SEZESSION: Jürgen Habermas spricht in seinem Buch Strukturwandel der Öffentlichkeit von der »quasi-öffentlichen Meinung« als einer Auffassung, die von einer medial dominierenden Minderheit als eigentliche öffentliche Meinung dargestellt und durchgedrückt werde. Hat sich in diesem medial-politischen Komplex etwas getan?
KEPPLINGER: Bei dieser »quasi-öffentlichen Meinung« hat es sich, wenn man der Begrifflichkeit von Habermas folgt, um die Meinungen gehandelt, die vor Sarrazin dominiert haben. Sie waren, wie man heute sieht, medial gemacht und kamen auch noch in den rituellen Stellungnahmen zu Sarrazin von Bundeskanzlerin Merkel und Bundespräsident Wulff zum Ausdruck. Im Laufe der Wochen hat sich dann für viele überraschend herausgestellt, daß ein Großteil der in der Öffentlichkeit bedeutsamen Personen die Meinung von Sarrazin teilt und sich nicht mehr mundtot machen lässt. Als Konsequenz daraus hat ein erheblicher Wandel des Meinungsklimas stattgefunden, der auch breitere Schichten erreicht hat.
SEZESSION: Ganz besonders kann man dies an der Person Frank Schirrmachers nachvollziehen. Er hat ja zunächst in einer sehr staatstragenden Art versucht, mit seinem Artikel über »Sarrazins drittes Buch« einen medialen Todesstoß zu setzen. Drei Wochen später ist er dann umgeschwenkt und hat sich an die Spitze der Befürworter von Sarrazin gestellt. Wie bewerten Sie dieses Verhalten?
KEPPLINGER: Das war schon außerordentlich geschickt. Es war nicht unbedingt moralisch, aber es war klug. Schirrmacher hat höchstwahrscheinlich auf die ausgesprochen kritischen Stellungnahmen zu seiner ursprünglichen Äußerung aus dem eigenen Haus reagiert. Es gab ja mehrere prominente Autoren der FAZ, die sich ganz deutlich für Sarrazin bzw. gegen seine Anprangerung ausgesprochen haben. Dies richtete sich unausgesprochen aber erkennbar auch gegen Schirrmachers Verurteilung Sarrazins mit zum Teil fragwürdigen Argumenten. Dieser Kritik hat er sich geschickt angepaßt.
SEZESSION: Das bedeutet doch nichts anderes, als daß Meinungsfreiheit im Fall Sarrazins auch etwas mit Marktmacht – in diesem Fall 1,3 Millionen verkaufte Bücher – zu tun hat und dass dem Schirrmacherschen Todesstoß ausgeliefert bleibt, wer über diese Power nicht verfügt.
KEPPLINGER: Der Verkauf von 1,3 Millionen Büchern ist vor allem ein Indikator für die Meinung im politisch interessierten Bürgertum. Es geht also nicht um Marktmacht, sondern um Meinungsmacht, und dabei spielt es keine Rolle, ob alle Käufer das Buch gelesen haben. Die meisten haben es vermutlich nicht gekauft, um sich überzeugen zu lassen, sondern weil sie überzeugt waren. Mit einem solchen Buch ändert man keine Meinungen, man verschafft ihnen öffentliche Geltung, und wer nicht mit einer schweigenden Mehrheit rechnen kann, hat in der Tat keine Chance gegen einen einflußreichen Publizisten, der für zahlreiche Kollegen spricht.
SEZESSION: Sehen Sie Einschränkungen der Meinungsfreiheit in Deutschland, die am Fall Sarrazin deutlich werden?
