Die jetzt als Band 23 der Gesamtausgabe (Georg Simmel, Gesamtausgabe in 24 Bänden, Bd 23: Briefe 1912–1918. Jugendbriefe, herausgegeben und bearbeitet von Otthein und Angela Rammstedt, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2008. 1241 S., br, 28.00 € vorliegenden Briefe Simmels reichen von dessen später Berufung auf ein Ordinariat in Straßburg bis zu seinem Tod kurz vor Ende des Ersten Weltkrieges. Die Schriftstücke kommentieren und ergänzen die schon edierten Kriegsschriften des Philosophen und Soziologen. Sie zeigen, daß die heutige Vereinnahmung Simmels als (post)modernen Relativisten und „guten” jüdischen Europäers nicht zu halten ist. Simmel war kein Skeptizist und nur in eingeschränktem Sinne ein Relativist, was für ihn nicht bedeutete, „daß Wahrheit u. Unwahrheit zueinander relativ sind; sondern: daß Wahrheit eine Relation von Inhalten zueinander bedeutet, deren keiner für sich sie besitzt, gerade wie kein Körper für sich schwer ist, sondern nur im Wechselverhältnis mit einem anderen.” (S. 638) Und Simmel war an vielen Fragen des Judentums, wie seine Briefe an Martin Buber zeigen, nur am Rande interessiert. Er hielt sich für „jüdisch-parteilichen Meinungen” (S. 602) gänzlich fernstehend, war aber verständlicherweise sehr sensibel für Antisemitismus. Dem Historiker Hans Delbrück verkündete er im Zusammenhang mit einer Initiative gegen die Tätigkeit der Antisemitenvereine im September 1914 stolz, daß „die erste französische Fahne … von einem Juden erobert worden” (S. 381) sei.
Sein Europäertum sah Simmel selbst immer in Verbindung mit einem leidenschaftlichen Patriotismus, im Krieg hielt er dann „Europa” für eine auf lange Zeit zerstörte Idee. Zu tief saß die Erbitterung besonders gegenüber England: „Daß ein Volk, das nie die geringste Feindseligkeit von uns erfahren hat, über uns herfällt und unsere Existenz vernichten will, und zwar ausschließlich im Interesse seiner kommerziellen Machtsphäre – darüber werden Generationen nicht hinwegkommen.” (S. 516) Und er wandte sich noch am Ende des Krieges gegen jeden idealistischen Pazifismus: „Uns hilft nur der harte Kampfeswille – der ist furchtbar u. schwer erträglich, aber es ist die einzige Rettung vor totalem Untergang. Was alle diese Friedensschreie uns schon geschadet haben, ist natürlich nicht mit Zahlen zu belegen, aber es ist psychologisch unvermeidlich u. aus der feindlichen Presse ohne weiteres ersichtlich, daß jede pazifistische Äußerung den Krieges- und Siegeswillen der Feinde stärkt.” (S. 1003 f.)
Trotz dieser patriotischen Haltung wurde Simmel beim Kaiserlichen Statthalter in Elsaß-Lothringen wegen eines angeblichen Verstoßens gegen die damalige nationale politische Korrektheit denunziert.
Simmel wurde dann aber nur ermahnt, ein Disziplinarverfahren nicht eingeleitet. Diese Herrschaft des Verdachts gegen Simmel begleitete ihn sein ganzes akademisches Leben lang. Als außeretatmäßiger unbesoldeter Extraordinarius für Philosophie erzielte Simmel eine außerordentliche Wirkung in Berlin, aber eine Berufung auf einen ordentlichen Lehrstuhl scheiterte immer wieder an antisemitischen und inhaltlichen Vorbehalten gegen ihn. Dabei ging es um Simmels Soziologie, Lehrstühle für dieses Fach gab es ja noch keine, und der neue soziologische Ansatz war etwa dem Historiker Dietrich Schäfer in einem Gutachten für die Besetzung eines philosophischen Lehrstuhls in Heidelberg suspekt: „Richtungen, die mehr zersetzend und negierend als grundlegend und aufbauend sind, haben doch nur ihre begrenzte Berechtigung in einer Zeit, die geneigt ist, alles ins Wanken zu bringen, und nicht nur immer aus Forschungseifer, sondern auch aus Sensationslust.” (S. 234)
Simmel blieb angesichts ausgehender finanzieller Reserven aus seiner Erbschaft daher kaum etwas anderes übrig, als den „Sprung ins Dunkle” (S. 312) zu wagen und 1914 ins Reichsland Elsaß-Lothringen überzusiedeln, just in der Zeit, als der Erste Weltkrieg ausbrach und das ohnehin nicht komfortable Leben in der Festung Straßburg deutlich beschwerte: „Hier in der Grenzfestung riecht es doch offenbar mehr nach Blut.” (S. 441) Simmel ging es jetzt aber um anderes: Der Kriegsausbruch erschütterte ihn, er verfiel aber nicht in einen nationalen Rausch, sondern in eine ernste, geradezu feierliche Stimmung. Praktisch versuchte er den Malus der altersbedingten Abstinenz von der Front, den er deutlich als solchen empfand („Doch habe ich das Gefühl, daß, wer weder selbst hinausgeht noch ein Kind hinausschickt, die Weihe nicht empfangen hat – als wäre er nicht würdig befunden, am Opfer teilzunehmen.” S. 471), durch allerlei Hilfsaktionen und beschwörende Stellungnahmen gegenüber Kollegen des neutralen Auslandes zugunsten der deutschen Sache wettzumachen. Dabei stellte er, typisch für die damaligen Gelehrten, die Rechtschaffenheit der deutschen Kriegsanstrengungen geradezu metaphysisch fest, was auch bei wohlgesinnten neutralen Ausländern nicht selten Verwunderung hervorrief. Mit persönlichen Kontakten zu Ausländern der Feindstaaten war es ohnehin vorbei, seitdem sein vorheriger Briefpartner Henri Bergson den Krieg zu einem Kampf der Zivilisation gegen das deutsche Barbarentum erklärt hatte. Die George-Jünger Friedrich Gundolf und Karl Wolfskehl wollten Simmel mit verschwurbelten Argumenten von dieser Auslandstätigkeit” abbringen, Simmel ließ sich in seinem Engagement aber nicht beirren.
Theoretisch sah Simmel im Krieg zunächst die Chance, die Veräußerlichung des Lebens, die Vereinzelung des Individuums und die Verselbständigung der Mittel zu Zwecken zugunsten einer neuen Geistigkeit, Ganzheit und existentiellen Einheit zu durchbrechen. „In einer logisch freilich nicht recht ausdrückbaren Art ist das Ganze und das Einzelne überhaupt nicht mehr geschieden, Deutschlands Leben und Verderben ist unmittelbar mein eigenes Leben und Verderben.” (S. 393)
Mit zunehmender Dauer des Krieges schwankte Simmel dann zwischen der Spengler ähnlichen Diagnose eines Zusammenbruchs der europäischen Kultur zugunsten Amerikas und der Hoffnung auf die deutsche Jugend, bei der er einen berechtigten antiakademischen Impuls erkannte: „fast alles, was in der geistigen deutschen Jugend willensstark, originell, zukunftsversprechend ist, fühlt sich in mehr oder weniger ausgesprochenem Gegensatz zu dem akademischen Betrieb der Geisteswissenschaften. Dieser vorwärtsdrängenden Jugend erscheint die Universität, die sie gutgläubig u. verehrend betreten hat, bald als ein morsches Überlebsel der Vergangenheit, bestandsfähig nur noch durch die Macht des dahinterstehenden Staates u. die Konventionen u. Verschwörungen der Gelehrtenzunft, starr, eingekapselt, taub gegen die Stimmen der Zeit u. unfähig zur geistigen Führerrolle.” (S. 977) Die Briefe enden mit bewegenden Abschiedsbriefen des an einem Leberkarzinom erkrankten Simmels an den Grafen Keyserling und Max und Marianne Weber. In philosophischer Ruhe zeigt sich Simmel dankbar für ein erfülltes Leben und die ihm gewährten Freundschaften.
Die Briefedition enthält nur einen kleinen Teil der Briefe Simmels aus jenem Zeitraum, sein Nachlaß ist verschollen. Daher sind hier überwiegend auch nur Simmels eigene Briefe abgedruckt, es handelt sich also nicht um einen Briefwechsel. Dieses Manko wird aber durch eine genaue Kommentierung und ein gutes Korrespondentenverzeichnis zumindest relativiert. Die gleichzeitige Veröffentlichung in Leinen und Broschur sorgt dafür, daß Simmel mit dieser nun bis auf den Registerband abgeschlossenen Gesamtausgabe – 150 Jahre nach seiner Geburt und 90 Jahre nach seinem Tod – nicht als Klassiker begraben wird, sondern als anregende und als zeithistorische Quelle von Rang zugänglich ist, die tiefe Einblicke in die Befindlichkeiten des damaligen „liberalen” Bildungsbürgertums gibt und damit den unter diesem Etikett anderes erwartenden Leser immer wieder verblüfft.
Wer vergleichend die Editionspraxis und – dauer anderer Klassiker betrachtet, die schwer lesbare Handschrift Simmels in den Blick nimmt und die Zerstreutheit des Materials in Rechnung stellt, kann dem Bielefelder Soziologen Otthein Rammstedt und seinen Mitstreitern für diese Arbeit nur ein großes Kompliment machen.