Bürger in ihrer Gesamtheit ihre je rollenspezifische Verantwortung erkennen und ihr gerecht werden.
Unter einer Verfassung aber, die die Betätigung subjektiver Öffentlicher
Rechte von ihren sozialen Folgen entkoppelt, degenerierten Grundrechte zu „Titeln zur Entsolidarisierung”. Auch die freiheitliche Konkretisierung der Staatlichkeit könne auf die solidarische Grundlage nicht verzichten. Als Grundpflichten habe der Bürger unbedingt und ohne Gegenleistung zu erfüllen: die Friedenspflicht als Anerkennung des staatlichen Gewaltmonopols, die einfachgesetzlich nur konkretisiert werde; die Gehorsamspflicht, die apriorisch der Verfassung vorausgehe und als Geltungsgrund des Rechts keiner Konkretisierung fähig sei; und die gemeinsame, solidarische Lastentragung, die durch Geld- und Dienstleistungen erbracht werde. Daher sind also Grundpflichten zu den erst verfassungsrechtlich begründeten Grundrechten asymmetrisch; diese können jenen nicht entgegengehalten werden: Wer sich auf seine „Menschenrechte” berufen will, muß dem Staat, der sie ihm positivrechtlich gewährt, seinen Tribut zollen. Ihre Grenzen finden die Grundpflichten in der individuellen Leistungsfähigkeit und Zumutbarkeit, die ebenfalls aus der gegenseitigen Solidarität fließen.
Warum verhalten sich Menschen solidarisch? Sie tun das nur, weil und soweit sie untereinander eine besondere Gleichheit erkennen, die als Grund und Legitimation der Solidargemeinschaft diese substantiell trägt, und die Depenheuer als „Homogenität” bezeichnet. Welcher menschliche Faktor diese Homogenität ausmacht, ist damit nicht gesagt. Entscheidend ist, daß die Homogenität sämtliche andere Gleichheitsbeziehungen, deren es ja viele geben kann, so sehr überwiegt, daß es überhaupt zur Bildung der Solidargemeinschaft – des Staates – kommen kann. Homogenität sei unverfügbar historisch gewachsen. Ihre rational-individualistische Herleitung mißlinge, da auf dieser Basis nicht begründet werden könne, warum sich Staatlichkeit und Solidarität nur im konkreten Rahmen, nicht global verwirklichen. Das subjektive Empfinden der Homogenität als identitäts- und gemeinschaftsstiftende Verbundenheit entspreche dem Begriff der Brüderlichkeit, der auf Abstammungsgemeinschaft hinweist. Ihre Vermittlung sieht Depenheuer notwendig in der Geschichte begründet, da der Mensch infolge knapper Lebenszeit nicht in der Lage sei, die Möglichkeiten abstrakter Freiheit auszuschöpfen. Vielmehr sei er, wie Odo Marquard es formulierte, gezwungen, an etwas Gegebenes „anzuknüpfen”. Die Aufklärungsphilosophie dagegen habe alles Reale seiner Selbstverständlichkeit beraubt und nach prinzipieller Rechtfertigung verlangt, ohne aber selbst eine taugliche Homogenitätsbasis zu begründen. Damit aber überfordere sie die Begründungskapazitäten des Menschen. Freiheit vermittele sich nur konkret in der Organisation, im Staat, der sie als beschränkte Freiheit in Abhängigkeit von seinen historischen Voraussetzungen gewähre, dem Menschen dadurch aber erst Handlungsfähigkeit verleihe. Scheitert der Mensch an der Anknüpfung, bleibt ihm danach nur, vor dem horror vacui, der Erkenntnis der totalen Kontingenz, zu erstarren. Hiervor schütze insbesondere das Tabu, das Sinn stifte, weil es durch seine Frageverbote daran hindere, den Sinn der eigenen überindividuellen Verbunden- und Verwiesenheit zu hinterfragen. Der Kern verfassungsrechtlicher Garantien beruhe auf dem Tabu seiner