Unsichtbare Gegner (2): Der kommende Aufstand, antäisch

Der taz-Artikel eines Herrn Johannes Thumfart über den angeblichen immanenten Rechtsdrall des vieldiskutierten radikalen Manifests Der kommende Aufstand... 

Martin Lichtmesz

Martin Lichtmesz ist freier Publizist und Übersetzer.

wur­de inzwi­schen auch (mit klei­ne­ren Ver­än­de­run­gen) in der Jungle World abge­druckt. Zur Erin­ne­rung: Das Pam­phlet ent­hal­te ein gerüt­telt Maß an “deut­scher Ideo­lo­gie”, denn durch sei­ne Sei­ten wür­den die via fran­zö­si­sche Rezep­ti­on gefil­ter­ten teut­schen Böse­wich­te Heid­eg­ger und Schmitt geistern.

Die Online-Fas­sung des Arti­kels schmückt sich mit einem sug­ges­ti­ven Bild in Schwarz-Weiß, das offen­bar den Unter­leib eines Bau­ern in breit­bei­ni­ger Pose aus heroi­scher Unter­sicht zeigt, mit Gum­mi­stie­feln, die nicht von unge­fähr an Fascho-Kno­bel­be­cher erin­nern, hin­ter sich eine Scheu­ne und einen dra­ma­ti­schen Him­mel. So stellt man sich ver­mut­lich in man­chen Krei­sen Götz Kubit­schek beim Gar­ten­be­wirt­schaf­ten im “faschis­ti­schen Stil” vor. Unter­ti­tel: “Die eli­tä­re Revo­luz­zer-Pose hilft nicht wei­ter: Auf­stand mit Boden­haf­tung”, wobei “eli­tär” und “Boden-” wohl sinist­re Effek­te set­zen sollen.

Suspek­te Indi­zi­en für den rech­ten Schlen­ker des fran­zö­si­schen Pam­phlets sind für den Autor des taz/JW-Arti­kels unter ande­rem des­sen Kla­ge über die “Zer­stö­rung sämt­li­cher Ver­wur­ze­lun­gen” durch die tech­ni­fi­zier­te Zivi­li­sa­ti­on und die Kri­tik am “Impe­ria­lis­mus des Rela­ti­ven”, der Tyran­nei des “any­thing goes”, in der nichts wahr ist und alles erlaubt: “Kei­ne sozia­le Ord­nung kann dau­er­haft auf dem Prin­zip auf­bau­en, dass nichts wahr ist.”

Tat­säch­lich ist eines der Haupt­the­men des Pam­phlets die Kri­tik an der Ato­mi­sie­rung des Indi­vi­du­ums, sei­ner Her­aus­lö­sung aus allen leben­di­gen Bin­dun­gen, um es in ein nar­ziß­ti­sches, kon­su­mie­ren­des Räd­chen im Sys­tem zu ver­wan­deln. Das liest sich dort unter ande­rem so:

Es macht schwin­de­lig, das »I AM WHAT I AM« von Ree­bok an einem Wol­ken­krat­zer von Schang­hai thro­nen zu sehen. (…) Die Frei­heit ist nicht die Ges­te, uns von unse­ren Ver­bun­den­hei­ten los­zu­lö­sen, son­dern die prak­ti­sche Fähig­keit, auf sie ein­zu­wir­ken, sich in ihnen zu bewe­gen, sie zu erschaf­fen oder zu durch­tren­nen. (…) Wir ent­le­di­gen uns nicht von dem, was uns fes­selt, ohne gleich­zei­tig das zu ver­lie­ren, wor­auf sich unse­re Kräf­te aus­üben könnten.

»I AM WHAT I AM«, also, kei­ne blo­ße Lüge, kei­ne blo­ße Wer­be­kam­pa­gne, son­dern ein Feld­zug, ein Kriegs­schrei, gerich­tet gegen alles, was es zwi­schen den Wesen gibt, gegen alles, was unun­ter­scheid­bar zir­ku­liert, alles, was sie unsicht­bar mit­ein­an­der ver­bin­det, alles, was die per­fek­te Ver­wüs­tung hin­dert, gegen alles, was bewirkt, dass wir exis­tie­ren und dass die Welt nicht über­all wie eine Auto­bahn aus­sieht, wie ein Ver­gnü­gungs­park  oder  eine  Tra­ban­ten­stadt: pure Lan­ge­wei­le, ohne Lei­den­schaft und wohl geord­net, lee­rer Raum, eis­kalt, nur noch durch­quert von regis­trier­ten Kör­pern, auto­mo­bi­len Mole­kü­len und idea­len Waren.

(…)

Es ist nicht das Ich, was bei uns in der Kri­se ist, son­dern die Form, die  man uns auf­zu­zwin­gen ver­sucht. Es sol­len wohl abge­grenz­te, wohl  getrenn­te Ichs aus uns gemacht wer­den, zuor­den­bar und zähl­bar nach Qua­li­tä­ten, kurz: kon­trol­lier­bar; wäh­rend wir Krea­tu­ren unter Krea­tu­ren sind, Ein­zig­ar­tig­kei­ten unter unse­res­glei­chen, leben­di­ges  Fleisch, wel­ches das Gewe­be der Welt bildet.

