Spätglühend, weite Räume – Gottfried Benn und die letzte Haltung

pdf der Druckfassung aus Sezession 25/August 2008

sez_nr_252von Till Röcke

Gottfried Benn ist die moderne Ikone der deutschsprachigen Literatur. Sein literarisches Vermächtnis, die „Ausdruckswelt", ist der wahrhaftige Versuch, den inhaltlosen Menschen aus seinem selbstverschuldeten Delirium zu befreien, Bigotterie einzutauschen gegen Essenz, die Tiefen-Dimension zu bemühen, wenn der scheele Blick nach Morgen geht. Alles an Benn taugt zur Provokation der maßstabslos darbenden Gegenwart - sie nötigt den wachen Geist, erzwingt die Lektüre, weil er fundamental dachte, gerade deshalb ohne letzte Wahrheit war, sein Bemühen immer als heroischen Versuch verstand, die Umklammerung der „schnell gegebenen Welt" aufzubrechen. Seine Haltung ist die letzte noch mögliche, sie geschieht innen, aber zielt nach außen, setzt dort an, wo die Worte und die Dinge ihren Bezug verloren haben - ihren Bezug, nicht ihre Existenz. „Alle Dinge wenden sich um, alle Begriffe und Kategorien verändern ihren Charakter in dem Augenblick, wo sie unter Kunst betrachtet werden, wo sie sie stellt, wo sie sich ihr stellen."


Sei­ne Hal­tung also ist Kunst, sei­ne Hal­tung ist kei­ne Legie­rung anno dazu­mal, sie nimmt auf, aber gestal­tet aus, erfin­det nicht neu, aber führt Lini­en wei­ter. Sie ord­net einen „inva­ri­an­ten Schatz von Gebräu­chen, Gewohn­hei­ten, an Ein­rich­tun­gen, Sym­bo­len, Weg­wei­sern und ‚kul­tu­rel­len Immo­bi­li­en‘, denen wir die Steue­rung unse­res Ver­hal­tens in dem Gefühl über­las­sen kön­nen, es rich­tig zu machen.” (Arnold Geh­len) Ori­en­tie­rung an immer Gül­ti­gem, das man auf­ge­ben zu kön­nen glaub­te. Für Nietz­sche sind es „Bruch­flä­chen”, und sein Rezept, die­se „fun­keln zu las­sen auf jede Gefahr und ohne Rück­sicht auf die Ergeb­nis­se”, ist das Unter­fan­gen der Artis­tik, „gegen den all­ge­mei­nen Nihi­lis­mus der Wer­te eine neue Tran­szen­denz zu set­zen: die Tran­szen­denz der schöp­fe­ri­schen Lust”.
Kunst als Artis­tik, als Wie­der­be­le­bung iden­ti­täts­stif­ten­der Bestän­de, also Zeit­lo­sem, durch Mon­ta­ge. Sie kennt nur ein Ziel: die Form. Die­se wirkt unmit­tel­bar im Bewußt­sein des Rezi­pi­en­ten, „bringt ins Strö­men, wo es ver­här­tet und stumpf und müde war, in ein Strö­men, das ver­wirrt und nicht zu ver­ste­hen ist, das aber an Wüs­te gewor­de­ne Ufer Kei­me streut, Kei­me des Glücks und Kei­me der Trau­er, das Wesen der Dich­tung ist Voll­endung und Fas­zi­na­ti­on.” Gott­fried Benn ist Mini­ma­list, Sinn­su­che betrei­bend, um der Sta­tik wil­len, die sich aus der Form ergibt. In toto: Er ist kon­ser­va­tiv im urei­gent­li­chen Sin­ne. Con ser­va­re, etwas in sei­nem Zusam­men­hang erhalten.
Ganz Prot­ago­nist des 20. Jahr­hun­derts kann er das „Dop­pel­le­ben” ver­wirk­li­chen, jene Pro­the­se, die Nietz­sche einst ver­wehrt blieb: die Auf­spal­tung des Lebens in zwei Hälf­ten, eine all­täg­li­che und eine tran­szen­den­te. Letz­te­re ist im Zeit­al­ter der Moder­ne uner­heb­lich gewor­den, da sich im All­täg­li­chen bereits alles Lebens­not­wen­di­ge befin­det oder zumin­dest als Nar­ko­tik erfolg­reich des­sen Abglanz verabreicht.
