Vielleicht ist damit aber die Originalität der Gedanken gemeint, die die „neuen Denker” vom alten Denken unterscheidet. Damit wäre man zumindest bei Sloterdijk auf der richtigen Spur, und offenbar hat auch der Cicero gemerkt, daß Sloterdijk anders ist als die gewohnte universitäre Philosophie: „Keiner hat mehr Thesen. Und keiner weiß sie geschickter zu plazieren.”
In der Gegenüberstellung von alt und neu schwingt aber auch mit, daß die Philosophie der späten Bundesrepublik, die sich vor allem von der Kritischen Theorie ableitete, von Beginn an mit der veränderten Situation Deutschlands nach der Wiedervereinigung und im Zuge der Globalisierung überfordert war. Offenbar stößt hier eben jene Theorie an die Grenzen der Realität, hat also keine Begriffe mehr, um das zu beschreiben und zu interpretieren, was ein wacher Geist wahrnehmen kann und in Worte gefaßt haben möchte. Dieses Unvermögen hat die Philosophie auch in der öffentlichen Wahrnehmung völlig marginalisiert. Hier darf Sloterdijk als eine absolute Ausnahmegestalt der gegenwärtigen Philosophie bezeichnet werden, denn ihm gelingt es immer wieder Debatten auszulösen, Standpunkte zu polarisieren und philosophische Kommentare zum Zeitgeschehen zu formulieren.
Peter Sloterdijk, am 26. Juni 1947 als Sohn einer Deutschen und eines Niederländers in Karlsruhe geboren, war eigentlich schon immer so. Ab 1968 absolvierte er ein Studium der Philosophie, Germanistik und Geschichte in München und Hamburg. Wie er sich zu den damaligen Aufwallungen verhalten hat, ist nicht bekannt. Sein zügiges Studium dürfte ihm allerdings nicht viel Zeit für andere Dinge gelassen haben: 1971 legte er in Hamburg seine Magisterarbeit Überlegungen zu neueren strukturalistischen Methoden in der Literaturwissenschaft vor. Anschließend befaßte er sich mit Geschichtstheorie und Linguistik und promovierte 1976 mit einer Arbeit über Gattungstheorie und Gattungsgeschichte der Autobiographie in der Weimarer Republik in Hamburg bei Klaus Briegleb (Jahrgang 1932), der selbst wiederum 2002 mit einer Streitschrift über den Antisemitismus der Gruppe 47 Aufmerksamkeit erregte. Anschließend entdeckte Sloterdijk Bhagwan (Osho), den Guru und „Meister der Herzen” (J. E. Berendt), und hielt sich von 1978 bis 1980 in dessen Ashram im indischen Poona auf. Seit Anfang der achtziger Jahre lebte Sloterdijk als freier Schriftsteller in München.
Schlagartig bekannt wurde Sloterdijk vor ziemlich genau 25 Jahren, als sein erstes Hauptwerk Kritik der zynischen Vernunft in zwei Bänden bei Suhrkamp erschien. Das Buch entwickelte sich rasch zu einem Bestseller, von dem bis heute 120.000 Exemplare verkauft worden sind und das mithin das erfolgreichste philosophische Buch nach 1945 ist. Der erstaunliche Erfolg (immerhin handelt es sich um ein Buch von fast tausend Seiten) erklärt sich zum einen aus der sprachlichen Eleganz, die von nahezu allen Rezensenten hervorgehoben wurde, zum anderen aus der kontroversen Art, mit der Sloterdijk den Zeitgeist darstellt.
An den politischen Rändern des öffentlichen Diskurses wurde das Buch zwiespältig beurteilt. Armin Mohler etwa warnte in seiner Besprechung vor „umgedrehten Wegweisern: ‚Kyniker‘ contra ‚Zyniker‘ – die neueste Finte unserer Intelligentzia”, mußte aber zugeben, daß Sloterdijk den Punkt, „auf den alle Auseinandersetzungen von Rang zurückgehen” genau sah: die Frage, ob wir die Wirklichkeit erkennen und damit formen können oder ob sie uns nur einzeln im Handeln zugänglich ist. Mohler warf Sloterdijk dennoch Halbherzigkeit vor, weil er diesen entscheidenden Gedanken nicht zu Ende denke und damit hinter den Resultaten konservativen Denkens zurückbleibe.