Das erin­nert an den Apho­ris­mus von Nicolás Gómez Dávila, daß die moder­nen Men­schen wie “iden­ti­sche Mona­den” sei­en, die ein­an­der feind­lich gegen­über ste­hen. Mona­den, aber auch Noma­den, Entor­te­te, mit­un­ter Entor­te­te am eige­nen Ort:

Es gibt kei­ne »Fra­ge der Immi­gra­ti­on«. Wer wächst noch da auf, wo er gebo­ren wur­de? Wer wohnt da, wo er auf­ge­wach­sen ist? Wer arbei­tet da, wo er wohnt? Wer wohnt dort, wo sei­ne Vor­fah­ren gelebt haben? Und von wem sind die Kin­der die­ser Epo­che, vom Fern­se­hen oder von ihren Eltern? Die Wahr­heit ist, dass wir mas­sen­haft aus jeder Zuge­hö­rig­keit geris­sen wur­den, dass wir von nir­gend­wo mehr her­kom­men, und dass sich  dar­aus,  gleich­zei­tig mit einer unge­wöhn­li­chen Nei­gung zum Tou­ris­mus, ein nicht zu leug­nen­des Lei­den ergibt. Unse­re Geschich­te ist jene der Kolo­ni­sie­run­gen, der Migra­tio­nen, Krie­ge, Exi­le, der Zer­stö­rung  sämt­li­cher Ver­wur­ze­lun­gen. Es ist die Geschich­te all des­sen, was uns zu Frem­den in die­ser Welt gemacht hat, zu Gäs­ten in unse­rer eige­nen Fami­lie. Wir wur­den unse­rer Spra­che ent­eig­net durch die Schu­le, unse­rer Lie­der durch die Hit­pa­ra­de, unse­res Flei­sches durch die Mas­sen­por­no­gra­phie, unse­rer Stadt durch die Poli­zei, unse­rer Freun­de  durch die Lohnarbeit. (…)

Der Fran­zo­se ist mehr als alle andern der Ent­eig­ne­te, der Elen­de. Sein Hass auf die Aus­län­der mischt sich unter sei­nen Hass auf sich als Frem­den. Sei­ne Eifer­sucht, gemischt mit dem Ent­set­zen über die »Ban­lieues«,  drückt  nur  sein  Res­sen­ti­ment aus, über all das, was er ver­lo­ren hat. Er kann es sich nicht ver­knei­fen, die­se soge­nann­ten Stadt­tei­le der »Ver­ban­nung« zu benei­den. Stadt­tei­le, in denen noch ein biß­chen gemein­schaft­li­ches Leben besteht, etwas Ver­bun­den­heit zwi­schen den Men­schen, ein paar nicht­staat­li­che Soli­da­ri­tä­ten, eine infor­mel­le Öko­no­mie, eine Orga­ni­sa­ti­on, die noch nicht von denen getrennt ist,  die sie organisieren.

Wir sind an einem Punkt des Ver­lusts  ange­langt, an dem die ein­zi­ge Art und Wei­se, sich als Fran­zo­se zu füh­len, ist, Immi­gran­ten zu beschimp­fen, die­je­ni­gen, die sicht­ba­rer Frem­de sind als ich. Die Immi­gran­ten haben in die­sem Land eine selt­sa­me Posi­ti­on der Sou­ve­rä­ni­tät: Wären sie nicht da, wür­den die Fran­zo­sen viel­leicht nicht mehr existieren.

Der Begriff “Libe­ra­lis­mus”, in dem Sin­ne, wie er sich dem Kon­ser­va­ti­ven dar­stellt, fin­det sich nir­gends in dem Text. Wo der Autor aller­dings von einer “Zivi­li­sa­ti­on” spricht, die glo­ba­le Ver­wüs­tung sät, und die Kei­me zu ihrer eige­nen Zer­stö­rung in sich trägt, wird deut­lich, daß er nichts ande­res meint. Er wie­der­holt die alte Kri­tik am Libe­ra­lis­mus, daß der libe­ra­le Staat die Grund­la­gen nicht garan­tie­ren kann, auf denen er auf­baut, daß er viel­mehr para­do­xer­wei­se ste­tig an dem­sel­ben Ast sägt, auf dem er auch sitzt. An einem bestimm­ten Punkt wird er zur blo­ßen Tau­to­lo­gie sei­ner selbst, wie auch das “I am what I am” des Reebok-Slogans.

Hans-Diet­rich San­der schrieb in sei­ner ful­mi­nan­ten Kri­tik der Entor­tung Die Auf­lö­sung aller Din­ge, daß der Sozia­lis­mus und der Libe­ra­lis­mus,- die Sie­ger von 1945 -, “die Welt bin­nen weni­ger Jahr­zehn­te in einen Augi­as­stall ver­wan­delt” hät­ten. Papst Johan­nes Paul II. sprach von der “epi­de­mi­schen Aus­brei­tung einer Zivi­li­sa­ti­on des Todes”.  Man ver­glei­che dies mit den Sät­zen des “unsicht­ba­ren Komitees”:

Es gibt kei­nen “Zivi­li­sa­ti­ons­schock”. Was es gibt, ist eine Zivi­li­sa­ti­on in kli­nisch totem Zustand, die an sämt­li­che lebens­er­hal­ten­den Appa­ra­te ange­schlos­sen wird und die in der pla­ne­ta­ren Atmo­sphä­re einen cha­rak­te­ris­ti­schen Gestank ver­brei­tet. An die­sem Punkt gibt es kei­nen ein­zi­gen ihrer »Wer­te«, an den sie noch irgend­wie glau­ben kann, und jede Behaup­tung wirkt auf sie wie eine Unver­schämt­heit, eine Pro­vo­ka­ti­on, die es aus­zu­wai­den, zu dekon­stru­ie­ren und in den Zustand des Zwei­fels zu ver­set­zen gilt.

