Technokratischer Konservatismus

pdf der Druckfassung aus Sezession 38 / Oktober 2010

von Rainer Waßner

Der Begriff »Technokratischer Konservativismus« wurde von dem Stuttgarter Politikwissenschaftler Martin Greiffenhagen geprägt, nachträglich und – unschwer zu erraten – in herabsetzender Absicht. Er bezeichnete eine Gruppe von Sozialwissenschaftlern, die sich in den sechziger Jahren, in der konsolidierten Bonner Republik, unzeitgemäße Gedanken über die moderne Zivilisation unter Anwendung auf deutsche Verhältnisse machten. Sie bildeten keine politische, weltanschauliche, organisatorische Einheit und dürften sich anfänglich weder als »Alternative«, nicht einmal als »Konservative« empfunden haben. Zwar fanden ihre Analysen ein zwiespältiges Echo, doch wurden sie mit Interesse aufgenommen, keinesfalls polemisch verrissen, denn die bevorstehende Kulturrevolution verharrte noch im embryonalen Zustand.

Gemein­sam ist die­sen Gelehr­ten (von denen im fol­gen­den die vier mar­kan­tes­ten vor­ge­stellt wer­den), den gewal­ti­gen Kom­plex aus Wirt­schaft, Büro­kra­tie, Wis­sen­schaft, Tech­nik und Mili­tär, wie er sich in den Nach­kriegs­staa­ten her­aus­ge­bil­det hat­te, als erhal­tens­not­wen­dig und theo­re­tisch unüber­geh­bar ein­zu­stu­fen; inso­weit mag man sie als Ver­tre­ter einer neu­en kon­ser­va­ti­ven Hal­tung ein­schät­zen, die nicht mehr auf die Restau­rie­rung vor­mo­der­ner Zustän­de baut. Der Publi­zist Armin Moh­ler brach­te es 1969 auf den Punkt. »Für den Kon­ser­va­ti­ven, der sich nicht in Roman­ti­zis­men ver­lie­ren will, gibt es nur einen Weg, sich mit den Pro­ble­men sei­ner Zeit zu befas­sen: durch die indus­tri­el­le Gesell­schaft mit­ten durch.«
Die spä­ter ein­set­zen­de links­in­tel­lek­tu­el­le Schel­te füllt heu­te eini­ge ver­staub­te Regal­me­ter. Sie hat ihren Ver­fas­sern im Kli­ma des Umbruchs Lob, Ehre, Ein­kom­men und Titel zuge­schanzt, kommt aber meist über die übli­chen Vor­wür­fe (anti­auf­klä­re­risch, unde­mo­kra­tisch, pro­ka­pi­ta­lis­tisch und so wei­ter, und so fort) nicht hinaus.
Der nicht wirk­lich voll­zo­ge­nen Aus­ein­an­der­set­zung liegt ein letz­ter, unaus­ge­spro­che­ner und unauf­lös­ba­rer Kon­flikt zugrun­de: Kann man sich in der zwei­ten Hälf­te des 20. Jahr­hun­derts mit dem blo­ßen Wol­len, durch Umset­zung von Vor­stel­lun­gen über die »rich­ti­ge« Gesell­schaft in radi­ka­le poli­tisch-sozia­le Pra­xis, – nicht zuletzt mit­tels mate­ri­el­ler und Herrschafts-»Techniken« – erfolg­reich zum Herrn und Macher der Geschich­te auf­schwin­gen oder tra­gen Inter­ven­tio­nen in das über­kom­me­ne sozia­le und tech­no­lo­gi­sche Gefü­ge immer ein unkal­ku­lier­ba­res Fol­ge­ri­si­ko für das staat­li­che und gesell­schaft­li­che Leben, das aus deren Eigen­dy­na­mik und Ver­laufs­not­wen­dig­kei­ten resultiert?