Die Preis­ga­be aber ist die „Tie­fe des Wei­sen”, und die­ser wider­setzt Benn sich. So ringt er mit dem Geworfen­sein, natur­wis­sen­schaft­lich – luzi­de den auf­ge­klär­ten Zwei­fel hand­ha­bend, ihn vice ver­sa kühn gegen Mate­ria­lis­mus und Bor­niert­heit auf­wen­dend, an ihm lei­dend, deis­tisch – athe­is­tisch schwan­kend, eine ein­zi­ge Rocha­de. Sein Werk ist zutiefst exis­ten­tia­lis­tisch, die Ober­flä­che durch­sto­ßend, alles Nie­der­ge­schrie­be­ne, noch die lyrischs­te Pla­ti­tü­de, ist rück­ge­bun­den an pure Erfah­rung, ohne Spiel­ar­ten zeit­geis­ti­ger Pro­fil­neu­ro­sen. Ben­ns Defi­ni­ti­on des Schreib­pro­zes­ses läßt dar­an kei­nen Zwei­fel aufkommen.

Es wäre fatal, es bei der all­seits bekann­ten Schul­buch-Poe­sie der Krebs­ba­ra­cke und den quiet­schen­den Rat­ten­schnäuz­chen als poe­ti­scher Pro­vo­ka­ti­on zu belas­sen. Ende der zwan­zi­ger Jah­re beginnt er, eben jenen expres­sio­nis­ti­schen Ges­tus pro­gram­ma­tisch zu ord­nen, die wüs­ten Rausch- und Ent­gren­zungs­ri­tua­le in den Gedan­ken von Form und Inhalt zu brin­gen. Der „Mon­ta­ge­stil” wird Ben­ns Methode.
„Wor­te, Ein­zel­wör­ter, Kom­po­si­ta, kur­ze Syn­tag­men, die wirk­lich­keits- und erfah­rungs­ge­sät­tigt sind, sich aber nicht in der Wie­der­ga­be der Wirk­lich­keit erschöp­fen, son­dern ver­bor­ge­ne Sei­ten der Din­ge auf­de­cken und in ihrem Zusam­men­wir­ken ein neu­es, schöp­fe­ri­sches und fas­zi­nie­ren­des Bild der Welt ent­ste­hen las­sen.” (Hel­muth Kiesel).
Wer das nun mit l’art pour l’art ver­wech­selt, also Kunst als Flucht, es für ästhe­ti­sche Spie­le­rei hält, grie­chisch-medi­ter­ran ange­hauch­te Traum­schloß­baue­rei, ist mit der Benn-Lek­tü­re schlecht bera­ten. Benn phan­ta­siert nicht, schließt im Aus­schrei­ten der Res­sour­cen kei­ne arti­fi­zi­el­len Krei­se ab. Im Ansatz geht er auf die Theo­rie eines Ste­fan Geor­ge ein, ohne des­sen Her­me­tik und Abna­be­lung zu voll­zie­hen. Die Kunst als Flucht fin­det sich genau hier: Die Hal­tung Geor­ges ist Nost­al­gie, die in ihrem Auto­no­mie-Ver­häng­nis kurio­ser­wei­se auf ein kom­men­des, unbe­dingt zu gestal­ten­des Zeit­al­ter zielt. Benn hin­ge­gen akzep­tiert die Moder­ne und nimmt ihr das Moment der blin­den Umschich­tung, der puren Dyna­mik: „[…] – Kunst ist sta­tisch. Ihr Inhalt ist ein Aus­gleich zwi­schen Tra­di­ti­on und Ori­gi­na­li­tät, ihr Ver­fah­ren die Balan­ce zwi­schen Mas­se und Stütz­punkt.” Unver­kenn­bar zeigt sich hier der Ein­schlag des Avant­gar­dis­mus, des­sen Strö­mun­gen ab 1910 maß­geb­li­chen Ein­fluß auf die Gegen­warts­künst­ler aus­üben. Gemein ist ihnen allen der Impe­tus, dem „Rea­li­täts­zer­fall” der unüber­sicht­lich gewor­de­nen Wirk­lich­keit mit­tels Ästhe­tik zu begeg­nen. Beson­ders der Futu­ris­mus beein­druckt Benn, jene in Ita­li­en von Filip­po Mari­net­ti gepräg­te Vita­li­sie­rung der Gegen­warts­spra­che. Die­se aus dem „Gefäng­nis des latei­ni­schen Satz­baus” (Mari­net­ti) zu befrei­en und im sprach­kri­ti­schen Inter­re­gnum der „Aus­drucks­welt” in neu­em Glan­ze erstrah­len zu las­sen, wird zu sei­nem Ideal.