Auch in fol­gen­den Zei­len höre ich ent­fernt die Stim­me des alten reac­cio­na­rio Don Nicolás wiederhallen:

Der abend­län­di­sche Impe­ria­lis­mus ist heu­te jener des
Rela­ti­vis­mus  der  »Sicht­wei­se«,  der böse Blick aus dem Augen­win­kel, oder das ver­letz­te Pro­tes­tie­ren gegen alles, was dumm genug, pri­mi­tiv genug oder selbst­ge­fäl­lig genug ist, um noch an etwas zu glau­ben, für irgend­et­was ein­zu­ste­hen. Er ist jener Dog­ma­tis­mus der Fra­ge­stel­lung, des kom­pli­zen­haf­ten Augen­zwin­kern der uni­ver­si­tä­ren und lite­ra­ri­schen Intel­li­gent­sia. Kei­ne Kri­tik ist den post­mo­der­nen Den­kern zu radi­kal, solan­ge sie ein Nichts an Gewiss­heit umhüllt. Noch vor einem Jahr­hun­dert lag der Skan­dal in jeder etwas auf­fäl­li­gen Ver­nei­nung, heu­te liegt er in jeder uner­schüt­ter­li­chen Behauptung.

Dem folgt eine Absa­ge an die ver­blie­be­nen anti­li­be­ra­len Strömungen:

Selbst­ver­ständ­lich fin­det der Impe­ria­lis­mus des Rela­ti­ven in irgend­ei­nem lee­ren Dog­ma­tis­mus, in irgend­ei­nem Mar­xis­mus-Leni­nis­mus, irgend­ei­ner Sala­fi­y­ya, in irgend­ei­nem Neo-Nazis­mus einen ange­mes­se­nen Geg­ner, jemand, der, wie die Abend­länd­ler, Behaup­tung mit Pro­vo­ka­ti­on verwechselt.

All die­se Wahr­neh­mun­gen von sei­ten der Lin­ken sind nicht neu; ähn­li­ches konn­te man bereits in den Sech­zi­ger Jah­ren von Quer­köp­fen wie Pier Pao­lo Paso­li­ni hören, und die Fra­ge nach der Ent­frem­dung und dem Adorno’schen “rich­ti­gen Leben im Fal­schen” sind immer schon Dau­er­bren­ner der Lin­ken gewe­sen, auch wenn man eher umge­kehrt vor­zugs­wei­se den (fal­schen) Ver­wur­ze­lun­gen sel­ber die Schuld gab, und die radi­ka­le Eman­zi­pa­ti­on als Heil­mit­tel emp­fahl. Wenn man so will, kann man die­se Linie bis zu den klas­si­schen Sät­zen des Kom­mu­nis­ti­schen Mani­fests zurück­ver­fol­gen:

Die Bour­geoi­sie, wo sie zur Herr­schaft gekom­men, hat alle feu­da­len, patri­ar­cha­li­schen, idyl­li­schen Ver­hält­nis­se zer­stört. Sie hat die bunt­sche­cki­gen Feu­dal­ban­de, die den Men­schen an sei­nen natür­li­chen Vor­ge­setz­ten knüpf­ten, unbarm­her­zig zer­ris­sen und kein ande­res Band zwi­schen Mensch und Mensch übrig­ge­las­sen als das nack­te Inter­es­se, als die gefühl­lo­se „bare Zah­lung“. Sie hat die hei­li­gen Schau­er der from­men Schwär­me­rei, der rit­ter­li­chen Begeis­te­rung, der spieß­bür­ger­li­chen Weh­mut in dem eis­kal­ten Was­ser ego­is­ti­scher Berech­nung ertränkt. Sie hat die per­sön­li­che Wür­de in den Tausch­wert auf­ge­löst und an die Stel­le der zahl­lo­sen ver­brief­ten und wohl­erwor­be­nen Frei­hei­ten die eine gewis­sen­lo­se Han­dels­frei­heit gesetzt. Sie hat, mit einem Wort, an die Stel­le der mit reli­giö­sen und poli­ti­schen Illu­sio­nen ver­hüll­ten Aus­beu­tung die offe­ne, unver­schäm­te, direk­te, dür­re Aus­beu­tung gesetzt.

Beson­de­ren Ein­druck hat in die­ser Hin­sicht auf mich per­sön­lich vor Jah­ren ein Buch des lin­ken Gefäng­nis­psy­cho­lo­gen Götz Eisen­berg gemacht: Amok – Kin­der der Käl­te (2000), das sich der Fra­ge stell­te, war­um es den US-Import “Amok­lauf unter Jugend­li­chen” nun “auch auf deutsch” gäbe.  Dar­in hieß es etwa:

Die drei­fa­che Potenz von Glo­ba­li­sie­rung, Ratio­na­li­sie­rung und Fle­xi­bi­li­sie­rung zieht eine poli­ti­sche, gesell­schaft­li­che und psy­chi­sche Des­in­te­gra­ti­on nach sich, die uns eine Invo­lu­ti­on der Zivi­li­sa­ti­on und ein Anwach­sen der Bar­ba­rei besche­ren wird.

