Der von Wippermann zugrundegelegte Begriff von „Faschismus” ist so umfassend, daß nicht nur Bewegungen und Regime, die im genauen Sinn als „faschistisch” bezeichnet werden können, sondern auch Militär- und Entwicklungsdiktaturen und alle möglichen Formen „bürgerlicher” Herrschaft darunter fallen. Wippermanns Absicht ist denunziatorisch, aber es bleibt durchaus eine legitime Frage, ob nicht viele Regime der Vergangenheit etwas wie einen faschistischen Kern hatten.
Maurice Bardèche, einer der wenigen bekennenden Faschisten der Nachkriegszeit, äußerte, daß Faschismus im wesentlichen zu definieren sei, als Versuch, jene autoritäre Form, die die Völker in Notzeiten willig akzeptierten, auf Dauer zu stellen: “Die faschistischen Parteien nehmen an, daß der gewohnheitsmäßige Mißbrauch der Freiheit die gefährlichen Perioden heraufbeschwört, in denen Unabhängigkeit und Leben der Nation in Gefahr geraten. Sie glauben, daß man der Wiederkehr dieser Krisenzeiten vorbeugen kann, wenn man im Normalfall eine gewisse nationale Disziplin hinnimmt.”
Die Schwäche der Interpretationen von Wippermann wie Bardèche liegt darin, daß sie den Faschismus zu formal bestimmen und die Bedeutung der mobilisierenden Idee unterschätzen. Die faschistische Idee ging der faschistischen Bewegung vor, und sie entstand nicht erst in Reaktion auf Krieg und Revolution. 1936 erschien in der französischen Zeitschrift Combat ein Artikel mit der Überschrift „Faschismus 1913”, der auf einen Faschismus avant la lettre Bezug nahm, und fast zur gleichen Zeit notierte Pierre Drieu la Rochelle, einer der bedeutendsten faschistischen Intellektuellen, über den ideologischen Wandel der Vorkriegszeit: „Wenn man sich auf jene Epoche bezieht, bemerkt man, daß einige Elemente der faschistischen Atmosphäre in Frankreich schon um 1913 vereinigt waren, bevor das anderswo der Fall war. Es gab junge Männer, aus verschiedenen Gesellschaftsklassen, die die Liebe zum Heroismus und zur Gewalt anzog und die davon träumten, das zu bekämpfen, was sie das Übel auf beiden Seiten nannten, Kapitalismus und parlamentarischen Sozialismus, und davon, das Gute beider Seiten zu übernehmen. … Schon war die Verbindung von Nationalismus und Sozialismus entworfen.”
Frankreich hat nach der großen Revolution hundert Jahre als politisches Laboratorium Europas gedient. Hier wurden alle möglichen Verfassungen erprobt, hier entfaltete sich zuerst das Spektrum Linke-Mitte-Rechte, Sozialisten / Demokraten – Liberale – Konservative / Royalisten, hier war es aber auch früh wieder in Frage gestellt worden. Das hatte mit der Dynamik des revolutionären Nationalismus zu tun, der zur Grundlage eines neuen gesellschaftlichen Konsens wurde, aber bei Übernahme durch die Mitte und die Rechte seinen revolutionären Charakter abstreifte, das hatte aber auch zu tun mit der Fraktionierung der Linken. So weit diese am jakobinischen Erbe – und das bedeutete: am Nationalismus – festhielt, sah sie sich zunehmend dem Druck neuer Strömungen – vor allem des Marxismus – ausgesetzt, die diese Orientierung ablehnten. In der Folge entstand eine „reaktionäre Linke” (Marc Crapez), die die Ideen von 1793, den Egalitarismus der Sansculotten, aber auch eine Vorstellung von „Patriotismus” verteidigte, die jedem Ausländer, zumal Deutschen und Juden, mißtrauisch oder voller Haß gegenüberstand. Das erklärt weiter die Bereitschaft zur Aufnahme von Rassenlehre und Antisemitismus in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und die Entstehung jener Strömungen der französischen Linken, die sich als „sozialistisch” und „nationalistisch” bezeichneten.
