Der am 15. Juni 1985 in Schengen, einem kleinen luxemburgischen Städtchen an der Mosel, geschlossene Vertrag beinhaltet den Verzicht auf Kontrollen des Personenverkehrs an den Grenzen der beigetretenen Staaten und gleichzeitig die stärkere Sicherung der Außengrenzen zu Drittstaaten.
‚Schengen‘ steht für die Vision eines demokratischen, freizügigen und intern grenzenlosen Europas, das politisch wie wirtschaftlich immer mehr zu einer Art Vereinigte Staaten von Europa zusammenwächst. Von rechts wird das Vertragswerk als bürokratischer, realitätsferner Versuch zur Beseitigung des vielgestaltigen „Europas der Vaterländer” kritisiert, während die Linke eine bewußte Abschottung der „Festung Europa” von den Nachbarräumen, ihren Entwicklungsproblemen und nicht zuletzt den von dort kommenden Flüchtlingsmassen behauptet.
Wie sieht die Alltagsrealität an einem Grenzübergang des Schengen- Mitglieds Polen zum EU-Anwärter Ukraine aus? Einer der zwei großen Übergänge an dieser 526 Kilometer langen Trennungslinie liegt östlich des galizischen Przemysl auf der Strecke nach Lemberg. Er heißt Przemysl/Medyka – Mostiska. Auf der polnischen Seite ist das Erscheinungsbild in letzter Zeit viel freundlicher geworden – von den Uniformen der Grenzer bis zu den mit Geldern aus Brüssel modernisierten Gebäuden. Nachdem die Zöllner im April 2007 durch einen massiven Streik eine Erhöhung ihrer Löhne durchsetzen konnten, wobei sie durch betont gemächlichen „Dienst nach Vorschrift” endlose Staus verursacht hatten, entspannten sich ihre Mienen wieder, und es wird korrekt und zügig gearbeitet.
Ein ganz anderes Bild bietet sich dem Reisenden auf der östlichen Seite dieser Grenze, die schon vor der Wende als eine der am besten gesicherten Europas galt. Die viel zu zahlreichen ukrainischen Zöllner tragen Uniformen, die in die Jahre gekommen sind, langweilen sich sichtlich und lassen sich mit der Abfertigung bisweilen dennoch unendlich viel Zeit. Bestechungsgelder gehören zum Alltag, Schikanen ebenso. Der einst überaus rege, nicht zuletzt von westukrainischen Zigarettenschmugglern geprägte Kleinhandel in der Region ist wegen der für ukrainische Staatsangehörige im Januar 2008 eingeführten kostenpflichtigen Visa (35 €) vorübergehend fast zum Erliegen gekommen. In umgekehrter Richtung besteht nach wie vor Reisefreiheit.
Der kleine Grenzverkehr bei Przemysl hat aber mittlerweile aus mehreren Gründen wieder an Dynamik gewonnen: Die Regierung in Warschau ist an guten wirtschaftlichen Beziehungen zu den Ukrainern interessiert, sie nimmt Rücksicht auf die östlich der Grenze beheimatete polnische Minderheit und setzt sich nicht erst seit dem am 26. Mai 2008 gemeinsam mit Schweden angestoßenen EU-Projekt „Östliche Partnerschaft” für eine offensive Ostpolitik der Staatengemeinschaft ein.
All das ändert jedoch wenig daran, daß für normale Reisende, vor allem jene aus dem alten EU-Europa, auch hinter der Grenze auf ukrainischer Seite häufiger Schwierigkeiten in Gestalt korrupter Polizisten auftreten. Diese sind ungeniert darauf aus, arglose Autofahrer mit dieser oder jener Begründung abzukassieren. Der rumäniendeutsche Schriftsteller Richard Wagner hatte zu Recht darauf hingewiesen, daß das „Ende des Sozialismus (…) nicht das Ende der Korruption” bedeute, da diese als Krisensymptom von den kommunistischen Machthabern nur, solange es eben ging, verhüllt worden war.