Unabänderbarkeit (Art. 19 Abs. 2 GG) und Ewigkeitsgeltung (Art. 79 Abs. 3 GG), was zur Funktionsgewährleistung auch ausreichend sei: „Das Bewußtsein dieses absoluten Verbotes beruhigt, weil man ‚nicht alles darf, was man könnte‘”. Auf diese Weise schließe das Tabu Handlungsalternativen aus und führe dadurch erst zur Freiheit rationalen Handelns, auch zur Freiheit zur Solidarität: Mit allen Menschen gleichzeitig solidarisch zu sein, übersteigt das Menschenmögliche. Aufgabe der Staatsrechtswissenschaft sei es, die rationalitätskompensatorische Funktion und identitätsstiftende Notwendigkeit von Tabus im Recht herauszuarbeiten. Die rationale Staatstheorie verdränge und tabuiere jedoch das Irrationale des Menschen und könne zwar das Phänomen der Staatlichkeit erklären, nicht aber den „konkreten Staat in der Kontingenz von Zeit, Volk und Gebiet”. Dadurch werde sie den Bedürfnissen einer schicksalhaften, brüderlich empfindenden und sich als „ewig” ansehenden Solidargemeinschaft nicht gerecht. Sie schaffe nur einen rationalen Zweckverband zur Selbstentfaltung, der sich nach Zweckerreichung wieder auflöst: Am Ende der Entwicklung zu immer mehr liberaler „Freiheit von” stehe der isolierte, unhistorische Einzelmensch, den die Staatslehre ursprünglich zu didaktischen Zwekken entworfen hat; der Liberalismus, so Depenheuer, schaffe erst den „garstigen” Naturzustand, in dem der Mensch an der Unbeschränktheit seiner Handlungsmöglichkeiten zugrunde geht.
Sobald eine Gemeinschaft beginnt, ihre Homogenität zu reflektieren, bedürfe sie einer rechtlich faßbaren Gestalt. Dies sei der Bund, die Manifestation des subjektiven Willens zum Leben in der konkreten Gemeinschaft. Bund und Homogenität greifen ineinander: Der Bundesgedanke könne bei abnehmender Homogenität den Solidaritätsgedanken weitertragen. Der Bund sei kein Vertrag des do ut des, sondern Chiffre der Homogenität. Unter dem Rechtfertigungsdruck des Rationalismus habe er die Rückführung der Solidargemeinschaft auf den Willen des Einzelnen erlaubt. Er sei unauflöslich und wehre dadurch Profiteure ab; er verbinde Generationen und gebe der Solidargemeinschaft dadurch Vergangenheit und Zukunft: Der Bund befreit den Einzelnen aus der vita brevis hin zur Geschichtlichkeit.
Da den Vertragstheorien keine historische, sondern lediglich philosophische Wahrheit zukomme, könne von dem Erfordernis tatsächlicher Zustimmung zum Bundesschluß nicht ausgegangen werden. Der Einzelne bekunde seinen Willen zum Leben in der Gemeinschaft vielmehr dadurch, daß er in ihr lebe – also durch einen „impliziten Vertragsschluß”, der wesentlich auf dem Verbot widersprüchlichen Verhaltens – venire contra factum proprium – fußt. Depenheuer knüpft hier an Sokrates an: „Wer von euch aber geblieben ist, nachdem er gesehen hat, wie wir die Rechtssachen schlichten und sonst die Stadt verwalten, von dem behaupten wir dann, daß er uns durch die Tat angelobt habe, was wir nur immer befehlen wollen, möchte er tun.” Erfüllt also der Staat seine Ordnungs- und Sicherheitsfunktion, so kann der Einzelne nicht analog der individualistisch-rational konzipierten Zivilrechtsordnung einwenden, seinem Schweigen komme kein Erklärungswert zu, sondern ihn trifft die Obliegenheit, sich zu dem Gemeinwesen, auf das er apriorisch verwiesen ist, aktiv zu verhalten. Die einzige Möglichkeit, den totalen Dissens zu manifestieren, liege im Austritt aus der Solidargemeinschaft durch Auswanderung, wohin auch immer. Aus der Theorie vom impliziten Vertragsschluß hat Depenheuer kürzlich seine Theorie des Bürgeropfers entwickelt, der zufolge der Staat auch Passagierflugzeuge, die als Waffe gegen die Bevölkerung verwendet werden sollen, ungeachtet der unschuldigen Insassen abschießen darf. Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Entscheidung zum Luftsicherheitsgesetz vom 15. Februar 2006 geurteilt, dies verstoße gegen die Würde des Menschen, da der Staat die Passagiere „als bloße Objekte seiner Rettungsaktion zum Schutze anderer” behandele. Depenheuer entgegnet, der in einer ausweglosen Lage ohnehin Todgeweihte gelange zu seiner Würde erst dadurch, daß er für andere, denen er sich brüderlich verbunden fühle, geopfert wird. Der Gedanke des Opfers, das man nicht ist, sondern das man bringt, sei aber tabu. Dabei verlange auch der untätige Staat faktisch ein Bürgeropfer, nämlich von den Bürgern am Zielobjekt, die er in einer Situation allein lasse, in der nur er helfen kann, in der sie seines Schutzes also am nötigsten bedürfen. Dies komme der Aufkündigung der Solidargemeinschaft durch den Staat gleich.
Die Pervertierung der Dürigschen Objektformel durch das Bundesverfassungsgericht betrachtet Depenheuer als Höhepunkt einer Verfassungsdogmatik, die den neuartigen, asymmetrischen Bedrohungen nicht mehr gewachsen sei, da sie die Selbstbehauptung des Rechtsstaates um ihrer „rechtsstaatlichen Unschuld” willen in verwerflicher Weise verweigere, und der die Kategorien, unter denen verantwortliche Rechtsentscheidungen des Staates nur getroffen werden können – Normalität und Ernstfall, Feind und Recht, Opfer und Selbstbehauptung – entglitten seien.
Für das Voranschreiten der europäischen Integration ist nach alledem zunächst die Frage zu beantworten, auf welcher gemeinsamen Homogenitätsbasis „Europa” fußen soll. Vormals nationalstaatliche Aufgaben gehen auch in Zukunft auf überstaatliche Organisationen über. Durch den als Globalisierung umschriebenen Prozeß lockere sich auch die Bindung zwischen Staat und Bürger. Daher treten die Staaten in einen Wettbewerb um die besten Lebensbedingungen: „Legitim ist der Staat, in dem die Bürger leben wollen.” Identität müsse daher auf eine stärker rationale Basis gestellt, fortlaufend kulturell erarbeitet und neu erworben und gerechtfertigt werden. Die nationale sei nicht die einzige denkbare kollektive Identität. Indes wird diese gerade vor dem Hintergrund der islamischen Bedrohung nur durch eine Verbundenheit überlagert werden können, die so stark ist, daß sie „auch in Gefährdungslagen die staatliche Einheit”, also ebenfalls das Opfer trägt. Ein rein rationaler, etwa wirtschaftspolitischer Zusammenschluß ohne „nicht-rationale Tiefendimension” werde dies nicht vermögen. Daher sei auch der deutsche „Verfassungspatriotismus” konzeptionell untauglich. Die notwendige europäische Identität könne nicht durch Überwindung der nationalen Identitäten geschaffen werden, sondern nur aus ihnen erwachsen. Die Europäische Verfassung schaffe nicht die Identität Europas, sondern setze sie voraus. Hierzu sei unabdingbar, daß der rationalen wie der emotionalen, der rechtlichen wie der nationalen, der bündischen wie der homogenen Basis der Mitgliedstaaten Rechnung getragen werde. Denn zur Menschenwürde gehöre auch, seine im konkret biographisch vorgegebenen Sozialverband erlangte Individualität behalten zu dürfen.