Wer sich ande­rer­seits mit dem popu­lä­ren Nazi-Ver­dikt abschießt in den Kos­mos der Auf­ar­bei­tungs-Dis­kur­se, wird zie­len, aber nicht tref­fen. Benn führt sei­ne Annä­he­rung an die Herr­schen­den 1933 mit sei­ner seit Jahr und Tag ver­tre­te­nen Anschau­ung, dem Her­aus­hal­ten der Sphä­re des kon­struk­ti­ven Geis­tes aus dem poli­ti­schen Bezirk als Not­wen­dig­keit aller Kunst. Er for­dert in Anleh­nung an die ita­lie­ni­sche Sym­bio­se Faschis­mus – Futu­ris­mus die bedin­gungs­lo­se for­ma­le, nicht inhalt­li­che, staat­li­che För­de­rung der Kunst, erkennt schon bald das Lie­der­lich-Nied­ri­ge im Wesen des Natio­nal­so­zia­lis­mus – und in der Quint­essenz die Unmög­lich­keit einer Ver­schmel­zung mit sei­ner eige­nen Weltsicht.
Die Annä­he­rung mag das Prä­di­kat frag­wür­dig tra­gen, jedoch kaum, weil sie für die abrup­te Auf­ga­be einer lei­den­schaft­li­chen, Par­tei­po­li­tik ableh­nen­den, Paria­rol­le in den Debat­ten der vor­an­ge­gan­ge­nen Jah­re steht, son­dern viel­mehr wegen des Aus­grei­fens über ästhe­ti­sches Ter­rain hin­aus. Der Kunst­ge­dan­ke wird kurz­zei­tig über­wölbt vom ver­meint­li­chen „Her­vor­tre­ten eines neu­en bio­lo­gi­schen Typs”. Jetzt wie­gen die Erb­mas­sen, der Hom­me de let­t­res ist plötz­lich nur noch Arzt – er schert aus, schmeißt die Hälf­ten des Dop­pel­le­bens zusam­men. Die Züch­tungs­phan­ta­sie gilt nun als Steil­vor­la­ge für die zukünf­ti­ge Dich­ter­ge­ne­ra­ti­on, deren Arbeit unmit­tel­bar das Bio­lo­gi­sche betref­fen soll: „[…] was poli­tisch geprägt wird, wird orga­nisch erzeugt”.

Nun erscheint der Volks­päd­ago­ge, im Grun­de kein Novum deut­scher Geis­tes­ge­schich­te. Man erin­ne­re sich an das nor­ma­ti­ve Geba­ren der Klas­sik. Doch hat Fried­rich Schil­lers erzie­he­ri­sche Kunst noch auf den Geist eines Zir­kels Aus­er­wähl­ter gezielt, so betreibt Benn nun die Ver­mas­sung des Ideel­len unter (ver­meint­li­cher) Zeu­gen­schaft der geschicht­li­chen Regung. Dank die­ser anthro­po­lo­gi­schen Wen­dung sei nun der „Geist … unge­heu­er all­ge­mein, pro­duk­tiv und päd­ago­gisch”, sein „Axi­om” lebe fort­an „in der Kunst Geor­ges wie im Kolon­nen­schritt der brau­nen Batail­lo­ne als ein Kom­man­do”. Denn: „Es ist der Geist des impe­ra­ti­ven Welt­bil­des, das ich kom­men sehe.” Ein wahr­lich chi­li­as­ti­scher Anspruch!