Eisen­berg dia­gnos­ti­zier­te einen fort­schrei­ten­den Weg von einer (nach Alex­an­der Mit­scher­lich) “vater­lo­sen” zu einer “eltern­lo­sen Gesell­schaft”, in der ins­be­son­de­re die fami­liä­ren Bin­dun­gen immer mehr aus­ein­an­der­fie­len: “Der Schon­raum der Fami­lie wird geschleift, ver­mit­teln­de psy­chi­sche Struk­tu­ren bil­den sich kaum noch aus.” Die “sozi­al­psy­cho­lo­gi­sche Struk­tur des Zeit­al­ters” sei das “Bor­der­line-Syn­drom”. Im Zustand des “Bor­der­line” sind die Ich-Gren­zen desta­bi­li­siert, das Inne­re zeigt sich als

… eine Welt zer­ris­se­ner Emo­tio­nen, böser, ver­fol­gen­der Par­ti­al­ob­jek­te, ver­schlin­gen­der Abgrün­de, eine Höl­le der Des­in­te­gra­ti­on und der Frag­men­tie­rung, lau­ter gestauch­te Tei­le eines psy­chi­schen Puz­zles, die sich zu kei­ner Iden­ti­tät mehr zusam­men­fü­gen las­sen. Um die­ser Höl­le zu ent­ge­hen, ver­wan­delt der in einer unauf­halt­sam schei­nen­den Regres­si­on begrif­fe­ne Mensch sei­ne Angst, die ihn kör­per­lich und psy­chisch zu ver­schlin­gen droht, in Wut, die er nach außen wen­det und dort ande­ren die Höl­le berei­tet. Der inne­re Haß wird in die Welt pro­ji­ziert und ver­wan­delt sich im Extrem­fall des Amoks in die Mas­se der Umzubringenden.

Es ist nicht schwie­rig, hier eine Linie zu den Gewalt- und Zer­stö­rungs­phan­ta­sien des “unsicht­ba­ren Komi­tees” zu zie­hen, die für sich bean­spru­chen, “die nöti­gen Wahr­hei­ten fixiert” zu haben, “deren uni­ver­sel­le Ver­drän­gung die psych­ia­tri­schen Kli­ni­ken und die Bli­cke mit Schmerz füllt”.  Dazu paßt auch wie die Faust aufs Auge, daß Tyler Dur­den, der den Kom­men­den Auf­stand wohl noch mehr beein­flußt hat als Heid­eg­ger und Deleu­ze zusam­men, auch nichts ande­res als ein Bor­der­li­ner war. Züge davon trägt auch der eben­falls von Felix Ser­rao ins Spiel gebrach­te Joker, der psy­cho­pa­thi­sche Anarcho-Ter­ro­rist aus dem Bat­man-Film The Dark Knight, mit des­sen Gru­sel­schmin­ke miß­traui­sche und rebel­li­sche Bür­ger in den USA auf Agit­prop-Pla­ka­ten ihre Staats­ober­häup­ter verzieren.

Einen genia­len Griff mach­te Eisen­berg, als er die Aus­brei­tung des Bor­der­line­syn­droms in der Gesell­schaft mit der entor­ten­den und ent­gren­zen­den “Kul­tur der Glo­ba­li­sie­rung” in Ver­bin­dung brach­te. Die­se sei in den Wor­ten John Ber­gers “viel­leicht die klaus­tro­pho­bisch­te, die je exis­tier­te”, die “wie Boschs Höl­le kei­nen Blick auf ein Anders­wo oder Anders­wie zuläßt. Das Vor­han­de­ne schließt sich zum Gefängnis.”

Die feh­len­de “Bor­der­line” der Psy­che und die “no bor­ders” der Glo­ba­li­sie­rung als par­al­le­le Ent­wick­lun­gen! “With Usu­ra is no clear demar­ca­ti­on” (Ezra Pound, Can­to XLV). Das ist gera­de aus kon­ser­va­ti­ver, d.h. antäi­scher, ver­or­ten­der Sicht über­aus schlüs­sig. Die Poin­te, daß gera­de die am weit­rei­chends­ten ver­netz­te, glo­ba­li­sier­te Welt sich zum klaus­tro­pho­bi­schen Gefäng­nis schließt, könn­te man eben­so als Bestä­ti­gung kon­ser­va­ti­ver Para­do­xa sehen, wie den Fall des Indi­vi­du­ums, das sich selbst zur unkon­trol­lier­ba­ren Höl­le ohne Frei­heit und Sou­ve­rä­ni­tät wird, weil ihm die Gren­zen und Beschrän­kun­gen fehlen.