Der Leip­zi­ger Phi­lo­soph und Sozio­lo­ge Hans Frey­er (1887–1969) hat­te 1931 eine gera­de­zu fre­che geschichts­phi­lo­so­phi­sche Vari­an­te prä­sen­tiert. Sei­ne Schrift Revo­lu­ti­on von rechts stimm­te in der Kla­ge über die Nega­tiv­sym­pto­me des libe­ra­len Kapi­ta­lis­mus Karl Marx voll­kom­men zu, um dann des­sen Hoff­nung auf die befrei­en­de Tat der Arbei­ter­klas­se durch die des »Vol­kes« zu erset­zen. Volks­staat und Volks­ge­mein­schaft erschie­nen dem Autor als Heil­mit­tel gegen die Ent­frem­dungs­ten­den­zen der indus­tri­el­len Welt! 1955, Frey­er war nun­mehr Sozio­lo­gie­pro­fes­sor in Müns­ter, wand­te er sich mit sei­nem Buch Theo­rie des gegen­wär­ti­gen Zeit­al­ters noch ein­mal dem Sinn­ver­lust der Moder­ne zu, der durch die Vor­herr­schaft des instru­men­tel­len, tech­no­lo­gi­schen und öko­no­mi­schen Den­kens ein­tre­te. Zwar nahm er sei­ne Kul­tur­kri­tik an der »Redu­zie­rung« des Men­schen auf die Anfor­de­run­gen des Sys­tems nicht zurück, hielt jedoch resi­gniert fest, kein poli­ti­sches Han­deln kön­ne mehr die grund­sätz­li­che »Ent­menschung« durch die moder­ne Gesell­schaft über­win­den. Nur noch inner­halb der »sekun­dä­ren Sys­te­me« – so bezeich­net er jetzt die Gesamt­struk­tur – sei­en gewis­se Kor­rek­tu­ren mög­lich. Dazu dien­ten die Fes­ti­gung der Nah­be­zie­hun­gen, zum Bei­spiel in Fami­lie und Nach­bar­schaft, sowie die Pfle­ge und der Ein­bau kul­tu­rel­ler Über­lie­fe­run­gen (die »hal­ten­den Mäch­te« der sekun­dä­ren Sys­te­me). Frey­er wies gleich­zei­tig auf die Gefahr neu­er Ideo­lo­gie­bil­dun­gen hin. Die Undurch­schau­bar­keit der tech­ni­schen und gesell­schaft­li­chen Pro­zes­se für den Lai­en kom­me einem Glau­ben zugu­te, der Patent­re­zep­te zur Lösung aller Pro­ble­me für mög­lich halte.
Bevor Arnold Geh­len (1904–1976) im Jah­re 1934 in Leip­zig Ordi­na­ri­us für Phi­lo­so­phie wur­de, war er kurz­zei­tig Assis­tent von Frey­er. Doch kann man kaum von einem Leh­rer-Schü­ler-Ver­hält­nis spre­chen, und spä­ter trenn­te Geh­len von Frey­er vor allem die Kon­zen­tra­ti­on auf den anthro­po­lo­gi­schen Ansatz. Mit sei­nem Haupt­werk Der Mensch wand­te sich Geh­len blei­bend den empi­ri­schen Ver­hal­tens­wis­sen­schaf­ten zu (Sozio­lo­gie, Psy­cho­lo­gie, Bio­lo­gie). Als spe­zi­fisch mensch­lich erkann­te er ein bio­lo­gisch nicht ein­deu­tig fest­ge­leg­tes, intel­li­gen­tes Han­deln. An die Stel­le sche­ma­ti­scher Abläu­fe im Tier­ver­hal­ten trat die kul­tu­rel­le For­mung, mit der ein bio­lo­gi­sches »Män­gel­we­sen« sei­ne natür­li­chen Umwel­ten gestal­tet – der homo faber.