Im Anschluß dar­an fin­det sich in Tei­len der Sekun­där­li­te­ra­tur die Sot­ti­se, mit Benn habe man exem­pla­risch einen Fall anrü­chi­gen Mit­läu­fer­tums in der Kari­ka­tur des steig­bü­gel­hal­te­ri­schen Kunst­be­triebs-Oppor­tu­nis­ten vor­lie­gen. Des­sen 1948 lang­sam ein­set­zen­der, im fol­gen­den Benn-Jahr in West­deutsch­land sich mani­fes­tie­ren­der Nach­ruhm sei zwar zwei­fel­los lite­ra­risch, jedoch nicht ohne wei­te­res mora­lisch, also: – hor­ri­bi­le dic­tu – poli­tisch zu ver­ant­wor­ten. Berück­sich­tigt man die Tat­sa­che, daß Anfang der drei­ßi­ger Jah­re die Ver­men­gung der Begrif­fe poli­tisch und pri­vat nicht ohne wei­te­res dem com­mon sen­se ent­spricht, so bleibt den­noch fest­zu­hal­ten, daß eine kon­junk­tu­rel­le Abfär­bung auf das Werk nicht statt­fin­det. Die Blut-und-Boden-Oden schrei­ben andere.
Gott­fried Benn ist zu kei­nem Zeit­punkt etwas ande­res als ein poli­ti­scher Cha­rak­ter, Wesen und Wol­len von Par­tei­en blei­ben ihm jedoch fremd. Er klebt nicht an der fabel­haf­ten „Wel­teis­leh­re” oder sinnt sei­nen hym­nisch besun­ge­nen „Leu­ten vom Fremd­boot­ty­pus” nach – die­se obsku­re Gegen­welt der frü­hen zwan­zi­ger Jah­re hat es auch gege­ben, als lyri­sches Motiv und archai­sches Plä­sier, doch ernst zu neh­men ist sie nicht. Sie ist viel­mehr ein Ent­satz­ver­such gewe­sen, ein Weg­däm­mern in die Urzeit. Dies Geba­ren legt sich mit dem auf­kom­men­den Form-Drang.
Benn sieht die „neue Epo­che des geschicht­li­chen Seins” am 1. Mai 1933 wohl­wol­lend an sei­ner Ber­li­ner Woh­nung vor­bei­mar­schie­ren und bedau­ert es, als sein jüdi­scher Duz­freund und 1938 ver­schlepp­ter, spä­ter frei­ge­kauf­ter Ver­le­ger Erich Reiß, „den Weg sei­ner Ras­se ging”. Auch die­ses als Zwang, mit dem man (for­mend) umzu­ge­hen habe, zu akzep­tie­ren, das nahm und nimmt man Benn übel.
Sein Zwei­feln setzt weni­ge Wochen nach der soge­nann­ten Macht­er­grei­fung ein, das Auto­ri­tä­re, „die Macht, als die eiser­ne Klam­mer, die den Gesell­schafts­pro­zeß erzwingt”, hat begon­nen, als kunst­feind­li­che Tyran­nei auf­zu­tre­ten. Benn sieht die Syn­the­se von Geist und Macht, die alte Nietz­sche-Visi­on des Über­men­schen, geschei­tert und zieht sich zurück. „Es gibt nur die Form und den Gedan­ken”, die­se Losung beglei­tet ihn fort­an bis zu sei­nem Tode und ver­leiht sei­ner Poe­tik den kla­ren, nüch­ter­nen Zug der Defensive.
Benn hat die ein­ge­brann­te Über­zeu­gung, den Men­schen aus­schließ­lich als tra­gi­sches, sich den Zeit­läu­fen hin­hal­ten­des Wesen zu deu­ten, nie­mals auf­ge­ge­ben. Im Gegen­teil: Sein kon­sti­tu­ti­ver Arg­wohn gegen­über der geschicht­li­chen Welt, der man mit dem Taschen­spie­ler­trick des Teleo­lo­gi­schen nicht nur einen Sinn, son­dern zugleich die Mög­lich­keit ihrer per­ma­nen­ten Ver­än­de­rung durch Par­tei­en- und Wohl­fahrt­s­en­ga­ge­ment unter­ge­scho­ben hat, ver­fes­tigt sich und erreicht im Nach­kriegs­werk sei­ne nie­der­ge­schla­ge­ne Vollendung.