Tagsüber gibt es an der Grenze bei Przemysl regelmäßig längere Staus; die Insassen von Reisebussen müssen sich auf Wartezeiten von zwei bis vier Stunden einstellen. Vor einigen Jahren war es zwar noch deutlich schlimmer, dennoch bekommt man hier nach wie vor eine Ahnung davon, was es einst bedeutete, eine Grenze im sozialistischen Teil des Kontinents zu überqueren.
Abgesehen von diesen offensichtlichen Eindrücken gibt es das verborgene Bild der Grenze, die ja eine Schengen-Außengrenze ist und dementsprechend verstärkt gegen Schmuggel, illegale Zuwanderung und ähnliches gesichert werden soll. So lauten jedenfalls die Vorgaben aus Brüssel, für deren Umsetzung eine Europäische Agentur zum besseren Schutz der EU-Außengrenzen (Frontex) und Soforteinsatzteams für die Grenzsicherung (Rabit) geschaffen wurden. Vorübergehend war sogar ein gemeinsames „Europäisches Grenzschutzkorps” im Gespräch. „Grüne” Grenzen wie jene zwischen Weißrußland und Polen oder Polen und der Ukraine erhielten neue Sicherungszäune und werden von personell deutlich aufgestockten Militärstreifen, Wärmebildkameras oder Leuchtsignalminen überwacht. Allein für die Befestigung der slowakischen Schengen-Außengrenzen gegenüber der Ukraine wurden 100 Millionen Euro eingesetzt. Zäune sichern auch die litauisch-weißrussische Grenze, auf deren östlicher Seite Wachposten patrouillieren, denen es erlaubt ist zu schießen (Versuche illegaler Grenzübertritte werden mit bis zu zwei Jahren Gefängnis bestraft). Deutsche Bundespolizei ist bei Przemysl wie an manch anderen Orten in beratender Funktion oder in der Ausbildung tätig. Man klärt über die neuesten Methoden der Paßfälschung auf, hilft Autodieben das Handwerk zu legen oder den Schleppern beim schmutzigen Geschäft der illegalen Zuwanderung dazwischenzufunken.
Wenn man von der Korrumpierbarkeit der polnischen, ukrainischen, slowakischen und ungarischen Grenzer absieht, gelten die Schengen-Ostgrenzen inzwischen zu Recht als weitgehend dicht. Erst wenn man diese in westlicher Richtung überquert hat, sei es als Bürger eines Mitgliedslandes oder ausgestattet mit einem sogenannten Schengen-Visum, besteht freie Fahrt über zahlreiche Landesgrenzen hinweg. Zumindest theoretisch: Denn die schnelle Einbeziehung der ostmitteleuropäischen EU-Neulinge in das Abkommen offenbarte wieder einmal das in Brüssel geltende Primat der Ideologie über die Sachpolitik. Denn vom Gesichtspunkt der Grenzsicherung aus war die Erweiterung unzureichend vorbereitet und sorgt bei den Polizei- und Zolldienststellen im Hinterland buchstäblich für schlaflose Nächte. Die Einbeziehung der Ostmitteleuropäer war ursprünglich zwingend an die Fertigstellung eines neuen „Schengener Informationssystems II” gekoppelt (zusätzliche Speicherung von biometrischen Daten, Erweiterung der Fahndungsmöglichkeiten u. a.), doch erhebliche technische Probleme verzögern den Abschluß der Maßnahmen noch bis mindestens kommendes Jahr. Da eine Aufschiebung der Osterweiterung politisch nicht gewollt war, einigten sich die EU-Justiz- und Innenminister darauf, als Zwischenlösung das alte Netzwerk zur länderübergreifenden Polizeizusammenarbeit aufzurüsten. Die deutsche Bundespolizei führt seither entlang der Grenzen zu Tschechien und zur Republik Polen in einem Streifen von bis zu 30 Kilometern landeinwärts mit erhöhtem Personalaufwand stichprobenartig Kontrollen durch.