KEPPLINGER: Man muß zwei Arten von Meinungsfreiheit unterscheiden. Das eine ist die juristische verbriefte Meinungsfreiheit, und juristisch gesehen hat es keine Einschränkung gegeben – auch im Fall Sarrazin nicht. Auf der anderen Seite steht die sozial-psychologische Meinungsfreiheit, die Freiheit, die eigene Meinung zu äußern, ohne das Risiko einzugehen, dass man mundtot gemacht oder moralisch diskreditiert und gesellschaftlich isoliert wird. In diesem zweiten Sinn war die Meinungsfreiheit eindeutig eingeschränkt. Diesen Sachverhalt muß man aber in einem breiteren Kontext sehen. Es gibt zum Glück immer Dinge, die man nicht-öffentlich sagen kann. Wenn alle alles sagen dürften, was sie denken, wäre die Gesellschaft unerfreulicher, als sie ist. Die entscheidende Frage lautet, wo ist die Grenze zur Intoleranz gegen Einzelne auf der einen und zur Beschädigung der Gesellschaft auf der anderen Seite? Das gilt auch für diesen Konflikt. Zwar gehen sowohl die Anhänger als auch die Gegner von Sarrazin noch immer ein gewisses persönliches Risiko ein, wenn sie sich für oder gegen ihn und seine Thesen aussprechen. Ganz risikolos ist das auch heute nicht. Allerdings hat sich die Diskussion deutlich in den Freiraum zwischen den erwähnten Extremen verlagert.
SEZESSION: Welche Konflikte und Sachdebatten sollten mit der Skandalisierung von Sarrazin unterdrückt werden?
KEPPLINGER: Im Hintergrund steht seit mehr als 20 Jahren die Frage: Wie sollen wir Deutschen mit Ausländern umgehen? Dabei geht es vor allem um das grüne Projekt einer multikulturellen Gesellschaft. Im Laufe der Jahrzehnte hat sich herausgestellt, daß dieses Projekt – zumindest in der Weise, wie es von den Grünen gedacht wurde – nicht realisierbar ist. Es hat schon einmal einen Versuch gegeben, eine Gegenposition dazu aufzubauen: Das war die positive Idee der deutschen Leitkultur, die damals noch in einem Sturm der Entrüstung untergegangen ist. Nachdem Sarrazin die negative Idee des Verschwindens dieser Kultur formulierte, hat sich das Blatt gewendet. Im Hintergrund steht also die Frage, ob die Deutschen eine Nation mit einer eigenständigen Kultur sind und bleiben sollen, oder ob sie besser in irgendeiner Welt- oder Europakultur aufgehen sollten. Damit verbunden ist natürlich das Selbstwertgefühl derer, die die Idee der multikulturellen Gesellschaft vertreten und kritisiert haben. Nicht zuletzt um das geht es und dies erklärt einen Teil der Leidenschaft, mit der die Thematik diskutiert wird.
SEZESSION: Hat Sarrazin Tabus gebrochen, die sinnvoll waren?
KEPPLINGER: Ich kann das nicht erkennen. Es hat gravierende Tabus bis zur Verlogenheit gegeben. Fast jeder hat Freunde und Bekannte, die man als Gegner der Thesen von Sarrazin betrachten kann, die aber ihre Kinder nicht in öffentlichen Schulen geschickt haben, damit sie nicht in Klassen mit einem hohen Ausländeranteil gehen müssen. Diese Art von Verlogenheit ist inzwischen nicht mehr so ohne Weiteres in der Öffentlichkeit zu vermitteln. Das halte ich für einen Fortschritt.
SEZESSION: Das heißt, Sarrazin hat keine Tabus gebrochen? Er hat beispielsweise nicht irgendwelche Migrantengruppen diffamiert?
KEPPLINGER: Er hat Tabus gebrochen, aber er hat keine gebrochen, die es wert gewesen wären, daß man sie bewahrt hätte. Er hat das Tabu gebrochen, daß man über bestimmte Mißstände, die es beim Blick auf die Ausländer gibt, einfach nicht gesprochen hat. Dieses Tabu hat er gebrochen und das ist sein Verdienst.
SEZESSION: Sie sind also der Meinung, daß dies vor Sarrazin noch nicht sagbar war und diejenigen, die es gesagt haben, gegen eine »Mauer aus Kautschuk« gerannt sind. Ist Sarrazin insofern der erste, der diese Mauer übersprungen hat?