Was sich in den Milieus der Anti­fa und Links­ra­di­ka­len an halt­lo­sen, dif­fus aggres­si­ven jun­gen Men­schen zusam­men­sam­melt, ist ohne Zwei­fel zu einem erheb­li­chen Pro­zent­satz vom Bor­der­line­syn­drom betrof­fen. Hier wür­de auch die­ses eigen­ar­ti­ge Wüten gegen eine über­mäch­ti­ge Nati­on, die es nicht mehr gibt, gegen einen Gott, an den kei­ner mehr glaubt, gegen eine Erzie­hung, die zuneh­mend ver­wei­gert wird, und gegen einen Staat, der es kaum mehr wagt, sei­ne eige­nen Inter­es­sen durch­zu­set­zen, in einem ganz neu­en Licht erschei­nen. Das para­noi­sche, typisch bor­der­li­ne­ar­tig selbst­ge­rech­te Bild, das die Anti­fa von der “Staats­ge­walt” pflegt, ist in die­ser Per­spek­ti­ve im Grun­de nichts ande­res als das kind­li­che “Bet­teln nach der Ohr­fei­ge”. Man hat in Anti­fa­k­rei­sen, so scheint es oft, eine tief­sit­zen­de Sehn­sucht nach dem Schlag­stock des Büt­tels. All die­ser ent­fes­sel­te Irr­sinn ist zu einem gro­ßen Teil nicht das Ergeb­nis von zuviel, son­dern von zuwe­nig Erzie­hung und “Repres­si­on”. Dafür spre­chen auch die for­dern­den, juve­nil-zor­ni­gen Man­ga-Gesich­ter, die sich die Anti­fas mit Vor­lie­be auf die Auf­kle­ber und Pla­ka­te dru­cken: man sieht sich im Grun­de als ewig toben­des Kind mit Abgren­zungs­pro­ble­men und unbe­grenz­ten Ansprüchen.

An die­sem Punkt war auch Götz Eisen­berg ange­langt, aber an die­ser Stel­le ist es auch, wo ihm die Fäden aus der Hand glit­ten. Denn nun ist man nur einen Schritt davon ent­fernt, die klas­si­schen “eman­zi­pa­to­ri­schen” Stra­te­gien und Par­tei­nah­men der Lin­ken auf die Ankla­ge­bank zu stel­len.  All die­se Din­ge bekommt man von Links nicht in den Griff, ohne sich in mas­si­ve Wider­sprü­che und Selbst­täu­schun­gen zu ver­stri­cken – wor­aus sich wohl auch der blü­hen­de kon­tra­fak­ti­sche Unfug zwi­schen den tref­fen­de­ren Absät­zen des Kom­men­den Auf­stands erklärt.

Eisen­berg ver­such­te, die gesell­schaft­li­che Mise­re über Ador­no, Negt, Marx und Psy­cho­ana­ly­se zu erfas­sen. Damit kann man eini­ger­ma­ßen weit kom­men. Aber wenn er dann am Ende sei­ner Ana­ly­se aus­ge­rech­net das “Anti­dot der Uto­pie” (also wört­lich U‑topia,  die Nicht-Ört­lich­keit, die Ort­lo­sig­keit) emp­fiehlt und Ernst Bloch aus sei­nem Mot­ten­kis­ten­sarg kramt, dann ist die den­ke­ri­sche Sack­gas­se wie­der zuge­macht, und das ist nicht ohne Zusam­men­hang mit der Struk­tur des lin­ken Den­kens überhaupt.

Denn das lin­ke Dilem­ma ist ja die­ses: wer sich nun als Lin­ker anschickt, den Leich­nam der “kli­nisch toten Zivi­li­sa­ti­on” zu sezie­ren, wer nun über Ent­wur­ze­lung, Ver­ein­ze­lung, Bin­dungs­lo­sig­keit oder gar Ratio­na­li­sie­rung klagt, wird ein­ge­ste­hen müs­sen, daß die Lin­ke selbst an die­sen Ent­wick­lun­gen einen erkleck­li­chen Anteil hat­te und hat. War es denn nicht die Lin­ke, die den Ein­zel­nen zu Tode und in Stü­cke eman­zi­piert hat, um ihn aus “repres­si­ven” Bin­dun­gen zu befrei­en? Es nützt nichts, über den “fle­xi­blen Kapi­ta­lis­mus” und die Kon­sum­welt zu kla­gen, ohne zu erken­nen, daß die Lin­ke selbst ihm den Weg geeb­net hat, indem sie alles weg­ge­putzt und platt­ge­wälzt hat, was der Total­herr­schaft des Mark­tes, der Ver­nut­zung und des Gel­des entgegenstand.

Nun ste­hen die Autoren vor dem Deba­kel wie jeder ande­re auch, und wis­sen kei­nen ande­ren Aus­weg mehr, als sich die Bir­ne an der Wand ein­zu­hau­en, den Salat in die Luft zu jagen und den Poli­zei- und Gulag­staat durch die Ent­fes­se­lung von Anar­chie und Kri­mi­na­li­tät her­auf zu provozieren.

Lin­ke, die die­se Zusam­men­hän­ge und Lagen nicht wahr­ha­ben wol­len, schrei­ben dann eben Arti­kel wie jener Johan­nes Thumf­art in der taz und Jungle World, die allen Erns­tes den Sta­tus Quo ver­tei­di­gen wol­len, als wäre er die Wei­ma­rer Repu­blik vor der Macht­er­grei­fung, wie sie sich der klei­ne FDGO-Demo­kra­ten­ma­xi vor­stellt: ein Art Pro­to-BRD, die mir nichts dir nichts vom bös­wil­li­gen Extre­mis­ten­stie­fel platt­ge­macht wur­de. Sie klin­gen dar­in auch nicht anders als die Wulffs und Mer­kels und Schäubles und Wes­ter­wel­les und all die ande­ren destruk­ti­ven Extre­mis­ten an der Staats­spit­ze, denen die, jawohl, “Schwatz­bu­den” des Par­la­ments ohne­hin nur mehr als Kas­per­le­thea­ter die­nen, das davon ablen­ken soll, wie hin­ter den Kulis­sen eine Hand die ande­re wäscht.