Für die andere Seite bewertete Jürgen Habermas das Buch, trotz des offensiv vorgetragenen Angriffs auf die Kritische Theorie der Frankfurter Schule, ebenfalls wohlwollend kritisch. Das verwundert angesichts von Sätzen wie: „Ihr Vorurteil lautet, daß aus dieser Welt nur böse Macht gegen das Lebendige kommen könne. Hierin gründet die Stagnation der Kritischen Theorie. Die Offensivwirkung des Sichverweigerns hat sich längst erschöpft.” Habermas lobte die „glanzvolle Verbindung von philosophischer Essayistik und Zeitdiagnostik”, unterstellte Sloterdijk jedoch eine „argumentfreie Methode”, die sich lediglich an den Gedanken anderer abarbeite, ohne selbst schöpferisch zu sein.
Damit hatte Habermas die für ihn entscheidende Frage gestellt: Inwieweit führt Sloterdijk einen begrifflich argumentierenden Dialog, der nach Habermas Voraussetzung für die Verbesserung der Welt im gesellschaftlichen Diskurs ist? Jedoch: Darum geht es Sloterdijk nun gerade nicht. Vielmehr versucht er durch die von ihm favorisierte Haltung des Kynikers gegenüber der des Zynikers zu zeigen, daß es im Jahr des zweihundertjährigen Jubiläums von Kants Kritik der reinen Vernunft den Selbstbetrug der menschlichen Vernunft gibt, der schnell in die Haltung des Zynikers führt. Dagegen setzt Sloterdijk die nicht-dialektische Distanz zur Gesellschaft.
Wollte Habermas damals offenbar ein Beispiel für die Nützlichkeit seiner eigenen Theorie des kommunikativen Diskurses geben, der selbst den Kyniker (den Hundephilosophen) mit einbezieht, sah die Sache wenige Jahre später anders aus. Das lag vor allem an der veränderten Situation: Die deutsche Einheit hatte den beschaulichen bundesrepublikanischen Diskurs überholt. Sloterdijk nutzte die Gunst der Stunde und hielt am 10. Dezember 1989 eine Rede über das eigene Land, in der er die neue Lage in ihrer Widersprüchlichkeit zu fassen suchte: „Wer, wenn nicht wir, hatte denn das matte Leuchten, das aus der selbstgewollten Mittelmäßigkeit kommt, diese Behaglichkeit im Schuldigsein, diese Spannkraft in der Selbstbezichtigung, diese Sattheit in der Beschämung und diese aggressive Reserve gegen Überdurchschnittliches?” Wenn es Sloterdijk im Laufe seiner Rede auch nicht an den bekannten Mahnungen fehlen ließ, die vor einem Überschwang der Gefühle warnten, so bleibt doch bestehen, daß er in den Ereignissen so etwas wie die Manifestation einer deutschen Intelligenz auszumachen meinte. Dagegen setzte Habermas sein Diktum: „Der ganze intellektuelle Müll, den wir uns vom Hals geschafft hatten, wird wieder aufbereitet, und das mit dem Gestus, für das Neue Deutschland die neuen Antworten parat zu haben.” Er sprach damit einer deutschen Intelligenz aus der Seele, die für die Deutschen das Schlimmste fürchtete.