In dem insbesondere für die Polizeiarbeit im Hinterland geschaffenen elektronischen Fahndungsverbund der Schengen-Staaten manifestiert sich das Eingeständnis, daß die Milliardenausgaben für einen effektiven Ausbau der Grenzsicherungsanlagen gegenüber Drittstaaten den Wegfall der nationalen Kontrollen in puncto Kriminalitätsbekämpfung und Eindämmung der illegalen Zuwanderung noch nicht, vielleicht aber auch nie auszugleichen vermögen. Anläßlich internationaler Großveranstaltungen wie des G8-Gipfels in Heiligendamm oder bei den jüngsten Fußball-Welt- und Europameisterschaften mußte das Abkommen sogar vorübergehend außer Kraft gesetzt werden, um die Überforderung der Polizei nicht allzu deutlich werden zu lassen.
Im allgemeinen pflegt gerade die deutsche Politik die Konsequenzen von Schengen schönzureden. So behauptete Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble im Juni 2008, die Osterweiterung habe keine Zunahme der illegalen Einwanderung und der Kriminalität gebracht. Die vorgelegten Statistiken, die das zu belegen scheinen, werden allerdings von unabhängigen Beobachtern als irreführend bezeichnet, da sie auf Grund geringerer Kontrollen entstanden seien und es zum Beispiel in grenznahen Städten wie Frankfurt/Oder und Görlitz nachweislich vermehrt Einbrüche und Autodiebstähle gibt.
Linke Kritiker des Schengen-Grenzregimes weisen auf Schätzungen hin, wonach zwischen 1993 und 2003 beim Versuch der illegalen Überquerung der bundesdeutschen Ostgrenze etwa 145 Menschen ertrunken seien, hingegen allein an der Schengen-Südgrenze, insbesondere an der Meerenge von Gibraltar und in der Ägäis, zwischen 1994 und 2004 über 5.000 Menschen umkamen. Damit soll ein inhumaner Charakter der angeblich hermetisch abgeschirmten „Festung Europa” suggeriert werden.
Der Bevölkerungswissenschaftler Josef Schmid nannte die Einwanderungsfrage vor dem Hintergrund vergleichbarer Äußerungen bereits zu Beginn der neunziger Jahre ein „Eldorado des apolitischen Moralismus”. Die vielen Opfer an den Schengen-Außengrenzen dürfen nicht den Blick dafür verstellen, daß ein erheblicher Teil der aus Afrika über den Seeweg drängenden Menschen schließlich doch ihr Ziel erreicht und in Europa Aufnahme findet. Ähnlich wie Mittel- und Südamerika für die USA ist der Schwarze Kontinent für Europa der Ausgangspunkt eines nicht enden wollenden Migrations-Tsunamis. Genaue Zahlen sind nicht zu bekommen, aber allein die Tatsache, daß in Spanien regelmäßig sogenannte Regularisierungskampagnen für Hunderttausende illegale afrikanische Einwanderer vollstreckt werden, läßt die Dimension erahnen. Selbst differenzierter denkende Autoren wie der frühere Zeit-Redakteur Michael Schwelien finden keine überzeugenden Antworten auf die Europa unweigerlich bevorstehende demographische Katastrophe. Schwelien tritt für eine „gesteuerte Einwanderung” ein und flüchtet sich in den hilflosen Appell an die EUStaaten, mehr für die „Aufnahme und Integration von Flüchtlingen” zu tun.
Die ideologische Selbstbeschränkung einer solchen Argumentation zeigt sich, wenn man den Blick nicht nur auf das ökonomische Wohlergehen der Massen junger schwarzafrikanischer Männer richtet, die die Risiken ihrer Flucht ins europäische Wohlstandsgebiet immerhin kennen und bewußt eingehen. Vielmehr gilt es aus europäischer Sicht, die Folgen für die Zukunft des eigenen Kontinents in den Mittelpunkt zu stellen – also den absehbaren Kollaps der Sozialsysteme, die beschleunigte kulturelle Überfremdung, Kriminalitätsimport sowie die Förderung ausbeuterischer Mechanismen von landwirtschaftlichen Großbetrieben, die die Illegalen für Billiglöhne schuften lassen. Auch für Afrika bringt die Massenflucht insgesamt mehr Nachteile als Vorteile. Zahllose junge arbeitsfähige Männer verlassen für längere Zeit oder sogar für immer ihre Heimat und ihre Familien und begeben sich in einen ganz anderen Kulturraum, in dem sie sozial isoliert sind, sich fremd fühlen und nicht selten auf die schiefe Bahn geraten.
Tatsächlich weisen die Szenarien, die sich Woche für Woche in den spanischen Afrika-Enklaven Ceuta und Melilla oder auf Lampedusa und Malta sowie in der Ägäis abspielen, eher auf eine noch immer zu große Durchlässigkeit zumindest der Schengen-Südgrenzen hin als auf eine totale Abschottung. Die Fakten lassen Jean Raspails Roman Das Heerlager der Heiligen als prophetisches Werk über den durch Identitätsschwund und fehlende Verteidigungsbereitschaft selbstverschuldeten Niedergang Europas erscheinen.
Die Politik nährt noch immer die Illusion einer zunehmend entgrenzten Welt. Doch die Realitäten weisen längst – trotz der „Globalisierung” von Wirtschaft, Verkehr und Informationswesen – in eine andere Richtung. Die multipolare Welt ist durch neue kleinräumigere Koalitionen und Abschottungstendenzen gegenüber anderen Räumen charakterisiert.
In Europa führt die schrittweise Aufhebung interner Grenzen mitnichten dazu, daß sich die Schengen-Zone in eine amorphe territoriale Masse auflöst, die dann aus Brüssel zentral verwaltet werden muß. An die Stelle so mancher alter Nationalstaaten treten neue kleinere Gebilde – wie Flandern, Schottland oder das Baskenland -, die zum Teil wiederum nationalstaatlichen Charakter haben. Oder es formieren sich grenzübergreifende Regionen – beispielsweise in Schlesien und Tirol -, deren einheitlicher kulturgeschichtlicher Zusammenhang vorübergehend durch „künstliche” Grenzen unterbrochen war.
Diese Entwicklung hat in den letzten Jahren sichtlich an Fahrt gewonnen und verleiht (auch im Kontext des jüngsten Krieges in Südossetien) Gedanken, die der Historiker Karl Schlögel Mitte der neunziger Jahre in bezug auf das Ende der Blockkonfrontation geäußert hatte, eine neue, hochaktuelle Bedeutung: „Die Diplomatie, die mit dem handling der großen Grenze gerade noch fertig geworden ist, ist von den vielen Grenzen, von deren Existenz sie erst erfuhr, als es zu spät war, heillos überfordert. Ihr Blick war anders konditioniert, und so wiederholte sie nur hilflos die Grundsätze, die dem Gespött und der Verachtung preisgegeben sind. Europa pflegt auf der Hochebene seiner Institutionen den universalistischen Diskurs, aber die Kapitulation geschieht vor Ort.” Die neuen ethno-kulturellen Realitäten gehen mit veränderten Grenzziehungen in den Köpfen der Menschen einher und illustrieren den vielschichtigen Bedeutungsgehalt der ‚Grenze‘. Diese trennt ja nicht nur, sondern führt zugleich zusammen, indem sie eine bestimmte ethno-kulturelle Gruppe in ihrer Unterschiedlichkeit von anderen, fremden Gruppen bestärkt und damit Identität schafft. Und die braucht Europa mehr als alles an