Vor dem Hin­ter­grund die­ser Zei­ten­wen­de hält sich bis heu­te hart­nä­ckig die seit den sech­zi­ger Jah­ren ver­stärkt kur­sie­ren­de Mär, nicht nur vom geläu­ter­ten Ex-Nazi, der letzt­end­lich den Dicht-Olymp erklom­men hat, son­dern zusätz­lich der Makel, nun beherr­sche ein Ade­nau­er-Deut­scher, restau­ra­tiv-klein­bür­ger­lich, das Lyrikressort.
Daß dem mit­nich­ten so ist, daß Benn dem zoon poli­ti­kon und des­sen Trei­ben nach 1945 nicht weni­ger distan­ziert gegen­über­steht als zuvor, zeigt der Blick auf die Pro­duk­ti­on die­ser Phase.
Zwar begin­nen sich Ende der 40er Jah­re die Wogen zu glät­ten, bedeu­tet die stei­gen­de öffent­li­che Repu­ta­ti­on (unter ande­rem 1951 Georg-Büch­ner-Preis) zwei­fels­oh­ne Bal­sam auf des geschun­de­nen Ego­ma­nen Wun­den, doch bleibt der Abstand zum Gesche­hen gewahrt. Aus dem Rück­raum her­aus betrach­tet er die gesell­schaft­lich-poli­ti­sche Umge­bung, weit ent­fernt von jeder offi­zi­el­len Stel­lung­nah­me, bar jedes Züch­tungs­ge­dan­kens: „ […] der Staat sen­det über­all sei­ne Zap­fen hin­ein: Steu­er, Mie­te, Sexua­li­tät, die Gesund­heit, die Krank­heit, über­all hin­ein die­se Staats­zap­fen, er hat eine Mensch­heit geschaf­fen, die ohne ihren Rheu­ma­tis­mus gar nicht mehr leben kann, da sonst ihr letz­ter Lebens­in­halt ver­fällt.” (1952)
Staat und Poli­tik­be­trieb als Stör­fak­to­ren der Lebens­ent­fal­tung, insti­tu­tio­nel­les Anrem­peln des Indi­vi­du­ums – ein öffent­li­ches Ärger­nis. Benn hat die zurück­lie­gen­den per­ma­nen­ten Besu­de­lun­gen und Angrif­fe noch all­zu gut im Gedächt­nis. Sei­ne resü­mie­ren­de und Aus­blick ver­mit­teln­de Kurz­schrift Nihi­lis­tisch oder posi­tiv? von 1953 ist geprägt von die­ser Erfah­rung. Sie bie­tet kei­ne Erlö­sungs­for­meln, kei­nen Aktio­nis­mus, aber eine Hal­tung als Fun­da­ment und Brü­cken­wehr für einen Fort­be­stand des Den­ke­ri­schen: „Das ange­fer­tig­te Werk ist eine Absa­ge gegen Zer­fall und Unter­gang. Selbst wenn die­ser schöp­fe­ri­sche Mensch sich sagt, selbst wenn er weiß, auch die Kul­tur­krei­se enden, auch der, zu dem er gehört – der eine endet und der ande­re tritt in den Zenit, und dar­über steht das Unauf­hör­li­che reg­los und wahr­schein­lich im Wesen nicht mensch­lich -, der schöp­fe­ri­sche Mensch sieht dem ins Auge und sagt sich, in die­ser Stun­de liegt auf mir das unbe­kann­te und töd­li­che Gesetz, dem muß ich fol­gen, in die­ser Lage muß ich mich behaup­ten, ihr mit mei­ner Arbeit ent­ge­gen­tre­ten und ihr Aus­druck ver­lei­hen.” Behaup­ten, ent­ge­gen­tre­ten, Aus­druck ver­lei­hen: Som­nam­bu­lis­mus geht anders.