Mit die­ser anthro­po­lo­gi­schen Grund­la­ge gewann Geh­len ein ande­res, posi­ti­ve­res Ver­ständ­nis von »Insti­tu­tio­nen« als Frey­er (oder die Mar­xis­ten). Als ver­selb­stän­dig­te, zu Gewohn­hei­ten geron­ne­ne und über­dau­ern­de For­men des Han­delns ent­las­ten sie von Grund­satz­ent­schei­dun­gen und wid­men sich in unauf­fäl­li­ger Wei­se Grund­be­dürf­nis­sen, wie der Kom­mu­ni­ka­ti­on, Fort­pflan­zung, Ver­tei­di­gung, Bil­dung oder Ernäh­rung (»Hin­ter­grunds­er­fül­lung«). »Auf der einen Sei­te wer­den in die­sen Insti­tu­tio­nen die Zwe­cke des Lebens gemein­sam ange­faßt und betrie­ben, auf der ande­ren Sei­te ori­en­tie­ren sich die Men­schen in ihnen zu end­gül­ti­gen Bestimmt­hei­ten des Tuns und Las­sens, mit dem außer­or­dent­li­chen Gewinn der Sta­bi­li­sie­rung auch des Innen­le­bens.« Kei­nes­falls also engen Insti­tu­tio­nen uns nur ein, bedrü­cken sie, wenn­gleich durch ihr »Ethos« for­dernd, regu­lie­rend, dis­zi­pli­nie­rend. Im Gegen­teil: Sie set­zen Ener­gien für ande­re Moti­ve als blo­ße Exis­tenz­fris­tung frei, sind die Vor­aus­set­zun­gen für kul­tu­rel­le Höher­ent­wick­lung und Per­sön­lich­keits­bil­dung. »Die Ent­frem­dung, das ist die Freiheit.«

Als Pro­fes­sor der Sozio­lo­gie an der Ver­wal­tungs­hoch­schu­le Spey­er hat­te Geh­len seit 1947 Gele­gen­heit für zahl­rei­che empi­ri­sche und his­to­ri­sche Stu­di­en. Sie führ­ten ihm die pre­kä­re Lage der Gegen­wart vor Augen. Sie sei ver­wun­det vom Unter­gang der alten Insti­tu­tio­nen: Bei »geschicht­li­chen Kata­stro­phen, bei Revo­lu­tio­nen oder Zusam­men­brü­chen von Staats­ge­bil­den oder Gesell­schafts­ord­nun­gen oder gan­zen Kul­tu­ren, auch bei gewalt­sa­mer Inter­ven­ti­on aggres­si­ver Kul­tu­ren in fried­li­che­re«, kam es zu Kata­stro­phen, die sich seit 1789 »ja nur wie Gip­fel auf einer dau­ern­den, unun­ter­bro­che­nen Bewe­gung« abzeich­ne­ten, deren explo­si­ver Kern die Eman­zi­pa­ti­on des kri­ti­schen Bewußt­seins von den Insti­tu­tio­nen sei. Kühl dia­gnos­ti­zier­te er die sub­jek­ti­ven Fol­ge­schä­den, (die »Pro­ble­me der Spät­kul­tur«) auf­grund der Ver­flüs­si­gung des Selbst­ver­ständ­li­chen: über­stei­ger­te Ich­ver­haf­tung, emo­tio­na­le Ver­for­mun­gen, Ver­hal­tens­un­si­cher­heit durch Ver­lust des Außen­hal­tes, mora­li­sche Über­for­de­rung durch per­ma­nen­te Ent­schei­dungs­zu­mu­tun­gen und aus­blei­ben­de Sus­pen­die­rung der Sinn­fra­ge. Ein Heil­mit­tel dage­gen feh­le, denn nur aus Nut­zen­kal­kül ent­stün­den kei­ne wirk­sa­men neu­en Insti­tu­tio­nen mehr, bes­ten­falls Ver­ei­ne und Orga­ni­sa­tio­nen, die irgend­wann wie­der, bei feh­len­der Zweck­erfül­lung, in sich zusammensinken.
Doch kam Geh­len, unter dem Ein­druck der sta­bi­len Lage der Bun­des­re­pu­blik, deren Kon­flik­te lan­ge Zeit aus­schließ­lich außen­po­li­ti­scher Natur gewe­sen waren, auch zu Ein­sich­ten in gegen­steu­ern­de Kräf­te. 1956 sprach er von »unum­kehr­ba­ren Ent­wick­lun­gen« im Gesamt­ge­fü­ge moder­ner Gesell­schaf­ten und von »Patt­si­tua­tio­nen« im Sozia­len. »Die Welt ist durch die indus­tri­ell-tech­nisch-sozia­le Appa­ra­tur in unvor­her­seh­ba­rer Wei­se ver­än­dert wor­den, und der Mensch macht die erstaun­te Ent­de­ckung, daß die­se Appa­ra­tur selbst unver­än­der­bar gewor­den ist.« Geh­len schie­nen jetzt die vor­han­de­nen Insti­tu­tio­nen nahe­zu unab­hän­gig von instru­men­tel­ler Kri­tik zu arbei­ten. Und er reich­te 1961 die The­se von der »Kris­tal­li­sa­ti­on« nach. Der Kata­log der Welt­an­schau­un­gen sei durch­ge­blät­tert, eine prin­zi­pi­ell neue Welt­sicht auf Pro­ble­me unwahr­schein­lich. Nur im prak­ti­schen Detail sei noch so etwas wie Fort­schritt mög­lich. Der­ge­stalt fror Geh­len die Geschich­te auf einem hohen Niveau ein und ver­wies damit die frei­schwe­ben­de Intel­li­genz ins Glas­per­len­spiel. Doch die Anti­the­se for­mier­te sich bereits und begann wenig spä­ter ihren ent­schlos­se­nen »Marsch durch die Insti­tu­tio­nen« (Rudi Dutschke).