Ihr berühmtester Vertreter war der Schriftsteller Maurice Barrès, der in seinen Scènes et Doctrines du Nationalisme so etwas wie die ideologische Grundlage des Präfaschismus schuf: mit seiner Rede von der Illusion der Individualität und der objektiven Bindung an „die Erde und die Toten”, vom Determinismus, den das für jeden bedeutet und dem moralischen Gesetz, das daraus folgt, von der Ablehnung des Parlamentarismus bis zur Forderung nach einer plebiszitären, kollektiven Ordnung, die die Massen erfaßt und auf die künftigen Kämpfe gegen innere und äußere Feinde vorbereitet. Im „Programm von Nancy”, das Barrès 1889 aufstellte, um seine Kandidatur für die Parlamentswahl zu betreiben, hieß es: „Das opportunistische System hat seit zwanzig Jahren den Juden, den Fremden, den Kosmopoliten bevorzugt. Die, die diesen kriminellen Irrtum verteidigen, nennen als Grund, daß diese Exoten Frankreich Elemente der Energie zuschießen. … Hier die große Wahrheit: Die Elemente der Energie, derer die französische Gesellschaft tatsächlich bedarf, findet sie in sich selbst, indem sie die Ganz-Enterbten, die Ganz-Armen, bevorzugt, indem sie ihnen mehr gibt als Wohlstand und Berufsausbildung. – Man sieht, wie der Nationalismus notwendig den Sozialismus erzeugt.”
Barrès war schon ein Vertreter der „faschistischen Kultur”, die am Ende des 19. Jahrhunderts Einfluß auf den Zeitgeist gewann, mit dem Dekadenzempfinden und dem Widerwillen gegen Positivismus, Liberalismus, Demokratie, dem Kult des Lebens und der Virilität. Es gab andere in anderen Ländern, die ähnlich dachten wie er, Anhänger einer neuartigen Massenpolitik, Befürworter der Verschmelzung von Nationalismus und Sozialismus, Darwinisten, Verächter von Bürgerlichkeit, Christentum und überlieferter Moral. Aber nirgends war der Boden in gleichem Maße bereitet wie in Frankreich, einem gedemütigten Land, dessen Volk die Niederlage von 1871 nicht vergessen konnte und jenem General Boulanger zugejubelt hatte, von dem Jakobiner ebenso wie Royalisten einen Putsch und die Revanche erwarteten. Barrès kandidierte als „Boulangist” und war mit seinem nationalen Sozialismus, sozialen Nationalismus, dem, was kommen würde, ungleich näher als der Agitator Edouard Drumond, Katholik und populärer Antisemit, oder die monarchistische Action Française (AF), die sonst bevorzugt in die Ahnenreihe des Faschismus aufgenommen werden.
Es gab in der AF zwar für kurze Zeit – in der Hochphase der Dreyfus-Affäre – ein Interesse am Bündnis mit der „reaktionären Linken”, aber ihr Chefideologe, Charles Maurras, blieb immer viel zu sehr den Leitideen des alten Frankreich verhaftet, um tatsächlich einen solchen Pakt zu schließen. Anders verhält es sich mit der Gegenseite, den Grenzgängern des französischen Sozialismus, etwa Georges Sorel, Edouard Berth oder Georges Valois. Valois kam aus den Reihen der Anarchisten, bevor er zu Maurras übertrat, den er nach dem Ersten Weltkrieg verließ, um die erste faschistische Bewegung Frankreichs zu gründen, den Faisceau; er wandte sich aber rasch von dieser Weltanschauung ab und kehrte in die Linke zurück, ging nach der Besetzung durch die Wehrmacht in die Résistance an, geriet in Gefangenschaft und starb 1943 im KZ Buchenwald. Berth blieb für die Versuchung ganz unempfindlich, während viele seinen Lehrer Sorel zu den Kirchenvätern des Faschismus rechnen. Der Grund liegt vor allem in seiner Verachtung der modernen Demokratie, der Hochschätzung irrationaler Antriebe im Seelenleben der Masse, der vorwärtstreibenden Kraft spontan entstehender, kollektiver Mythen, der Erziehung des Revolutionärs durch die „direkte Aktion”. Aber das Auftreten des Faschismus als Bewegung hat Sorel nicht mehr erlebt und die letzte Fassung seiner berühmten Réflexions sur la violence Lenin gewidmet. Immerhin schrieb er an seinen Freund Vilfredo Pareto über den jungen italienischen Arbeiterführer Mussolini: „Das ist kein Sozialist in bürgerlicher Sauce … Er hat etwas gefunden, was es in meinen Büchern nicht gibt: die Verbindung des Nationalen und des Sozialen.”
Abbildungen von oben nach unten: Barrès nach einem Porträt von Jacques-Emile Blanche, 1891; “Der Staat der Dreyfus-Affäre”, Zeichnung aus der Zeitschrift Le Rire, 1893; Armbinde der Camelots du roi, der Schutztruppe der AF.