Doppeltes Netto

pdf der Druckfassung aus Sezession 26/Oktober 2008

sez_nr_267von Randolf Jeß

Die Europäische Union wird von vielen Bürgern neben anderem vor allem als riesige Umverteilungsinstitution wahrgenommen. Im Jahr 2003 betrug der Umverteilungssaldo, also der Betrag, der von den Nettozahlern zu den Nettoempfängern fließt, 17,1 Milliarden Euro. Dabei ist kein Geheimnis, daß sich Deutschland bereits über Jahrzehnte hinweg als größter Nettozahler in der Abfolge der verschiedenen Europäischen Gemeinschaften bis hin zur Europäischen Union etabliert hat. Dieser Zustand ist, wie man zu sagen pflegt, historisch gewachsen und quantifiziert sich im gewählten Beispieljahr in der Summe von 7,6 Milliarden Euro, die im Saldo aus der deutschen Volkswirtschaft in Richtung Brüssel abgeflossen sind.


Die tat­säch­li­chen Net­to­bei­trä­ge der Zah­ler sind dabei kei­nes­wegs Aus­druck irgend­ei­ner Sys­te­ma­tik oder eines in sich geschlos­se­nen Kon­zepts, son­dern viel­mehr das Ergeb­nis von wie­der­keh­ren­den Ver­hand­lun­gen über die Ein­nah­men- und Aus­ga­ben­po­li­tik der EU; es han­delt sich dem­nach um (tages-)politische Kom­pro­mis­se, denen immer ein gewis­ser Grad an Belie­big­keit und Will­kür anhaftet.
Nun hat der Hei­del­ber­ger Finanz­wis­sen­schaft­ler Pro­fes­sor Franz-Ulrich Wil­le­ke die­sen Zustand in einem prä­zi­se gefaß­ten Auf­satz pro­ble­ma­ti­siert (Tat­säch­li­che und ange­mes­se­ne Net­to­bei­trä­ge – Die Euro­päi­sche Uni­on der 15 Mit­glied­staa­ten als Test­fall, in: Jahr­buch für Wirt­schafts­wis­sen­schaf­ten 2007, Bd 58, S. 93–129). Wil­le­ke bie­tet mit sei­nen „ange­mes­se­nen” Net­to­bei­trä­gen eine Alter­na­ti­ve, die den Anspruch erhebt, eine soli­da­ri­sche Ver­tei­lung der Las­ten unter den Net­to­zah­lern zu ermög­li­chen. Daß eine in die­sem Sin­ne gerech­te Las­ten­ver­tei­lung unter den Finan­ciers der Euro­päi­schen Uni­on als anzu­stre­ben­des Moment ange­nom­men wer­den kann, fol­gert der Autor sehr geschickt aus der Tat­sa­che der Umver­tei­lung selbst. Da Umver­tei­lung nichts ande­res als ein Akt der Soli­da­ri­tät zwi­schen Net­to­zah­lern und ‑emp­fän­gern ist, soll­te kon­sis­ten­ter­wei­se auch von dem Ziel aus­ge­gan­gen wer­den kön­nen, daß die Ver­tei­lung der Las­ten der Umver­tei­lung eben­falls soli­da­risch erfolgt. Pro­fes­sor Wil­le­ke prägt für die­sen Gedan­ken die Bezeich­nung der „dop­pel­ten Soli­da­ri­tät der Nettozahler”.
Doch wie kann die­se Gerech­tig­keit „unab­hän­gig von den sons­ti­gen natio­na­len Befind­lich­kei­ten der Net­to­zah­ler” am bes­ten quan­ti­fi­ziert und ope­ra­tio­na­li­siert wer­den? Die zunächst noch abs­trak­te Ant­wort lie­fert der Autor mit sei­nem Ver­weis auf die Oppor­tu­ni­täts­kos­ten, wel­che letzt­lich das mit den spe­zi­fi­schen Net­to­bei­trä­gen der ein­zel­nen Net­to­zah­ler ver­bun­de­ne und auf den jewei­li­gen Volks­wirt­schaf­ten las­ten­de Gewicht bestim­men. Das Oppor­tu­ni­täts­kos­ten­kon­zept gehört zum unstrit­ti­gen Grund­in­stru­men­ta­ri­um der Mikro­öko­no­mie. Dabei wer­den die Oppor­tu­ni­täts­kos­ten einer Ent­schei­dung durch den ent­gan­ge­nen Nut­zen beschrie­ben, der bei sich gegen­sei­tig aus­schlie­ßen­den Hand­lungs­al­ter­na­ti­ven und der Durch­füh­rung einer von die­sen wahr­ge­nom­men wird.

Ein in Deutsch­land auf­ge­brach­ter Steu­er­eu­ro kann eben nur ein­mal von der öffent­li­chen Hand wie­der aus­ge­ge­ben wer­den, ent­we­der in Deutsch­land oder ei nem ande­ren Land, nicht zwei­mal. Den abflie­ßen­den Mit­teln der EU-Net­to­zah­ler ste­hen näm­lich kei­ne mit­tel­ba­ren rea­len Gegen­leis­tun­gen gegen­über, jedoch könn­te jedes Geber­land leicht eine zweck­mä­ßi­ge, alter­na­ti­ve Ver­wen­dung der Gel­der im Inland nen­nen. Unmit­tel­ba­re Nutz­nie­ßer der Umver­tei­lung sind denn auch die Net­to­emp­fän­ger, die grund­sätz­lich höhe­re Staats­aus­ga­ben anset­zen, die Staats­ver­schul­dung sen­ken, Haus­halts­über­schüs­se bil­den und/oder Steu­ern sen­ken können.
Die mit stei­gen­den Net­to­bei­trä­gen prin­zi­pi­ell „pro­por­tio­nal” stei­gen­den Oppor­tu­ni­täts­kos­ten las­sen sich aller­dings nicht direkt mes­sen. Abhän­gig vom jewei­li­gen Wohl­stands­ni­veau, der öffent­li­chen Haus­halts­la­ge und der kon­junk­tu­rel­len Ent­wick­lung der ein­zel­nen Mit­glied­staa­ten schla­gen sie sich viel­mehr in unter­schied­li­chen finanz­po­li­ti­schen Pro­ble­men nie­der, die nur schwer gegen­ein­an­der abge­wo­gen wer­den kön­nen. Des­we­gen kann der Oppor­tu­ni­täts­kos­ten­an­satz nicht unmit­tel­bar in ein über­zeu­gen­des und von jeder­mann leicht nach­voll­zieh­ba­res Kon­zept einer Bei­trags­ord­nung über­führt wer­den. Um beur­tei­len zu kön­nen, ob die Net­to­zah­ler die gemein­sa­me Last der Net­to­bei­trä­ge soli­da­risch tra­gen, müs­sen Höhe und Ver­tei­lung der Net­to­bei­trä­ge auf die Net­to­zah­ler anhand eines ein­heit­li­chen Maß­stabs simul­tan bestimmt wer­den kön­nen. Net­to­bei­trä­ge, die die­sem Anspruch genü­gen, nennt Wil­le­ke „ange­mes­se­ne” Nettobeiträge.
Als Grund­la­ge für ihre Bemes­sung schlägt der Autor die öko­no­mi­sche Leis­tungs­fä­hig­keit der ein­zel­nen Volks­wirt­schaf­ten, for­mal gemes­sen am jähr­lich erziel­ten Brut­to­na­tio­nal­ein­kom­men (BNE) vor, da sich in die­ser Kenn­zif­fer zumin­dest ten­den­zi­ell die Fähig­keit abbil­det, Oppor­tu­ni­täts­kos­ten tra­gen zu kön­nen. Das BNE ist die Sum­me aller von Inlän­dern im In- oder Aus­land erwor­be­nen Ein­kom­men eines Jah­res. Dabei wird im Unter­schied zum Brut­to­in­lands­pro­dukt nicht auf eine räum­li­che Abgren­zung, son­dern auf eine per­so­nel­le abge­stellt. Durch Anwen­dung einer für alle Net­to­zah­ler ein­heit­li­chen Rate auf das län­der­spe­zi­fi­sche BNE fol­gen schließ­lich die jewei­li­gen ange­mes­se­nen Net­to­bei­trä­ge. Im Prin­zip gleicht die­ser Vor­schlag der Belas­tung der Net­to­zah­ler mit einer Art EU-Ein­kom­men­steu­er, wobei der Steu­er­satz für alle Zah­ler iden­tisch ist. Wil­le­ke benennt die den Steu­er­satz ange­ben­de Rate als „Zumut­bar­keits­fak­tor”. Aus dem bereits skiz­zier­ten Anspruch an eine gerech­te Bei­trags­ord­nung folgt die rigo­ro­se Anwen­dung die­ses Zumut­bar­keits­fak­tors, unge­ach­tet sons­ti­ger natio­na­ler Befind­lich­kei­ten der Nettozahler.

Wil­le­ke ver­gleicht nun die tat­säch­lich von den ein­zel­nen Net­to­zah­lern gezahl­ten Bei­trä­ge mit denen, die gezahlt wor­den wären, hät­te sein Kon­zept ange­mes­se­ner Net­to­bei­trä­ge Anwen­dung gefun­den. Im Ergeb­nis teilt sich die Grup­pe der Net­to­zah­ler dann in sol­che Län­der auf, deren tat­säch­li­che Bei­trä­ge eine unan­ge­mes­se­ne Ent­las­tung von den ange­mes­se­nen bedeu­ten und sol­che, deren tat­säch­li­che Bei­trä­ge über den ange­mes­se­nen lie­gen, mit­hin also eine unan­ge­mes­se­ne Belas­tung auf­bür­den. Abwei­chun­gen von den ange­mes­se­nen Bei­trä­gen inter­pre­tiert Wil­le­ke als Soli­da­ri­täts­de­fi­zit. Um nur zwei Ergeb­nis­se die­ser Ver­glei­che zu nen­nen: Der Über­gang zu ange­mes­se­nen Net­to­bei­trä­gen bedeu­tet für Deutsch­land eine Sen­kung von tat­säch­lich 7,6 auf ange­mes­se­ne 4,4 Mil­li­ar­den Euro oder 26 Pro­zent aller Net­to­bei­trä­ge, ohne daß es sei­ne Rol­le als größ­ter Net­to­zah­ler ver­lö­re. Die drei ande­ren gro­ßen Net­to­zah­ler (Groß­bri­ta­ni­en, Frank­reich und Ita­li­en) über­neh­men bei Anwen­dung des glei­chen Zumut­bar­keits­fak­tors wie für Deutsch­land gemein­sam ange­mes­se­ne Net­to­bei­trä­ge in Höhe von 9,4 Mil­li­ar­den Euro oder 55 Pro­zent aller ange­mes­se­nen, statt 30 Pro­zent der tatsächlichen.
Zu beto­nen ist fer­ner, daß Wil­le­kes Über­le­gun­gen sowie sein Vor­schlag zur Sys­te­ma­ti­sie­rung der Bei­trags­ord­nung der Euro­päi­schen Uni­on ledig­lich auf das Innen­ver­hält­nis der Net­to­zah­ler unter­ein­an­der abzie­len: Die Umver­tei­lung an sich und damit die Rol­le der Net­to­emp­fän­ger wer­den nicht in Fra­ge gestellt, aber die Las­ten­ver­tei­lung soll soli­da­risch gestal­tet wer­den. Neben dem All­ge­mein­platz, daß eine gerech­te Lösung selbst­ver­ständ­lich sein müß­te, führt der Autor noch einen wei­te­ren Grund an, der für eine Sys­te­ma­ti­sie­rung der bestehen­den Belie­big­keit spricht. Umver­tei­lungs­sys­te­me tra­gen im all­ge­mei­nen die Eigen­schaft, sich im Zeit­ab­lauf aus­zu­deh­nen; ein Effekt, der auch als Teu­fels­kreis des Inter­ven­tio­nis­mus bezeich­net wird: Solan­ge ein­zel­ne Net­to­zah­ler „dul­dend oder aus­drück­lich bereit sind, […] zusätz­li­che Belas­tun­gen an Net­to­bei­trä­gen ein­sei­tig zu über­neh­men – wie dies gegen­wär­tig vor allem auf Kos­ten Deutsch­lands der Fall zu sein scheint”, haben die meis­ten der ande­ren Net­to­zah­ler nichts gegen eine Aus­wei­tung der Umverteilung.
Wil­le­kes Ver­dienst liegt nicht nur dar­in, einen Weg zu mehr Gerech­tig­keit im Umver­tei­lungs­sys­tem gewie­sen, son­dern fer­ner ein sofort ein­leuch­ten­des Kor­rek­tiv vor­ge­schla­gen zu haben. Sei­ne Sys­te­ma­tik schafft Abhil­fe, weil bei Anwen­dung des Zumut­bar­keits­fak­tors immer alle Net­to­zah­ler in ange­mes­se­nem Umfang von einer Aus­wei­tung betrof­fen wären. Nach Wil­le­ke schweiß­te dies die Net­to­zah­ler auf ein gemein­sa­mes Inter­es­se an einer lang­fris­tig sin­ken­den Umver­tei­lungs­sum­me zusam­men, wel­ches sich zunächst im Bestre­ben nie­der­schla­gen soll­te, Net­to­emp­fän­ger in die Grup­pe der Net­to­zah­ler auf­zu­neh­men und lang­fris­tig als Beweis erfolg­rei­cher Umver­tei­lungs­po­li­tik die not­wen­di­gen Net­to­leis­tun­gen sin­ken zu sehen.

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