Kom­plet­ter Irr­sinn aber ist es, so zu tun, als sei etwas so Ele­men­ta­res wie “Boden­haf­tung” reak­tio­när, als hät­te die tota­le Eman­zi­pie­rung wirk­lich eine bes­se­re Welt geschaf­fen, und als müs­se man nur noch mehr und mehr eman­zi­pie­ren, als wir uns heu­te über­haupt erst vor­stel­len kön­nen, um die bes­te aller Wel­ten zu schaf­fen. An die­se Grund­la­gen glaubt heu­te kein Mensch mehr, der alle Tas­sen im Schrank hat. Ein­mal mehr wäre hier die Lin­ke in der Wirk­lich­keit ange­kom­men, da kön­nen ihre behä­bi­ge­ren Tei­le noch so sehr “Heid­eg­ger”, “Schmitt” und “deut­sche Ideo­lo­gie” spot­zen wie sie wol­len. Dann wäre es aber auch Zeit, über­haupt die­sen gan­zen lin­ken Theo­rie­bal­last abzu­wer­fen, der ja doch nur die Sicht ver­stellt, und in Form von “kor­rup­ti­ven Gedan­ken­gän­gen” (Hans Blü­her) die Gehir­ne auf­weicht und Augen trübt.

Es ist aber auch eine Täu­schung, sich wie Felix Ser­rao in der SZ eher resi­gna­tiv abzu­fin­den und “unse­re moder­ne Mas­sen­de­mo­kra­tie kapi­ta­lis­ti­schen Zuschnitts” mit zusam­men­ge­bis­se­nen Zäh­nen als “so blei­ern wie alter­na­tiv­los” zu akzep­tie­ren. Das wür­de näm­lich eine Sta­tik und Sta­bi­li­tät des Sta­tus quo vor­aus­set­zen, die nicht gege­ben ist. Das Blei­er­ne wäre zu ertra­gen, wenn die­se Gesell­schafts­ord­nung wenigs­tens Fort­be­stand und Sicher­heit gewäh­ren wur­de. Aber das eben tut sie nicht, son­dern sie zer­stört sich aktiv selbst, von innen her­aus, auf der Grund­la­ge ihrer eige­nen Prä­mis­sen, und in die­sem Punkt haben die Autoren des Kom­men­den Auf­stands rich­tig gesehen.

 

Martin Lichtmesz

Martin Lichtmesz ist freier Publizist und Übersetzer.

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Kommentare (14)

schattenkoenig

2. Dezember 2010 22:48

Applaus, liebe Linke. Nichts, überhaupt nichts, was ihr je getan habt, ob Kommunismus, Feminismus, Frankfurter Schule, Multikulti oder Antifaschismus, hat je das bewirkt, was ihr laut Eurer eigenen Propaganda beabsichtigt haben wollt. Überall und jederzeit wart ihr nur die Dampfwalze, die den globalen Schrecknissen, die da kommen sollten, den Weg ebnete.

Es hätte doch jedem klar sein müssen, daß die Nihilisten nicht zu Euch kamen und leutselig sagten: Wir wollen die Gesellschaft atomisieren und zwecks Gewinnmaximierung einem internationalen Kontrollsystem unterwerfen, sondern sich für dieses Ziel einer etwas phantasievolleren Maskierung bedienen mußten. Man hat Euch und Eure Phantasien über hundert Jahre lang gespielt wie eine Violine! Da kann man schon mal neugierig werden: wie gedenkt man Euch linke Dummbeutel und nützliche Idioten wohl in Zukunft dazu zu bringen, das Kommende auch noch zu bewirken?

Wenn das jetzige liberale System sich in bereits absehbarer Zukunft selbst zerstört haben wird - was kommt danach? Bekommen wir Deutschen dann unser verlorenes Reich wieder, und alles wird gut? Oder haben die Architekten der Globalisierung (ich setze mal voraus, daß es die gibt - das sagen die uns nämlich schon ständig, nur wir sind z.T. zu blöd, das dann zu verstehen) bereits weitergeplant?

Wenn das derzeitige Wirtschaftsmodell auch an die Wand fährt; die zu Menschenbrei vermischten Völker soll niemals mehr jemand wieder auseinanderdividiert bekommen. Vor zwei Jahren kündigte der französische Staatspräsident vor Studenten der École Polytechnique eine "große Vermischung" an, da den eingesessenen Franzosen ansonsten "Inzest" drohe. Und der "Querdenker" Heiner Geißler hat im Spiegel schon 1990 behauptet, die multikulturelle Gesellschaft biete den Vorteil, daß "Hans es jetzt nicht mehr nur mit der Grete treiben" müsse, sondern es da Alternativen gebe.

Da man die eingesessenen Europäer aber nicht freiwillig dahinbekommt, sich im Mehrheitsmaßstab wie Boris Becker oder Heidi Klum zu verhalten, wird es einen entsprechenden Zwangsapparat geben müssen, der verhindert, daß Weiß sich mit Weiß paart. In Großbritannien ist das schon angelaufen, da werden bestimmte Eheschließungen wegen vorgeschobener "Gesundheitsgefährdung der Kinder" staatlich verhindert.