Sloterdijk ließ sich davon nicht einschüchtern. Für ihn war das „Ende der Geschichte” noch längst nicht in Sicht. Er hatte offenbar als einer der wenigen das gleichnamige Buch von Francis Fukuyama zu Ende gelesen, der immerhin die Möglichkeit sah, daß die Menschen sich in der liberalen Demokratie langweilen und deshalb „zu einer neuen, noch weiteren Reise” aufbrechen könnten. In diesem Sinne ist sein Versuch über Hyperpolitik zu verstehen, in dem er bereits 1993 die Konsequenzen aus der voranschreitenden Globalisierung zog und die Kunst des Möglichen nicht mehr als Politik, sondern als Hyperpolitik definierte, weil die Bindungskräfte der klassischen politischen Einheiten überfordert würden. Anhand eines Drei-Stadien-Modells (Paläopolitik, Politik, Hyperpolitik) gelingt ihm die theoretische Begründung einer „konservativen Revolution”: Die Aufhebung der Politik wie auch der Paläopolitik in der Hyperpolitik bedeutet, den Menschen wieder zum Dreh- und Angelpunkt zu machen und seinen Fortbestand zu sichern. Sloterdijk schießt in diesem weiterhin hochaktuellen Bändchen scharf gegen das „Lager der Wohlgesinnten”, die nicht wahrhaben wollen, daß dem Demokratie-Export Grenzen gesetzt sind. Um diese Grenzen geht es Sloterdijk: Nüchtern stellt er den „Zerfall der Superstrukturen” fest und sieht ebenso nüchtern die Möglichkeit der „Regeneration auf kleiner Ebene”.
Hyperpolitik ist Politik für das „Zeitalter der Reichslosigkeit”, das an frühmittelalterliche Strukturen erinnert. Sloterdijk stellte deshalb die ketzerische Frage, wie „Europa zur Werkstatt einer zeitgemäßen Reichsmetamorphose werden” könnte. Das spezifisch Europäische sei der Reichsgedanke, der im „Prinzip Staaten-Union” aufgehoben werden müsse. Dabei hat Sloterdijk nicht die Vereinigten Staaten von Amerika vor Augen, sondern einen eigenen „großen” Entwurf: Falls Europa erwacht, werde das vom Glauben der Europäer an „ihre Rechte auf Erfolg” und der Begegnung mit den „Chancen des Weltaugenblicks auf Augenhöhe” abhängen. Aber trotz der Rede von einer „europäischen Vision” verkannte Sloterdijk nicht, daß dieser Formierungsprozeß in eine Zeit fiel, in der sich „große Stürme” ankündigten. Hier komme den Europäern ihre Tradition zugute, die auf eigene Weise nach der Wahrheit frage und Erkenntnis an den Anfang des Handelns setze: „Sehkraft für Großes wird aber in riskanten Erziehungen erlernt und überliefert.”
Für die deutsche Gemütlichkeit sah Sloterdijk (seit 1992 Professor an der Staatlichen Hochschule für Gestaltung Karlsruhe und seit 2001 deren Rektor) Mitte der neunziger Jahre also das Ende gekommen, erst recht aber als der Regierungswechsel 1998 ganz offensiv die neue „Berliner Republik” propagierte und damit gleich die Befürchtungen neuen Großmachtstrebens und Schuldverleugnung hervorrief. Sloterdijk beschreibt die Nation als einen „unierten Anstrengungskörper”, der sich „selbst moralisch die Sporen” geben muß, was ohne Feinde schwerlich zu bewerkstelligen sei. Hinzu kommt, daß eben das, was Sloterdijk den „starken Grund zusammen zu sein” nennt, durch den liberaldemokratischen Kapitalismus notwendig geschwächt wird. Er deutet an, daß uns nur der schwache Grund: die gemeinsame Sprache bleibt. Doch angesichts der „Kulturkämpfe in der modernen Gesellschaft” kann man auch von einem zu schwachen Grund reden. Wenn die Nation „von der existentiellen Paranoia, von der unmittelbaren Eifersucht auf den nächsten Rivalen” bestimmt ist, bedarf es stärkerer Gründe, um zusammenzubleiben.
