Dabei verwundert weniger die Aggressivität der polnischen Einwände gegen eine deutsche Dokumentations- und Gedenkstätte, die sich mit der Jahrhundertkatastrophe der Austreibung der Deutschen aus dem amputierten östlichen Viertel des Reiches und den Siedlungsgebieten in Mittel- und Osteuropa befaßt, als vielmehr das Ausmaß, in dem die starre polnische Verweigerung jeglichen Unrechtsbewußtseins den innenpolitischen Diskurs in der Bundesrepublik bestimmt.
Warschau werde eine deutsche Gedenkstätte gegen Flucht und Vertreibung nur akzeptieren, wenn BdV-Präsidentin Steinbach dabei keine Rolle spiele, verlautbarte der designierte polnische Ministerpräsident Donald Tusk nach seinem Wahlsieg. Auch die neue Warschauer Regierung kann sich auf eine Vielzahl hilfswilliger deutscher Sekundanten verlassen. Noch vor Tusk verkündete Bundestagsvizepräsident Wolfgang Thierse sofort nach der Einigung der Großen Koalition auf die Realisierung des Zentrums auch schon, der BdV oder wenigstens Frau Steinbach selbst solle nicht in den Gremien mitwirken – wegen „massiver Vorbehalte im Ausland”. Der zweite prominente Polen-Lobbyist der Sozialdemokratie, Markus Meckel, sprach dem Bund der Vertriebenen die Qualifikation ab, beim Thema Vertreibung mitzureden. Für die Grünen stieß Antje Vollmer in dasselbe Horn.
Grotesk an dieser Debatte ist schon, daß sie überhaupt stattfindet. Weniger wegen der „Kaltschnäuzigkeit”, die eine „sonst in Betroffenheitsritualen schwelgende Linke gegenüber Leidtragenden des eigenen Volkes” zeigt, wie die FAZ kommentierte. Daß Thierse und Meckel, der Vorsitzende der deutsch-polnischen Parlamentariergruppe, Warschau de facto ein Vetorecht für innerdeutsche Personalien einräumten, machte es Unionspolitikern einfach, diese Ungeheuerlichkeit zurückzuweisen und sich so mit einer baren Selbstverständlichkeit als Beschützer der Heimatvertriebenen aufzuspielen.
Die im vergangenen Jahrzehnt in Polen gepflegte antideutsche Hysterie galt vor allem der Abwehr von im Vorfeld des polnischen EU-Beitritts erhobenen Ansprüchen deutscher Vertriebener auf Rückgabe ihres Eigentums. Die vom Vorsitzenden der Landsmannschaft Schlesien Rudi Pawelka initiierte „Preußische Treuhand” traf einen wunden Punkt: die Rechtswidrigkeit kollektiver Enteignungen nach ethnischen Kriterien. Solange Deutschland seine Ostgebiete nicht formell abtrat – was es eben deswegen bis heute nicht getan hat -, war Polen der Adressat für Entschädigungsforderungen, die die „Treuhand” vor europäischen Gerichten erheben wollte. Polnische Scharfmacher konterten mit astronomischen „Reparations”-Forderungen und der „Polnischen Treuhand”; die Kampagne hatte einigen Anteil am Aufstieg der Kaczynski-Brüder an die Staatsspitze.
Weder die rot-grüne Bundesregierung noch die CDU-Opposition unterstützte den Rechtsstandpunkt der „Treuhand” und nutzte die Gelegenheit, Polen vor dem EU-Beitritt in die historische und rechtliche Verantwortung zu nehmen. Die im Dezember 2006 eingereichten Klagen werden daher absehbar erfolglos bleiben. Auch Erika Steinbach distanzierte sich von Anfang an von der „Treuhand” und machte sich de facto die polnische Forderung nach einer innerdeutschen Entschädigungslösung zu eigen. Auch eine „Null-Lösung” sei dabei vorstellbar, erklärte sie im Herbst 2004 und stellte den Verband vor eine Zerreißprobe; Pawelka forderte erfolglos ihren Rücktritt und wurde kaltgestellt.
Der Unwille zur Opposition entspricht der Tradition des Bundes der Vertriebenen, der in diesem Oktober sein fünfzigjähriges Bestehen feierte. Nach den Brandtschen Ostverträgen hatte der BdV sich ganz der Union an den Hals geworfen. In der Ära Kohl waren die alternden Heimatvertriebenen eine fest gebuchte und mit bescheidenen Subventionen und Sonntagsreden zufriedene Wählerklientel.