Der radi­ka­len Stu­den­ten- und Intel­lek­tu­el­len­be­we­gung der spä­ten Sech­zi­ger (die Geh­len in Aachen an der TH erleb­te) ver­dan­ken wir Geh­lens best­ge­schrie­be­nes und poli­tischs­tes Buch, das sein Lebens-The­ma »Mensch und Insti­tu­tio­nen« bün­dig in den uni­ver­sal­ge­schicht­li­chen Ver­gleich ethi­scher und mora­li­scher Grund­ty­pen ein­bringt. Dabei erör­ter­te er ein­ge­hend den Staat als Insti­tu­ti­on, »des­sen Sinn … nur als ratio­nal orga­ni­sier­te Selbst­er­hal­tung eines geschicht­lich zustan­de­ge­kom­me­nen Zusam­men­hangs von Ter­ri­to­ri­um und Bevöl­ke­rung bestimmt wer­den kann.« Für den Staat gilt wie für jede Insti­tu­ti­on, daß er im Lau­fe der Geschich­te immer mehr und neue Auf­ga­ben in sich auf­ge­so­gen hat, des­sen neu­zeit­lich wich­tigs­te die »Neu­tra­li­sa­ti­ons­ebe­ne gesell­schaft­li­cher Kon­flik­te« ist. Die­se Auf­ga­ben über­la­ger­ten all­mäh­lich sei­ne Sicher­heits­funk­tio­nen und bedeu­te­ten unser Tage »die Aus­lie­fe­rung der staat­li­chen Ent­schlie­ßun­gen an die Bedin­gun­gen des Wirt­schaf­tens schlecht­hin«. Dar­über gin­ge der ihm wesent­li­che Herr­schafts­cha­rak­ter immer mehr ver­lo­ren, er ver­lie­re sei­ne Sou­ve­rä­ni­tät an die gesell­schaft­li­chen Kräfte.

Als vor­läu­fig letz­te Stu­fe der staat­li­chen Ent­mach­tung (Deutsch­land vor­ne­weg) wer­de das ursprüng­li­che Ethos, sich gegen inne­re wie äuße­re Fein­de zu behaup­ten, durch ein dem Fami­li­en­ethos ent­nom­me­nes Ver­hal­ten ver­drängt, das nur noch auf Wohl­fahrt und Ver­stän­di­gung abzie­le. Immer­hin ent­deck­te Geh­len selbst im gigan­ti­schen Sys­tem des Wohl­fahrts­staa­tes noch gewis­se Sta­bi­li­sie­rungs- und Ord­nungs­leis­tun­gen, die frei­lich kei­ner­lei Tugen­den sei­ner Bür­ger und Bediens­te­ten (wie Loya­li­tät oder Leis­tungs­be­reit­schaft) mehr aus sich her­vor­brin­gen, da er, der Staat, nicht mehr über einen »Selbst­wert im Dasein« verfüge.