Doch diese stärkeren Gründe sind nirgends in Sicht. Die Massengesellschaft richtet sich an inneren, nicht an äußeren Kämpfen aus: „Emanzipation” lautet das Stichwort. Die Zeiten aber, in denen sich die Masse massenhaft zur Emanzipation versammelte, sind vorbei und insofern treffen auch, so Sloterdijk, die klassischen Massenanalysen nicht mehr auf die heutigen Verhältnisse zu. Der Massencharakter komme heute als „Massenindividualismus” „in der Teilnahme an Programmen von Massenmedien” zum Ausdruck, die sich von der Notwendigkeit eines Versammlungsortes emanzipiert haben: In der „programmbezogenen Masse” ist man „als Individuum Masse. Man ist jetzt Masse, ohne die anderen zu sehen.”
Das ist aber gleichsam nur die von außen sichtbare Seite. In Wirklichkeit herrsche nach wie vor ein erbitterter Anerkennungskampf, der mit Hilfe des Entfremdungstheorems geführt werde. Da die Masse immer zur Verachtung herausfordere, entwickele sie, so Sloterdijk, eine Leidenschaft zur Selbstachtung, die zur Entscheidung zwinge: Es bleibt nichts weiter übrig, als sich ihr gegenüber entweder schmeichelnd (horizontal) oder beleidigend (vertikal) zu verhalten. Beim ersteren gehört man dazu, das zweite ist seit den Zeiten des „anthropologischen Egalitarismus” zunehmend unmöglich geworden. Die Frage nach dem Sinn politischen Handelns stellt sich damit für jeden Einzelnen: Will ich mehr verändern als nur mich selbst, brauche ich die Masse, die mich nicht legitimieren wird, wenn ich sie beleidige. Also muß ich mich verstellen, ihr schmeicheln, um so selbst dazuzugehören oder als Zyniker zu enden. Die von Sloterdijk ins Spiel gebrachte kynische Haltung ist vielleicht die ehrlichste, bedeutet aber auch, der Masse vor der Haustür das Feld zu überlassen.
Was bleibt, ist die Beleidigung, die Provokation als Mittel der Machtlosen, der Minderheit: „Die Philosophen haben den Gesellschaften nur verschieden geschmeichelt; es kommt darauf an, sie zu provozieren.” Dieses Mittel hat einige Aussicht auf Erfolg, weil die Masse als Emporkömmling für Beleidigungen sehr empfänglich ist. Daher wird Sloterdijk in dem Text ungewohnt scharf, er will dem „aufrechten Gang in die Banalität” etwas entgegensetzen. Die Masse münde zwangsläufig in das „demokratische Projekt”, das vorgefundene Unterschiede durch gemachte ersetzte. Dadurch werde jede anthropologische Differenz unmöglich, gleichzeitig zwinge der „horizontale Differenzkult” zur Unterscheidung, so daß die Masse als „differenzierte Indifferenz” dastehe, in der es nur ein Tabu gebe: das der gegen das Gleichheitstheorem gerichteten vertikalen Unterscheidung.
Ein schönes Beispiel für den aus dem Verbot notwendig folgenden Verlust an Wertempfinden und Differenzvermögen war die Diskussion um Sloterdijks Vortrag Regeln für den Menschenpark, in dem er nach der Formung des gegenwärtigen Menschen fragte. Die Aufregung, die damals, im Herbst 1999, herrschte, ist sachlich kaum nachzuvollziehen. Der Skandal lag vielleicht schon darin begründet, daß Sloterdijk in seinem Vortrag Platon, Nietzsche und Heidegger als Philosophen ernst nimmt und nicht, wie üblich, versucht, ihnen lediglich philosophiegeschichtlich etwas abzugewinnen. (Bereits Sloterdijks Sammlung philosophischer Klassiker unter dem Motto „Philosophie jetzt!” wies in diese Richtung.) Das hätte vielleicht schon gereicht. Hinzu kam, daß Sloterdijk in seinem Vortrag die Worte „Biopolitik” und „Selektion” verwendete, was natürlich Betroffenheit auslösen mußte.
Weiterhin hat Sloterdijk in der Debatte nicht nachgegeben, sondern nachgelegt, indem er der Kritischen Theorie den Totenschein ausgestellte, was deren Verweser Habermas auf den Plan rief und lange aufgestauten Groll zutage förderte: „Der neuheidnische Sloterdijk präsentiert sich als die gesunde Vorhut einer nachrückenden Generation …, etwas Neues auf dem Markt der Berliner Republik …, der 1999 von sich behauptet, er könne sich seine Vergangenheit frei aussuchen.” Da sind alle Vorwürfe versammelt, obwohl oder gerade weil Habermas in der Sache ausdrücklich nicht Stellung beziehen wollte. Sloterdijk kommentiert die Angriffe auf sich mit einem Verweis auf die „neue anti-ironische Stimmung im Westen”, die von „der Komplexität des anderen” nichts mehr hören wolle.
Diese Auseinandersetzung fand vor dem Hintergrund des Sphären-Projekts statt. Sloterdijk führt darin einen Schlag gegen die abendländische Substanzmetaphysik. Sphären (3 Bände, 1998–2004) ist ein opus magnum, das sich sowohl vom Umfang als auch von der Bedeutung her hinter dem Untergang des Abendlandes oder dem Geist als Widersacher der Seele nicht verstecken muß. Seine These lautet, Leben bedeutet Sphären zu bilden. Von der Blase, in der sich der Mensch im Mutterleib befinde, über die Globen als begreifbaren Vorstellungskosmos bis hin zu den Schäumen, in denen wir existieren, ohne es wahrhaben zu wollen. Neben diesem anthropologischen Ansatz verfolgt Sloterdijk die Absicht, die große Erzählung der Menschheit zu schreiben, ohne dabei im Seienden stehenzubleiben; getreu Heideggers Satz: „Der vulgäre Verstand sieht vor lauter Seiendem die Welt nicht”. Die unfaßbare Komplexität der Wirklichkeit ordnet Sloterdijk, im Anschluß an Spenglers Morphologie, in Sphären, um sie so theoretisch beschreiben zu können.
Darauf aufbauend, entwickelt er mit Im Weltinnenraum des Kapitals Grundlagen für eine philosophische Theorie der Globalisierung. Wiederum in einem Drei-Phasen-Modell schildert er den Vorgang von der antiken Kosmologie über die „terrestrische Globalisierung” (1492–1944) bis hin zur seitdem einsetzenden und bis heute anhaltenden Auflösung (Sloterdijk spricht von „Kompression”) des globalen Raums in der Kommunikation. Damit sei die klassische Verbindung von Ordnung und Ortung (Carl Schmitt) aufgehoben. Was bei Schmitt zum Nihilismus führt, ist bei Sloterdijk eine offene Möglichkeit, da die conditio humana nicht an den Raum gebunden sei.
Über die Gefährdung des Menschen macht sich Sloterdijk dennoch keine Illusionen. Der Humanismus ist es, wie Sloterdijk in Anlehnung an Gehlen und Heidegger behauptet, der uns schwächt und uns vor den Herausforderungen versagen läßt. Deshalb fordert er in seinem „politisch-psychologischen Versuch” Zorn und Zeit eine Rehabilitierung des Zorns im Sinne der bipolaren Psychologie der Griechen als Gegengewicht zur humanitären Gesinnung. Unter Zorn versteht Sloterdijk das „Einswerden mit dem puren Antrieb”, wie er es am Beispiel des Achill demonstriert. Diese kriegerische Tugend verfiel bereits in Griechenland, dennoch sei das Bewußtsein erhalten geblieben, daß es ohne „Beherztheit” (einer Schwundstufe des Zorns) nicht möglich sei, ein Gemeinwesen zu verteidigen. In der durch die Psychoanalyse verdorbenen Kultur Westeuropas, so Sloterdijk, gelte jede dieser Regungen wie „Stolz, Empörung, Zorn, Ambition, hoher Selbstbehauptungswille und akute Kampfbereitschaft” als Folge eines neurotischen Komplexes. Sloterdijk fordert den Stolz als notwendiges Korrektiv, um unser Handeln aus der Einseitigkeit zu befreien: „Große Politik geschieht allein im Modus von Balanceübungen. Die Balance üben heißt keinem notwendigen Kampf ausweichen, keinen überflüssigen provozieren.”