Nichts liegt Benn fer­ner als die Iso­la­ti­on ohne Grund­satz. Die Per­sil­schein-Her­me­neu­tik zum Bei­spiel eines Die­ter Wel­lers­hoff, des­sen par­ti­ell immer noch grund­le­gen­de For­schungs­ar­beit aus den fünf­zi­ger Jah­ren an die­sem Punkt lei­der pein­lich anmu­tet, besticht durch einen jung­de­mo­kra­ti­schen Fir­nis, der an Benn frei­lich abtropft – Irra­tio­na­lis­mus, der fata­len Demo­kra­tie­h­aß und Ver­füh­rungs­be­reit­schaft erzeug­te, und dann die Läu­te­rung, vul­go Beleh­rung, durch die geschicht­li­che Stun­de – alles ger­ne vor­ge­tra­ge­ne Topoi, um Reha­bi­li­ta­ti­on und Ein­glie­de­rung des Ver­fem­ten bemüht (wer liest schon ger­ne begna­de­te Faschis­ten?). Rüh­rend absurd. Denn ein pater pec­ca­vi kommt gera­de nicht in Fra­ge. Das Poli­ti­sche, spä­tes­tens seit 1949 wie­der schil­lernd in diver­sen Facet­ten von „ben­ga­li­schen Kri­sen­be­leuch­tun­gen und Grund­la­gen­feuil­le­to­nis­mus”, taugt wie­der nur als Funk­ti­on, als Orga­ni­sa­ti­on des Not­wen­di­gen, das unmög­lich die Kunst, die Inner­lich­keit, dik­tie­ren kann. Noch in sei­nem Todes­jahr ver­leiht Benn die­ser Erkennt­nis Aus­druck, als er in einem Nach­ruf auf Orte­ga y Gas­set aus des­sen Spät­werk zitiert: „Der Geist darf nicht als öffent­li­che Ange­le­gen­heit ver­wal­tet wer­den, der geis­ti­ge Mensch, wenn er sei­ne Auf­ga­be erfül­len will, muß sich wie­der abson­dern.” Im Anschluß dar­an fällt sein viel­leicht berühm­tes­tes Zitat: „Im Anfang war das Wort und nicht das Geschwätz, und am Ende wird nicht die Pro­pa­gan­da sein, son­dern wie­der das Wort.” Und der Bun­des­bür­ger Benn meint weder das Drit­te Reich noch die Ostzone.

Das Wort also. Das hat Prio­ri­tät, hier beginnt die Kunst. Die Geburt der Form, die immer auf Sta­tik beruht. Sta­tisch meint aus­ge­wo­gen, maß­hal­tend und hat mit Lethar­gie nichts gemein. „Form ist der höchs­te Inhalt” (Emil Staiger), zitiert Benn.
Die künst­le­ri­sche Hand­lung ist das Maxi­mum an Frei­heit, da ihr, wie jeder Hand­lung, ein Sinn zugrun­de liegt, sie aber ohne auf eine Zweck­mä­ßig­keit ver­pflich­tet zu sein ein Werk ent­ste­hen läßt, das Sinn ver­kör­pert. Die­ses Kunst-Werk stillt kei­ne Trie­be, bedient kei­ne Zapf­säu­le. Doch es setzt dem Impe­ra­tiv des „Sein und Wer­de”, dem Natur­haf­ten, das Gebot der Form ent­ge­gen. Sie nagelt das Sein fest, zwingt es ins Pas­se­par­tout, fei­ert den „Sieg über nack­ten Tat­be­stand und zivi­li­sa­to­ri­sche Sach­ver­hal­te”. Eine Welt des Aus­drucks ent­steht und zieht das Indi­vi­du­um an, das gera­de hier­nach ver­langt hat. In jenem Moment beginnt die Sezes­si­on, schafft die Kunst einen archi­me­di­schen Punkt, ent­fal­tet sich das Dop­pel­le­ben.