KEPPLINGER: Es war schon eher eine Mauer aus Beton als aus Kautschuk. Der bereits erwähnte Friedrich Merz, der den Begriff der Leitkultur in die Öffentlichkeit gebracht hat, wurde auch aus dem eigenen Lager schroff zurückgewiesen. Das geschah unter anderem mit der rhetorischen Frage, was denn das sei, die deutsche Leitkultur, und mit höhnischen Hinweisen auf alberne Testfragen. Sarrazin ist es gelungen, diese Abwehrhaltung zu durchbrechen. Warum? Dafür gibt es vor allem zwei Gründe. Der eine lautet: Es ist in der Öffentlichkeit einfacher, mit negativen Stellungnahmen Resonanz zu erzeugen als mit positiven. Sarrazin hat es negativ formuliert, Merz hat es positiv formuliert. Der andere Grund ist: Seit Merz sind die Fehlschläge der ursprünglichen Idee einer multikulturellen Gesellschaft noch offensichtlicher geworden als sie es damals schon waren. Es gab mehrere andere Autoren und Autorinnen, die das vor Sarrazin dokumentiert und dadurch seinem Buch den Weg bereitet haben. Sein Buch hat dann den letzten Impuls gegeben.
SEZESSION: Sie betonen, Sarrazin habe seine Aussagen negativ formuliert. Ist er denn nicht sogar einen Schritt weiter gegangen und hat selbst einen Skandal provoziert, etwa mit seinen Äußerungen zu »Kopftuchmädchen« im Interview mit Lettre International?
KEPPLINGER: Das hat er wohl getan. Ich vermute auch, daß das seine Absicht war. Es war aber sicher nicht seine Absicht, einen derartig massiven Konflikt zu produzieren, dem er dann ausgesetzt wurde, denn eine solche Auseinandersetzung hinterläßt persönliche Verletzungen, die sich Außenstehende kaum vorstellen können. Aber er hat die Provokation gesucht.
SEZESSION: In einem Aufsatz schreiben Sie, aus dem Skandal um Sarrazin habe sich ein publizistischer Konflikt entwickelt, weil es genug Befürworter seiner Thesen gegeben habe. Ich möchte diesen publizistischen Konflikt in Frage stellen, da der Druck auf die Sarrazins – jetzt ja auch auf seine Frau – trotz der gescheiterten Verbannung anscheinend unerträglich hoch ist.
KEPPLINGER: Ich denke schon, daß es sich im engeren, also im sozialwissenschaftlichen Sinn, nicht um einen Skandal handelte. Bei einem Skandal gibt es immer nur eine Front, wie etwa bei der Skandalisierung der Spenden an die CDU. Bei solchen Skandalen existiert nahezu niemand, der die Gegenposition vertritt, also den Angeprangerten entschlossen verteidigt. Bei Sarrazin existieren auch heute noch zwei etwa gleich starke Lager. Natürlich kämpfen beide nicht immer mit feinen und fairen Mitteln. Diese Auseinandersetzung ist auch noch lange nicht zu Ende. Ich vermute, sie wird mindestens ein bis zwei Jahre weitergehen, wobei nicht immer der Name Sarrazin fallen muss. Aber über den Kern, um den es geht, wird man auch aus persönlichen und politischen Motiven noch jahrelang streiten.
SEZESSION: Wo sehen Sie unterdrücktes Potential, das sich in den nächsten Jahren artikulieren könnte?
KEPPLINGER: Typisch für solche Auseinandersetzungen ist folgendes: Auf beiden Seiten eines Konfliktes in der Gesellschaft passieren in der Regel Dinge, die man nicht billigen kann. Deshalb versuchen beide Seiten solche Sachverhalte zu instrumentalisieren, um den Gegner ins Unrecht setzen. Das wird auch in der Sarrazin-Debatte in Zukunft so sein. Es wird Leute geben, die versuchen, Sarrazin ins Unrecht zu setzen, indem man z. B. seiner Frau vorwirft, sie sei eine schlechte Lehrerin. Und es wird Leute geben, die die Angreifer ins Unrecht setzen, indem sie ihnen unwahre Behauptungen oder eigene Verfehlungen nachweisen.
SEZESSION: Wir bewegen uns also nicht auf der Ebene einer rationalen Argumentation.