"Es leuchtet! Seht! Nun läßt sich wirklich hoffen,
Daß, wenn wir aus viel hundert Stoffen
Durch Mischung - denn auf Mischung kommt es an! -
Den Menschenstoff gemächlich komponieren,
In einen Kolben verlutieren
Und ihn gehörig kohobieren,
So ist das Werk im Stillen abgetan."

Wie krank müssen die Gehirne derer sein, die sich so was immer ausdenken? Und wie beschränkt diejenigen, die das kritiklos abnicken, ausführen oder hinnehmen?

hirsacker

2. Dezember 2010 22:49

60 Jahre Frieden und Demokratie sind ja auch irgendwie unmenschlich.
Da haben die Franzosen schon recht.

classless

2. Dezember 2010 23:04

"...wenngleich es wenig überraschend ist, daß Kommunisten, als die zumindest die wahrscheinlichste Urhebergruppe des Buches Tiqqun sich ansieht, die demokratische Herrschaft, den Staat und den Kapitalismus überwinden wollen, kann nicht die Rede davon sein, daß das Komitee sich irgendwelche Illusionen darüber macht, was die Optionen für die Zukunft sind."

Jungle World vs. "Der kommende Aufstand"

Sebastian

3. Dezember 2010 00:03

Etwas "off topic", aber soviel Lob muss sein:
Wieder einer der (eher seltenen) Beiträge auf SiN, bei denen ich wirklich nichts zu mäkeln habe. Und wieder kommt er von Lichtmesz.

Differenziert und dennoch apodiktisch, analytisch ergiebig und doch keine Seminararbeit, stilistisch geschliffen und trotzdem "auf's Maul". Sehr schön.

Richard Vonderwahl

3. Dezember 2010 09:06

Ich verstehe auch beim besten Willen nicht, was daran für die Linken so verdächtig ist. Der Aufsatz steht in einer typisch französischen Tradition und hätte auch neben Baudrillard in einem Bändchen von Merve erscheinen können. Das einzig Besondere daran ist die terroristische Rhethorik.

bresl

3. Dezember 2010 11:03

Mensch, sollten Kubitscheks wirklich schon einen so großen, neuen Stall mit Hochsilo haben? Irgendwie rennt die Entwicklung völlig an mir vorbei. (Und ich sitz hier in Oberbayern und gurke an Schuhsohlen und Ähnlichem herum!)
Vermute, daß das am Land der Frühaufsteher liegen muß!
Sacklzement!

Toni Roidl

3. Dezember 2010 12:55

»So stellt man sich vermutlich in manchen Kreisen Götz Kubitschek beim Gartenbewirtschaften im „faschistischen Stil“ vor.« Hahaha! Jau, bei der »Endlösung der Unkrautfrage« vermutlich...

»Das paranoische, typisch borderlineartig selbstgerechte Bild, das die Antifa von der „Staatsgewalt“ pflegt, ist in dieser Perspektive im Grunde nichts anderes als das kindliche „Betteln nach der Ohrfeige“.« Stimmt. Siehe hier:
https://www.youtube.com/watch?v=rSDMiypAO6I
;-))

holgerdanske

3. Dezember 2010 13:13

"...In Großbritannien ist das schon angelaufen, da werden bestimmte Eheschließungen wegen vorgeschobener „Gesundheitsgefährdung der Kinder“ staatlich verhindert."

Der Umkehrschluß zum Verbot von "mixed marriage"? Mischehen als Zwangsvorgabe?
Gibt es dazu einen Link oder ist das nur ein urbaner Mythos? Ich habe es gerade gegoogelt und nix gefunden.

Buxe

4. Dezember 2010 08:33

Beide Teile sind einfach geniale Analysen, so etwas liest man nur auf Sezession. Lichtmesz schürft tief und bringt es bezüglich der Borderline-Antifa auf den Punkt: ganz große Klasse! Ich habe lange lange nicht mehr einen so herausragenden Text gelesen. Schlichtweg genial. Und damit er nicht in Vergessenheit gerät, nehmen wir ihn intern zur Aufklärung und Schulung. Vielen Dank! Und: weiter so!

Visitor

5. Dezember 2010 12:42

@ holgerdanske

Versuchen Sie es damit:

The Engineer of Diversity
https://www.brusselsjournal.com/node/3764

Fritz

5. Dezember 2010 20:01

Linke Lebenslügen der Deutschen - besser: europäische linke Lebenslügen - wie lange können sie noch aufrecht erhalten werden? Schwer zu sagen, denn diese Lebenslügen fußen auf dogmatischen Mythen. Da kommt man mit Ratio nur schwer ran. Linke mit ihrer emotialen Bewusstseinswelt benötigen keine gesellschaftspolitischen Realitätsoffenbarungen. Sie fühlen sich völlig geborgen und glücklich in ihrer kuscheligen Traumwelt. Für Probleme in der Echt-Welt, die mit ihren Träumen kollidieren, fühlen sie sich nicht zuständig bzw. dafür machen sie alle nicht-linken Kräfte - also die bösen anderen - verantwortlich. Ein simples Weltbild also, das sehr stressresistent ist und den persönlichen träumerischen Glückszustand konserviert! Die Frage also: Wie lange noch soll es so weitergehen und was muß noch passieren, damit die linken Köpfe sich den Realitäten stellen?
Zwei Links zu aktuellen Artikeln zur Thematik:
1. Die TAZ, 04.12.2010: "Linke Lebenslügen" (Autor Norbert Bolz) https://www.taz.de/1/politik/deutschland/artikel/1/linke-lebensluegen/ 2. American Thinker, 05.12.2010: "Overheard - and Overlooked - at the Sorbonne" (Autor David R. Stokes) https://www.americanthinker.com/2010/12/overheard_and_overlooked_at_th.html

schattenkoenig

6. Dezember 2010 19:59

@holgerdanske

Ich hab's von hier:

https://gatesofvienna.blogspot.com/2009/11/run-gorgons-are-coming.html#readfurther