Die­se Aus­drucks­welt kann dabei weder ver­ord­net, total, noch uni­ver­sal sein. Jedes Werk ent­fernt sich von der Inten­ti­on sei­nes Schöp­fers und tritt ein in den Stil, gelangt so über­haupt vom Ich zum Wir. Und ver­geht doch wie­der, da stets von neu­em der Pro­zeß ablau­fen muß, immer und immer wie­der For­mung bedeu­tend. Das ist ohne Wirk­lich­keits­be­zug nicht zu haben.
Plötz­lich ist die­se anthro­po­lo­gi­sche Wen­dung ins Poli­ti­sche über­setzt, dort, wo der Mensch sich abson­dert, aus „[…] Ekel vor dem Gewu­sel und den Ver­dau­ungs­ge­räu­schen eines Volks­kör­pers, der in sei­nem Wohl­be­fin­den vom Ver­brauch, der Ver­nut­zung, dem mate­ri­el­len Wohl­stand und dem auf Dau­er gestell­ten Lohn­zet­tel abhän­gig ist” (Götz Kubit­schek). Das Werk ist nach Abschluß nie­mals sub­jek­tiv, kann es gar nicht sein, da eine Inter­pre­ta­ti­on stets mög­lich, das schöp­fe­ri­sche Wort in ande­rem Zusam­men­hang in ande­re Räu­me weist – unend­li­che Asso­zia­tio­nen. „Das Labo­ra­to­ri­um der Wor­te” leuch­tet nun ein. An sei­ner Tür steht Artis­tik. Die Spra­che wird von ihrer blo­ßen Mit­tei­lungs­funk­ti­on eman­zi­piert, die Codes auf­ge­bro­chen, das Geschwa­fel dechif­friert. Benn setzt die­se Spra­che abso­lut, macht unmiß­ver­ständ­lich klar: Sie gehört auch dir, dreht sich selbst­ver­ständ­lich um fes­te Begrif­fe wie Schuld, Stuhl, Schmier­öl – doch du wählst ihre Beschrei­bung. „Wör­ter in Akti­on” (Peter Bie­ri) umkrei­sen die Begrif­fe, unauf­hör­lich. Dein Teil ist ihre Anord­nung, ein Quer­schnitt von bestimm­ten Wor­ten, Beschwö­rungs­ri­tua­le – viel­leicht ein kon­ser­va­ti­ver Komplex.
Wig­go Mann ver­wies kürz­lich in sei­nem Essay Der Bal­kan in mir – Zur Sehn­sucht nach einer „Los­lö­sung” vom Poli­ti­schen, (Sezes­si­on 23) auf den bei Nietz­sche ent­lehn­ten Begriff der Sezes­si­on und setzt ihn in Bezug zur NS-Für­spra­che von 1933. Die­se Ana­lo­gie scheint zunächst schlüs­sig, ver­kennt aller­dings aus wei­ter oben genann­ten Grün­den die eigent­li­che Moti­va­ti­on. Die „gro­ße Los­lö­sung” ist dem spä­ten Benn zuzu­schrei­ben, im resi­gna­ti­ven „Im Dun­kel leben, im Dun­kel tun, was wir kön­nen” voll­zieht sie sich und schafft erst­mals in sei­ner Vita einen rei­nen Stand­punkt. Die ange­stau­te Wut der Inne­ren Emi­gra­ti­on, die Gewiß­heit, den 1933 auf­tre­ten­den neu­en Aggre­gat­zu­stand eines „blin­den Abrol­lens” von Geschich­te trotz Par­tei­nah­me nicht geprägt zu haben, der Zivi­li­sa­ti­ons­ekel im Gro­ßen und Gan­zen – all das ist nun durch­lit­ten und zur Erkennt­nis geron­nen, daß nur ein Ertra­gen der blo­ßen Din­ge, eine dar­auf fußen­de Hal­tung der schöp­fe­ri­schen Selbst­sor­ge und das setzt vor­aus – ein Aus­klin­ken vom Wirk­lich­keits­rei­gen, die Opti­on für ein Spä­ter dar­stellt. Das ist modern und sub­stan­ti­ell. Es ist die letz­te Haltung.

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