»Der Mensch in der wis­sen­schaft­li­chen Zivi­li­sa­ti­on« war ein Vor­trag des gera­de, 1961, von Ham­burg nach Müns­ter beru­fe­nen Sozio­lo­gen Hel­mut Schelsky (1912–1984) über­schrie­ben, der in der Druck­fas­sung gera­de mal vier­zig Sei­ten umfaßt und trotz­dem einen ziem­li­chen Wir­bel aus­lös­te. Wie bei Frey­er und Geh­len geht es bei Schelsky um die Ver­selb­stän­di­gung der mensch­li­chen Tätig­keit, die die mensch­li­che Auto­no­mie nicht nur bedro­he, viel­mehr in ein Abhän­gig­keits­ver­hält­nis ver­wan­delt habe. »In der tech­ni­schen Zivi­li­sa­ti­on tritt der Mensch sich selbst als wis­sen­schaft­li­che Erfin­dung und tech­ni­sche Arbeit gegen­über.« Produktions‑, Orga­ni­sa­ti­ons- und Human­tech­ni­ken for­mier­ten sich zur einer »uni­ver­sal gewor­de­nen Tech­nik« mit immer neu­en Sach­ge­setz­lich­kei­ten, die wie­der­um nur tech­nisch-wis­sen­schaft­lich hand­hab­bar wären. Einen grund­sätz­li­chen Aus­weg gibt es nach Schelsky nicht mehr. »Der Mensch ist den Zwän­gen unter­wor­fen, die er selbst als sein Wesen und als sei­ne Welt produziert.«
Aus die­sen Über­le­gun­gen fol­gert Schelsky pro­vo­kant die Zer­set­zung der demo­kra­ti­schen Herr­schaft. Auch der Staat müs­se sich den in den Sachen und Tat­be­stän­den lie­gen­den Zwän­gen beu­gen; Poli­tik im Sin­ne einer nor­ma­ti­ven Wil­lens­bil­dung fal­le aus. »Hier herrscht nie­mand mehr, son­dern hier läuft eine Appa­ra­tur, die sach­ge­mäß bedient sein will«, wenn­gleich sich die Ver­tre­ter der Grup­pen­in­ter­es­sen in den par­la­men­ta­ri­schen Gre­mi­en auch hef­tig dage­gen sträub­ten. »Gegen­über dem Staat als einem tech­ni­schen Kör­per wird die klas­si­sche Auf­fas­sung der Demo­kra­tie als einem Gemein­we­sen, des­sen Poli­tik vom Wil­len des Vol­kes abhängt, immer mehr zu einer Illu­si­on.« Die Mei­nungs­bil­dung selbst wer­de mit­tels »Mei­nungs­for­schung, Infor­ma­ti­on, Pro­pa­gan­da und Publi­zis­tik … zu einem mani­pu­lier­ba­ren Pro­duk­ti­ons­vor­gang«, in dem die ver­nünf­ti­ge Urteils­bil­dung unter­gin­ge. Die Gesin­nungs­mo­ti­ve wür­den zu Erklä­run­gen und Ideo­lo­gien des­sen ver­kom­men, was ohne­hin gesche­he – mit dem Ergeb­nis einer Ent­po­li­ti­sie­rung der Basis.
Drei poli­ti­sche Lager muß­ten sich gekränkt füh­len: das bür­ger­lich-kul­tur­kri­ti­sche, dem Tech­nik immer noch als etwas der »Kul­tur« Unter­le­ge­nes, mehr oder weni­ger Inhu­ma­nes galt; das libe­ra­le und sozi­al­de­mo­kra­ti­sche, das sein Frei­heits­pa­thos in Fra­ge gestellt sah, zu dem auch die Vor­stel­lung gehör­te, daß man sich der Tech­nik und den Tech­ni­ken nach Belie­ben als Werk­zeug bedie­nen könn­te, um poli­ti­sche Ideen und Plä­ne zu rea­li­sie­ren, und ein alt­kon­ser­va­ti­ves, das sich den Staat als einen über dem gesell­schaft­lich-indus­tri­el­len Pro­zeß ste­hen­den Sou­ve­rän dach­te oder wünsch­te. Was aller­dings die Kri­tik durch­wegs nicht beach­te­te, war Schelskys Ein­schrän­kung, er gebe einen in der All­tags­wirk­lich­keit nicht oder wenigs­tens noch nicht voll­stän­dig erreich­ten Zustand wieder.