Erika Steinbach übernahm den Verband parallel zum Regierungswechsel zu Rot-Grün. Die in der Opposition wie üblich intensivierte rhetorische Wählerpflege ihrer Partei gab ihr Rückenwind; zugleich umwarb sie die rot-grüne Prominenz. Sie habe den Verband erst „salonfähig” gemacht, übertrieb kürzlich ihr Stellvertreter Albrecht Schläger, und „von rechtsradikalen Elementen befreit”. Gemeint ist da wohl Paul Latussek, das letzte nicht CDU-fromme Präsidiumsmitglied.
Zu keinem Zeitpunkt hat Steinbach eine geschichtspolitische Position bezogen, die einen Gegenpol zum politisch-korrekten Zeitgeist bilden könnte. Auch nicht mit dem von ihr initiierten „Zentrum gegen Vertreibungen”. Als sie im September 2000 die gleichnamige Stiftung ins Leben rief, erfreute sich dieses allgemeinen Wohlwollens.
Gleichwohl stellte der notorische Markus Meckel im Juli 2003 einen unter anderem von Thierse, Rita Süssmuth und Günter Grass unterzeichneten „Appell der 65″ vor, der das Zentrum als „vorwiegend nationales Projekt” bezeichnete, das die „Gefahr des Aufrechnens” berge, und für eine „europäische” Gedenklösung plädierte. Das waren haltlose Vorwürfe, denn das Steinbach-Konzept war absolut „politisch korrekt”: Weder fehlte der Kontext anderer Vertreibungen des zwanzigsten Jahrhunderts noch die Einbeziehung polnischer und tschechischer Sichtweisen, und auch das Dogma, die Schuld liege allein bei Hitler und den Nationalsozialisten, wird weder von Steinbach noch vom Konzept ihres Zentrums in Frage gestellt, das dem zuwiderlaufende historische Linien bewußt ausblendet. Das Konzept habe „keine Defizite”, erklärte denn auch Ralph Giordano, der in Steinbachs Stiftung mitwirkte.
Jenseits der Oder wurde die Vorlage dankbar aufgenommen. Man dürfe die Geschichte nicht umschreiben und „Täter” nicht zu „Opfern” machen, war die archaische Kollektivschuld-Logik der von hysterischen Boulevardtönen begleiteten Kampagne. Die Staatspräsidenten Deutschlands und Polens, Rau und Kwasniewski, machten sich die Polemik Meckels gegen den Standort Berlin in ihrer „Danziger Erklärung” vom Oktober 2003 zu eigen. Meckel wollte das Zentrum in Breslau ansiedeln, der polnische Ministerpräsident Miller in Sarajewo, die Bürgerplattform des heutigen Regierungschefs Tusk in Warschau unter Aufsicht des Europarats. Kulturstaatsministerin Christina Weiss initiierte ein „europäisches Netzwerk” gegen Vertreibungen, das den deutschen Vertriebenen die Gedenkmöglichkeit auch räumlich entwinden sollte, sich wegen Desinteresses der Vertreiberstaaten aber als Totgeburt erwies. Die Union hatte ein billiges Wahlkampfthema: Es ging letztlich nur um den Ort einer Einrichtung, über deren Inhalt es keinen echten Dissens gab.
Der Versuch, das Gedenken an das eigenen Landsleuten widerfahrene Unrecht anderen zu übertragen, noch dazu den Staaten, in deren Namen das Unrecht begangen wurde, dürfte ein ziemlich einmaliger deutscher Sonderweg sein. Die Art der Auseinandersetzung mit der Vertreibung der Deutschen belegt einmal mehr, daß in Deutschland nur die politische Linke geschichtspolitische Ziele verfolgt: Ihr geht es um die Festschreibung der NS-Bewältigung als archimedischem Punkt des deutschen Geschichtsbildes. Unionspolitikern liegt hingegen vor allem an Wählertaktik und Klientelpflege. Frau Steinbach beugte sich bereitwillig beiden Zwängen, um ihr Projekt in staatlicher Anbindung realisieren zu können. Eine selbstbestimmte Deutung der Vergangenheit steht nach wie vor aus.