Markward von Annweiler

7. Dezember 2010 11:05

Ich kann mich dem Lob meiner Vorredner nur anschließen. Lichtmesz bringt zum Ausdruck, was man selbst schon gedacht hat, nur vielleicht nicht so prägnant zu formulieren wußte.
J. Thumfart hingegen kann ich nur nur widersprechen, "rechts" ist das nicht, was das 'Unsichtbare Komitee" zusammengeschrieben hat. Interessant ist auch, das Thumfart den nicht linken, also antidemokratischen und bösen Charakter des Manifests an seiner Verbindung mit der deutschen Geistesgeschichte festmachen will. "Denn diese Gedanken sind zu eng mit der deutschen Ideengeschichte verwoben, als dass man sie auch nur in Erwägung ziehen könnte." Ist der Marxismus etwa nicht "mit der deutschen Ideengeschichte verwoben"?
Allen linken Ideologien wohnen Widersprüche inne, die Marxisten wohl als dialektisch bezeichnen würden. Die Linken kritisieren den Kapitalismus, sekundieren ihm aber gleichzeitig darin, die gewachsenen kulturellen Strukturen zerstören, jedenfall soweit sie irgendwie weiß, europäisch, heterosexuell, bürgerlich, christlich oder noch schlimmeres sind: Familie, Nation, Religion. Haben sie dieses Ziel erreicht, sind die gewachsenen Bindungen zerstört und bleibt nur noch der Einzelne und der Markt, pflegt die Gutmenschenfraktion unter den Linken wortreich den Mangel an Solidarität, die „soziale Kälte“ zu beklagen. Die Autoren des Aufstandes sind sich ihrer Dialektik bewußt, und verzichten wenigstens auf Gesülze: „In Wirklichkeit ist die Zersetzung aller gesellschaftlichen Formen ein Glücksfall. Sie ist für uns die ideale Bedingung für ein wildes Massenexperiment, in neuen Zusammensetzungen, mit neuen Treuen.“ (der Aufstand, 23)
Obwohl der „kommende Aufstand“ sich auf höherem Niveau bewegt als das gängige Sozialgeschwafel, kann auch er die (beabsichtigte?) innere Widersprüchlichkeit nicht vermeiden. Wenn alle sozialen Beziehungen von der ‚falschen Gesellschaft’ gleichsam affiziert sind, wie kann es dann unabhängiges Denken, wie wirklichen Widerstand geben? Wird nicht jegliches Anarchistentum letzlich zur leeren Pose, da es ordnungslos und ohne die Fähigkeit zur Produktion der benötigten Güter nur parasitär zu der Gesellschaft existieren kann, die es bekämpfen will? Wahrlich, der Kapitalismus wird noch jegliche Kritik an ihm vermarkten und damit jedesmal absorbieren.
Diese Wiedersprüche sind in der Realität nicht aufzulösen, wohl aber im Utopia einer sozialistischen Gesellschaft. Darin würden die Wiedersprüche zwischen dem Einzelnen und den Vielen, zwischen Wunsch und Realität, zwischen Bewußtsein und Sein aufgehoben. Doch glaubt die Mehrheit der Linken heute nicht mehr an derartige Luftschlösser, schon gar nicht die, die in irgendeiner Weise praktische Politik betreiben. Sie streben in Wahrheit gar nicht mehr die Abschaffung des Kapitalismus an (vgl. der Aufstand 48 ff. zum „Ökokapitalismus“), wenn ihnen überhaupt noch irgendein übergeordnetes Konzept vorschwebt, so könnte man es sozialtechnische Organisierung „von Gesellschaft“ nennen, einer Gesellschaft freilich, die nicht mehr Volk sein soll, sondern die aus verschiedenen Minderheiten und Interessengruppen besteht, deren materielle Bedürfnisse befriedigt bzw. miteinander verrechnet werden sollen. Kein Wunder also, daß sich die nicht linken Parteien im Bundestag so wenig von ihren Counterparts unterscheiden.
Dennoch steht uns kein grün-rot-rotes 1984 mit der political correctness als „Staatsreligion“ bevor. Der Grund liegt in der oben erwähnten Fähigkeit und Notwendigkeit zur Absorbierung jeglichen Widerspruchs: Für das System kapitalistische Demokratie ist freimütige Kritik eine Bedingung seines Fortbestehens, vielleicht steht gerade deshalb ein Großteil seiner medial-kulturellen Eliten politisch links- ein Paradoxon, das zumindest dem Basis-Überbau Schematismus der altmarxistischen Lehre zu widersprechen scheint.

Hesperiolus

7. Dezember 2010 22:15

Die meisten Artikel hier sind beachtlich und behaupten den Anspruch einer innermedialen Sezession zu Recht, dieser ist wieder einmal herausragend!

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