Dieser bipolaren Sicht der Dinge ist Sloterdijk auch in seinem jüngsten Buch Gottes Eifer. Vom Kampf der drei Monotheismen verpflichtet. Vor dem Hintergrund einer vielbeschworenen „Rückkehr der Religionen” bleibt Sloterdijk seiner Religionskritik treu und wirkt damit um vieles ehrlicher als ein Jürgen Habermas, der auf seine alten Tage zu der Einsicht kommt, daß es doch ganz nützlich sei, wenn die anderen an Gott glauben. Sloterdijk sieht bei den betreffenden Intellektuellen „eine zum Finden entschlossene Suche nach dem Halt im Objektiven” am Werk, die daraus zu erklären sei, daß eben Stolz und Zorn keinen Platz in unseren Gesellschaften haben. Der Eifer der Religionen folge aus deren einwertigem Denken, das sich weigere anzuerkennen, daß Leben nicht entweder schwarz oder weiß bedeute, sondern durch die Farbe Grau geprägt sei. Inwieweit man dann, wenn die Religionen diesen „zivilisatorischen Weg” eingeschlagen haben (was im Protestantismus ja lange der Fall ist), noch im Wortsinne von Religionen und nicht lediglich von Weltanschauungen sprechen kann, bleibt fraglich. Und damit ist das Problem des Eifers, der offenbar zur Grundausstattung des Menschen gehört, nicht erledigt. Das weiß Sloterdijk, der diesen religiösen Eifer auch bei säkularen Erscheinungen ausmacht, und das nicht nur beim Kommunismus, sondern auch beim Liberalismus, den „aufgeklärten ‚Gesellschaften‘ des heutigen Westens”. Hier fehle es nicht an Beispielen dafür, „wie die zivilreligiös engagierte totale Mitte zur Treibjagd auf einzelne Frevler gegen den liberalen Konsensus bläst – einer Jagd, die den sozialen Tod des Gejagten billigend in Kauf nimmt.”
Durch die ungeheure Produktivität und übermäßige mediale Präsenz Sloterdijks (seit 2002 moderiert er mit Rüdiger Safranski im ZDF das „Philosophische Quartett”) droht ihm manchmal der rote Faden verlorenzugehen. Man kann in dieser Schwäche Sloterdijks eigentliche Stärke sehen: Er zeigt, daß die Welt nicht in ein System paßt, daß Utopien Selbstbetrug sind und daß die Wahrheit keine ausgemachte Sache ist. Damit bestätigt er auf verblüffende Weise alte Einsichten. Im Gegensatz zu denen, die das immer wußten und immer wissen, hat Sloterdijk den Anspruch, diese Erkenntnis immer wieder zu überprüfen. Dabei geht er denkerische Wagnisse ein und stellt in jede Richtung ketzerische Fragen. Vielleicht ist dies ein Weg, auf dem etwas von der philosophischen Souveränität zurückgewonnen wird, die uns Deutschen im 20. Jahrhundert auf dramatische Weise abhanden gekommen ist.
Aber: Eine Schwäche ist eben doch immer eine Schwäche. Das Unsystematische im Denken Sloterdijks stellt uns vor ein Dilemma: Er trifft in seinen Büchern den Punkt, wie gegenwärtig kein Zweiter. Dennoch kommt es immer wieder dazu, daß er längst überwundene Standpunkte, die er in seinem Werk selbst demontiert hat, punktuell wieder einnimmt – so wie jüngst im „Philosophischen Quartett”, als er sich ohne Not und tieferen Sinn als Linker glaubte bezeichnen zu müssen. Diese typisch postmoderne Inkonsequenz (Wie Habermas bereits 1983 bemängelte) hat ihren Grund auch in seiner phänomenologischen Methode, die es ihm verbietet, Konsequenzen zu formulieren und einen Standpunkt einzunehmen – der sogar ein verlorener Posten sein könnte, wiederum mit Konsequenzen für den Denker selbst.