Die­se posi­ti­vis­ti­sche Vari­an­te vom Abster­ben des Staa­tes und sei­ner Ablö­sung durch eine Exper­to­kra­tie befrem­de­te also die meis­ten Leser, was Schelsky wohl beab­sich­tigt hat­te. Daß Poli­ti­ker nur noch das Bewußt­sein der Bevöl­ke­rung mani­pu­lier­ten, wäh­rend das Getrie­be ein­fach wei­ter­lie­fe und nur Sach­ent­schei­dun­gen gefällt wür­den, war selbst für Kon­ser­va­ti­ve des Bösen zuviel. Mög­lich ist ja auch der Umkehr­ge­dan­ke – daß für Sach­zwang aus­ge­ge­ben wird, was poli­tisch-vol­un­t­a­ris­tisch ange­strebt wird. Schelsky ahn­te vor allem die Atta­cke der Gut­men­schen vor­aus. Aus dem Abstand eines hal­ben Jahr­hun­derts klingt fol­gen­der, von ihm vor­weg­ge­nom­me­ner Ein­wand fast visio­när: »Ich bin davon über­zeugt, daß sich mit der tech­ni­schen Zivi­li­sa­ti­on auch die­se abs­trak­te Form der Huma­ni­tät, die Ideo­lo­gie, daß der gan­ze Mensch im Mit­tel­punkt aller Din­ge zu ste­hen habe, als glo­ba­le Über­zeu­gung über die Erde ver­brei­ten wird … die Doku­men­ta­ti­on einer neu­en Selbst­ent­frem­dung des Men­schen, die mit der wis­sen­schaft­li­chen Zivi­li­sa­ti­on in die Welt getre­ten ist.«
Schelsky hielt in die­sem Vor­trag drei Optio­nen einer neu­en »Meta­phy­sik«, das heißt einer For­mu­lie­rung und Beant­wor­tung der Sinn­fra­ge, als Reak­ti­on auf die Über­le­gen­heit der ver­wis­sen­schaft­lich­ten Zivi­li­sa­ti­on für nicht unwahr­schein­lich. Er nann­te sie Solip­sis­mus (ein reli­giö­ses Ver­hal­ten, das sich ganz auf den Trä­ger­kreis beschränkt), Nihi­lis­mus (eine in Wort und Tat geäu­ßer­te Ver­nei­nung des tech­ni­schen Ver­hält­nis­ses zur Welt, eine Art neu­es Ere­mi­ten­tum) und die Dau­er­re­fle­xi­on der Gebil­de­ten über den Sinn unse­res Zeit­al­ters. Daß sich die letz­te­re frei­lich zu einer Art Flä­chen­brand ent­wi­ckeln wür­de, war damals wenig glaubhaft.
Der Jurist Ernst Forst­hoff (1902–1974) hat­te sich schon als Kom­men­ta­tor zum Grund­ge­setz einen Namen gemacht (und 1938 ein Fun­da­men­tal­werk über die staat­li­che Daseins­vor­sor­ge ver­faßt), ehe er begann, in diver­sen rechts­so­zio­lo­gi­schen, rechts­his­to­ri­schen und ver­fas­sungs­recht­li­chen Auf­sät­zen die neu­ar­ti­ge Situa­ti­on der jun­gen Bun­des­re­pu­blik zu über­den­ken. 1971 zog er sei­ne Über­le­gun­gen in einem Buch Staat und Indus­trie­ge­sell­schaft elo­quent zusam­men, des­sen Haupt­ge­dan­ke lau­tet: »Man muß, was die poli­ti­sche Kon­sis­tenz des Staa­tes angeht, völ­lig umler­nen.« So sei der Staat der Bun­des­re­pu­blik nicht mehr der »geis­ti­gen Dar­stel­lung eines Kon­kret-All­ge­mei­nen«, das heißt eines all­ge­mei­nen, auf das Gemein­wohl bezo­ge­nen Wil­lens und Inter­es­ses fähig. Par­la­ment und Regie­rung wären nur noch ein Spie­gel gesell­schaft­li­cher Kräf­te und Par­tei­kon­stel­la­tio­nen. Fer­ner wür­den die Grund­rech­te, einst kon­zi­piert als Abwehr gegen Über­grif­fe des Staa­tes gegen den ein­zel­nen Bür­ger, nun als ein Wert­sys­tem ver­stan­den, das Gewähr­leis­tungs­an­sprü­che gegen den Staat beinhal­te, die zudem noch stän­di­ger Aus­deu­tung offen­lä­gen. Aus »einem Rechts­in­stru­ment poli­ti­scher Ord­nung«, so Forst­hoff, sei die Ver­fas­sung in ein Sozi­al­pro­gramm ver­wan­delt wor­den, das sozia­le Gerech­tig­keit her­stel­len sol­le. Auch das Ver­fas­sungs­ge­richt maße sich immer mehr ursprüng­lich hoheit­li­che Akte an, und Ver­wal­tungs­tä­tig­keit mache den grö­ße­ren Teil staat­li­cher Tätig­keit aus. Infol­ge all die­ser struk­tu­rel­len Ver­schie­bun­gen ver­schlin­gen sich Staat und Gesell­schaft heu­te unun­ter­scheid­bar inein­an­der. »Gleich­wohl stellt sich die Bun­des­re­pu­blik als ein sta­bi­les Staats­we­sen dar … Die Sta­bi­li­tät des Staa­tes der Indus­trie­ge­sell­schaft ist von ande­rer Art«:

Die Ver­flech­tung von Staat und Gesell­schaft schlie­ße näm­lich ihr gegen­sei­ti­ges Auf­ein­an­der­ver­wie­sen­sein ein. Der Staat, der Daseins­vor­sor­ge und sozia­le Umver­tei­lung garan­tie­ren muß, ist auf einen rei­bungs­lo­sen tech­nisch-öko­no­mi­schen Ablauf bedacht, der Voll­be­schäf­ti­gung und Wachs­tum – deren Nicht­er­rei­chen signa­li­sie­re den neu­en Ernst­fall des Poli­ti­schen – her­vor­brin­gen möch­te; umge­kehrt bedür­fe die Wirt­schaft eines kal­ku­lier­ba­ren, infor­mier­ten und funk­tio­nie­ren­den Staats­ap­pa­ra­tes. Ein kom­ple­men­tä­res Zweck­bünd­nis der Koope­ra­ti­on ist also zwi­schen ihnen ent­stan­den. Sicht­bars­ter poli­ti­scher Aus­druck dafür sei das Ende der Welt­an­schau­ungs­par­tei­en; Gegen­sät­ze wür­den in den Par­tei­en selbst und nicht mehr auf der par­la­men­ta­ri­schen Büh­ne gere­gelt. Dort herr­sche neu­er­dings ein Sta­tus quo, in dem die Par­tei­en zu Staats­or­ga­nen mutiert wären. Die poli­ti­schen Ent­schei­dun­gen, die anstün­den, wären ohne­hin kaum noch herr­schaft­li­cher Natur, son­dern Sach­ent­schei­dun­gen. Der Wäh­ler ver­hal­te sich kon­form zu die­sen ver­än­der­ten Bedin­gun­gen. Sein ein­zi­ger poli­ti­scher Akt sei die Wahl, wo er aber, mein­te Forst­hoff, nicht nach genu­in poli­ti­schen Über­zeu­gun­gen sei­ne Stim­me abge­be, son­dern nach ego­is­ti­schen Inter­es­sen. Ansons­ten über­las­se er das Poli­ti­sche sich selbst, ihm feh­le auch jede Sach­kennt­nis, um mit­zu­mi­schen. Und er habe ein ele­men­ta­res Bedürf­nis nach der Effi­zi­enz des Staa­tes, die ihm sei­ne Min­dest­exis­tenz garan­tiert. Dafür habe er sei­ne libe­ra­le Frei­heit, die in Distanz zum Staat bestün­de, geop­fert. Auch hier zog Forst­hoff mit­hin ein still­schwei­gen­des Abkom­men ans Licht.
Die hier kurz por­trä­tier­ten Autoren (denen ande­re hin­zu­ge­fügt wer­den könn­ten) rich­te­ten sich an ein all­ge­mein und poli­tisch inter­es­sier­tes Lai­en­pu­bli­kum. Ohne Mis­si­ons­ab­sich­ten, dafür in einer glän­zen­den deut­schen Pro­sa, ver­such­ten sie eine neue Wirk­lich­keit von Staat und Gesell­schaft auf dem Hin­ter­grund einer Kom­ple­xie­rung und Ver­selb­stän­di­gung von Wirt­schaft und Tech­nik zu beschrei­ben. Sie spra­chen von gestör­ter Reprä­sen­ta­tiv­de­mo­kra­tie, Abbau der staat­li­chen Herr­schaft, Undurch­schau­bar­keit des Gesamt­sys­tems, Auto­ri­tät der Fach­leu­te, Über­macht der Tech­no­struk­tur und beur­teil­ten alle­samt unse­re Hand­lungs­op­tio­nen nüch­tern­skep­tisch. Zu einer fai­ren Beur­tei­lung die­ses Quar­tetts und sei­ner The­sen gehör­te nun zwei­er­lei. Ers­tens ein tie­fe­res Ein­ge­hen auf die vor­ge­tra­ge­nen Argu­men­te, beson­ders zum Cha­rak­ter der moder­nen Tech­nik. Zwei­tens müß­ten die­se auf die gegen­wär­ti­ge Welt bezo­gen wer­den, die sich tech­nisch, sozio­lo­gisch und poli­tisch in den letz­ten vier bis fünf Jahr­zehn­ten in unge­heu­rem Aus­maß wei­ter­ent­wi­ckelt hat. Zumin­dest hät­ten sie es ver­dient, wie­der auf­merk­sam zur Kennt­nis genom­men zu werden.

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