KEPPLINGER: Es geht nicht vorrangig um eine rationale, sondern um eine rhetorische Argumentation. Es geht hier nicht um die – im wissenschaftlichen Sinn – Erkenntnis von Realität. Es geht im politischen Sinne um die Interpretation von Realität im Interesse der eigenen Zielsetzungen. Dazu wird, weniger mit dem Ziel der Erkenntnis als der Machtgewinnung, alles instrumentalisiert, was den eigenen Zielen dient.
SEZESSION: Ist es in dieser politischen Öffentlichkeit heutzutage überhaupt noch möglich, außerhalb des Modus des Skandals noch etwas Neues zu sagen?
KEPPLINGER: Das ist möglich. Sie können beliebig viel Neues sagen, aber Sie werden keine Resonanz finden, und darauf kommt es an. Nur derjenige, der in der Lage ist, etwas Neues so zu sagen, dass es auch die Emotionen bewegt, hat eine Chance auf bemerkenswerte Resonanz in der Öffentlichkeit. Eine rein rationale Auseinandersetzung ist in der Öffentlichkeit nicht anschlussfähig. Das hängt damit zusammen, dass das Interesse der Masse des Publikums an den öffentlichen Angelegenheiten viel zu gering ist – und ich spreche da von etwa 80 Prozent der Bevölkerung. Es kommt also darauf an, einen emotionalen Kern zu schaffen, der die Aufmerksamkeit auch der an sich Desinteressierten einige Zeit wachhält. Das kann man bedauern, es ist aber so.
SEZESSION: Also braucht es schon den Skandal, um massenwirksam neue Themen anzusprechen.
KEPPLINGER: Es muß nicht immer ein Skandal sein. Es kann natürlich auch ein überragender Erfolg sein. Nehmen wir an, es gebe einen großartigen Durchbruch bei der Krebsbekämpfung. Das wäre ein sehr emotionsträchtiger Hoffnungsträger und würde vermutlich in der Öffentlichkeit auch über längere Zeit Aufmerksamkeit finden – eben weil es emotional besetzt ist. Es können negative oder positive Emotionen sein. Wir leben aber in einer Gesellschaft, in der negative Emotionen häufiger sind.
SEZESSION: Was sagt dies über die Ordnung des Diskurses in Deutschland aus?
KEPPLINGER: Man muß sich von der Idee lösen, daß es in der breiteren Öffentlichkeit einen rein rationalen Diskurs über wichtige Fragen der Gesellschaft gibt. Diesen Diskurs hat es nie gegeben und wird es nie geben. Die Mehrheit der Bevölkerung lässt sich nur geistig mobilisieren, indem man starke emotionale Anreize setzt. Dies kann man empirisch klar belegen: Der Anteil der Bevölkerung, der sich regelmäßig und einigermaßen umfangreich über die öffentlichen Angelegenheiten informiert, liegt etwa zwischen fünf und 20 Prozent. Wer die große Menge erreichen will, muß emotionales Potential schaffen.
SEZESSION: Wie schätzen Sie dann die Aufgabe der Intellektuellen ein?
KEPPLINGER: Gelegentlich geraten Wissenschaftler in das Zentrum solcher Konflikte und Skandale, ohne daß sie das eigentlich beabsichtigt haben. Dagegen kann man nichts machen. Derjenige, der das erlebt hat, wird sich nicht danach drängen, weil die Erfahrungen, die man dann macht, sehr unerfreulich sind. Auf der anderen Seite können und müssen Wissenschaftler ihre Ergebnisse so präsentieren, daß sie von anderen Akteuren in der Öffentlichkeit, etwa Journalisten oder Politikern, aufgegriffen werden können. Denen steht es natürlich frei, die Ergebnisse so zuzuspitzen, daß sie damit die Öffentlichkeit erreichen. Ich möchte schon trennen zwischen der Rolle der Wissenschaftler, denen das nicht zusteht, und der Rolle der Intellektuellen im weitesten Sinne, zu denen ich auch viele Journalisten und Politiker rechne. Ihnen ist die emotionale Zuspitzung natürlich freigestellt und sie sind gut beraten sind, wenn sie so vorgehen.
Herr Prof. Kepplinger, vielen Dank für das Gespräch!
Hans Mathias Kepplinger, geboren 1943, ist seit 1982 Professor für Empirische Kommunikationswissenschaft an der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz.