»Judenfeindliche Ressentiments spielen seit Niederschrift des Koran im 7. Jahrhundert und dem Massaker gegen die Juden von Medina im Jahre 628 durch Mohammed im Islam eine fundamentale Rolle. Bis heute kann dieser fundamentale Judenhaß reaktiviert und instrumentalisiert werden. Ein Beispiel dafür liefert die im Gaza-Streifen herrschende Organisation Hamas in ihrer Charta … Der Vortrag beschäftigt sich mit neuen Formen von Judenhaß und Feindschaft gegenüber Israel, mit den Zusammenhängen zwischen beiden und ihren Auswirkungen auf die Stimmung in Europa.«Muhammet Balaban, Sprecher der »Kommission Islam und Moscheen in Essen«, fühlte sich durch diesen Text »persönlich beleidigt«. Er sah darin »Angriffe auf den Propheten, den Koran und auf alle Muslime«. In einem Brief an den Oberbürgermeister protestierte Balaban, ein wohl-habender türkischer Geschäftsmann und einflußreicher Bürger der Stadt Essen, gegen die geplante Veranstaltung. Dabei erwies er sich als versiert im Vokabular der Stigmatisierung: »Es ist inakzeptabel, daß diese Einrichtung (die Alte Synagoge – Ch.N.) Mißtrauen, Haß, Anfeindung und Unfrieden in unserer Gesellschaft sät«. Balaban sorgte selbst dafür, daß eine öffentliche Debatte entstand, indem er seinen Protestbrief an dreizehn weitere Empfänger (darunter die Ministerpräsidentin des Bundeslandes Nordrhein-Westfalen) und an die Medien verteilte. Er war sich dabei der politischen Macht seines »Integrationsrates« bewußt, wie er in einem Interview im vergangenen Jahr erläuterte: »Wir haben mit der Konstellation, wie sie der Integrationsrat jetzt aufweist, nach über zwanzig Jahren erstmals die Möglichkeit, über die beratende Funktion hinaus einen Einfluß auf die politischen Entscheidungen in dieser Stadt zu nehmen.«In diesem Sinne war offenbar auch sein Brief gemeint. Über meinen Vortrag hinaus – zu dem Herr Balaban eingeladen war, aber nicht erschien – versuchte er Einfluß auf die künftige Arbeit der Alten Synagoge zu nehmen. Es sei »schon seit Jahren zu beobachten«, fand er, »daß die Alte Synagoge sich immer mehr von ihrer eigentlichen Mission entfernt und islamfeindlichen Tendenzen enorm Anschub leistet«. Gegenüber der Westdeutschen All-gemeinen Zeitung fügte er hinzu, ihm sei bekannt, daß man in einer Demokratie über alles diskutieren dürfe, auch über den Islam, doch nur an Orten, die ihm dafür passend – und offenbar für Deutschland typisch – scheinen: »Das kann meinetwegen in einer Kneipe geschehen, aber nicht in einer öffentlichen Einrichtung wie der Alten Synagoge, die ich mit meinen Steuergeldern mitfinanziere.«All dies sei hier in Ausführlichkeit zitiert, weil es den Mechanismus eines Mißverständnisses offenbart: Meinungsfreiheit kann man offenbar so verstehen, daß sie ein Instrumentarium darstellt, sich selbst größtmögliche Freiheit der Äußerung zu verschaffen und zugleich die anderen mundtot zu machen. Dieser Ansatz funktioniert besonders gut in einem Land wie Deutschland, durch das die Schatten der Schuldgefühle geistern, die tiefsitzende Furcht vor einem falschen Wort, die Straf-Exerzitien der political correctness. Balaban spielt virtuos mit den Ängsten der deutschen Lokalpolitiker, an die er sich in seinem Schreiben wendet, in zunehmend drohender Attitüde. Am Ende seines Briefes stellt er Forderungen – etwa die, der Oberbürgermeister der Stadt Essen solle »dafür Sorge tragen, daß die Leitung der Alten Synagoge ihre Haltung zu der Gesamtverantwortung in unserer Stadt und Gesellschaft ändert«.
Wirklich zeigte der Essener Oberbürgermeister den bekannten Re대ex und stimmte Balaban zu, auch er in einem offenen Brief: »Daher erwarte ich, daß die neue Leitung der Alten Synagoge sich den Integrationsgedanken deutlich mehr zu eigen macht, als dies bisher der Fall war.« Und nun ereignete sich das eigentlich Erstaunliche: Die Leitung der Alten Synagoge gab nicht nach. Sie verteidigte ihr Recht auf eine dem muslimischen Funktionär unliebsame Meinungsäußerung. Sorgte dafür, daß der Vortrag stattfinden konnte, nach Lage der Dinge unter Polizeischutz. Ihre Zivilcourage fand breite Unterstützung in der Bevölkerung, durch Leserbriefe an die Medien und Zuschriften an den Oberbürgermeister, der seinen Angriff gegen die Alte Synagoge rasch zurückzog – das erfreulichste Ergebnis dieser Affäre.
Doch in vielen Fällen sind die Versuche muslimischer Vertreter, den in Europa seit Jahrhunderten üblichen Diskurs der Meinungen zu verhindern, von Erfolg gekrönt. Das Zurückweichen vor ihren Schweige-Geboten wurde von vielen Politikern und »Meinungsführern« verinnerlicht wie etwas Selbstverständliches. Es handelt sich hierbei nicht um Politik (wie auch mein Vortrag in Essen kein politischer Vortrag war). Wachsende Bereiche des literarischen, philosophischen oder kulturellen Erbes werden auf verschämte Weise verschwiegen und aus der Rezeption ausgeblendet, weil ihre bloße Erwähnung den Unmut der neuen Meinungswächter hervorrufen könnte. So wird, um ein eklatantes Beispiel zu nennen, Voltaires berühmtes Stück Le Fanatisme ou Mahomet le Prophète heute nirgendwo mehr in Europa aufgeführt, auch nicht im deutschen Sprachraum, obwohl die deutsche Fassung des Stückes von Goethe stammt und nach Ansicht der wenigen Literaturwissenschaftler, die sie zu erwähnen wagen, aus mehreren Gründen von größtem kulturhistorischen Interesse ist.
Die Unterdrückung von Voltaires Mahomet-Stück ist ein besonders beschämender Fall europäischer Kultur-Verleugnung. Diese Verleugnung geschieht unter dem Druck neuer Tabus, die verstohlen an die Stelle der alten getreten sind. Bereits im 18. Jahrhundert, kurz nach seiner Uraufführung 1741 im französischen Lille, wurde Voltaires Stück zum ersten Mal verboten, da der hochbetagte Kardinal de Fleury eine antikatholische Parabel darin wähnte. Papst Benedikt XIV., an den sich Voltaire um Hilfe wandte, erteilte dem Dichter seinen Segen und ermöglichte – zumal Voltaire einen das Stück preisenden päpstlichen Brief vorwies (dessen Echtheit allerdings umstritten ist) – Aufführungen in katholischen Ländern. Das Stück zu spielen, gehörte an den aufgeklärten Fürstenhöfen Europas bald zum guten Ton – gerade, weil es umstritten war und fast Opfer eines Zensurversuchs geworden wäre. Eine Aufführung des Voltaireschen Mahomet war ein Bekenntnis zur Freiheit der künstlerischen Äußerung, zur Freiheit des geschriebenen Wortes, kurz: zur Meinungsfreiheit in Europa. Caroline Friederike Neuber, die mit ihrer Schauspieltruppe an europäischen Höfen, sogar am Zarenhof in Petersburg, gastierte, hatte es um 1750 in ihrem Programm (wie man in ihrem Geburtshaus im thüringischen Reichenbach in dort ausgestellten Programmheften nachlesen kann). Was Voltaires Mahomet-Stück betrifft, waren die Fürsten des 18. Jahrhunderts toleranter als die »liberalen« Kulturpolitiker unserer Tage. Auch Goethe unternahm seine Übersetzung ins Deutsche 1799 auf ausdrücklichen Wunsch seines Fürsten, des Herzogs Carl August von Sachsen-Weimar. Dieser hatte Voltaires Schauspiel 1775 als Prinz in Paris gesehen und erhoffte sich von ihm außerordentliche Wirkungen, sogar, wie er in einem Brief an Karl Ludwig von Knebel schrieb, »eine Epoche in der Verbesserung des deutschen Geschmacks.«
Goethe widmete sich der Übersetzung des Stückes mit großer Sorgfalt. Er konsultierte unter anderem Wilhelm von Humboldt und Schiller, von letzterem existieren detaillierte Hinweise zur Übertragung der Voltaireschen Alexandriner in adäquate deutsche Verse. Die Zeitgenossen sahen im Mahomet »das Meisterstück eines großen Dichters«, wie aus einer Besprechung der deutschen Aufführung in den Berlinischen Nachrichten von Staats- und gelehrten Sachen vom 26. Oktober 1802 hervorgeht, ähnlich äußerte sich Schiller. Auch Goethes Übersetzung ins Deutsche wurde als bedeutende literarische Leistung gewürdigt: »… die Verdeutschung«, schrieb ein zeitgenössischer Rezensent, »verkündigt die Hand eines Meisters«. Von dieser Übersetzung ist heute möglichst selten die Rede: Sie stellt die Legende vom Islam-Freund Goethe in Frage, als der er sich angeblich im West-Östlichen Divan zu erkennen gibt, und stört die gängige Einvernahme des deutschen Klassikers für einen politisch erwünschten Versöhnungskontext. Indessen hat Goethe das Mahomet-Schauspiel Voltaires mit größter Gewissenhaftigkeit übersetzt, um seine aufklärerische Kritik am Propheten des Islam in aller Klarheit wirken zu lassen. Goethes deutsche Fassung wurde erstmals im Januar 1800 am Weimarer Hoftheater aufgeführt, im Beisein des Hofes und vieler Geistesgrößen jener Tage. Auch Herder und seine Frau Karoline waren unter den Zuschauern, Karoline beschrieb Freunden in einem Brief die Wirkung des Stückes: »Der Fanatismus ist ja wohl die Krankheit, an der wir und unsere Zeit krank darniederliegen!« Daran hat sich nichts geändert, der Fanatismus, der uns heute bedroht, hat gegenüber dem damaligen eher zugenommen. Geschwunden ist jedoch die intellektuelle Widerstandskraft Europas. An eine Aufführung von Voltaires umstrittenem, vor zweihundert-fünfzig Jahren der Zensur abgerungenem Drama Mahomet ist im heutigen Europa nicht mehr zu denken. Der Umstand, daß der Prophet Mohammed in Voltaires Stück auftritt, sich in seiner zutiefst menschlichen Fragwürdigkeit zu erkennen gibt und von den anderen Figuren kontrovers reflektiert und behandelt wird, reicht aus, um muslimische Verbots-Prozeduren in Gang zu setzen. Es ist Usus geworden, gilt als »politische Vernunft« und Zeichen »politischer Kultur«, diesem Druck nachzugeben. Oder noch »vernünftiger«: ihn durch vorauseilenden Gehorsam erst gar nicht aufkommen zu lassen. In einem Vortrag des deutschen Literaturwissenschaftlers Albert Meier, gehalten an der Universität Kiel im Jahre 2008, findet sich der für heutige europäische Intellektuelle bezeichnende Gedankengang: »Mahomet ist damit (durch sein Verhalten in Voltaires Stück – Ch.N.) bis auf die Knochen diskreditiert – und es läßt sich verstehen, daß das Stück heute nicht mehr aufgeführt wird.« Nun, es ist eben die Frage, die alles entscheidende Frage, ob sich das wirklich »verstehen« läßt. Was würde »Verständnis« in diesem Fall bedeuten? Verständnis für die Annullierung der Aufklärung, für die Preisgabe europäischer Kultur, einer mit Gewalt drohenden Gruppe zuliebe. Wenn orthodoxe Muslime behaupten, Voltaires Stück beleidige ihre Gefühle – sind wir inzwischen soweit von unserer eigenen Identität abgekommen, daß wir uns ihr verschwommenes Beleidigtsein, ihre fragwürdige Vergöttlichung des Propheten zu eigen machen?
Wer Voltaires Mahomet-Drama heute liest, staunt über seine Offenheit, zugleich über seine menschliche Delikatesse. Es ist kein blasphemisches Stück, enthält keinerlei »Gotteslästerung«, keine generellen Angriffe auf Glauben oder gläubige Menschen. Es ist keine atheistische Generalattacke wie heute üblich. Es ist auch weder polemisch noch im Ton aggressiv, vor allem nicht im Deutschen, in Goethes eher behutsamer Übertragung. Es kritisiert den Mann Mohammed, bezweifelt seine Heiligkeit, stellt den selbsterklärten Propheten als politischen Pragmatiker dar. Einzelne Figuren finden vernichtende Worte für den »Täuscher«, »Verräter«, »Lügner«, doch auch Mohammed kommt ausführlich zu Wort, um sein Vorgehen zu rechtfertigen. Ein vielschichtiger, auf historischen Ereignissen beruhender, psychologisch plausibler Text.
Anläßlich des 300. Geburtstags Voltaires im Jahre 1994 versuchte der französische Regisseur Henry Loichemol das Mahomet-Stück in Genf aufzuführen. Genf ist ein symbolischer Ort: Voltaire lebte rund zwanzig Jahre im kleinen Ferney (das sich heute zu seinen Ehren Ferney-Voltaire nennt) auf dem Gebiet der Genfer Republik. Dort war er vor den Nachstellungen seiner aristokratischen und klerikalen Feinde sicher. Damals. Heute jedoch leben in Genf wie in vielen weiteren europäischen Städten – anders als zu Voltaires Zeiten – Zehntausende Muslime. Die Republik Genf würde dem Autor des Mahomet kein Asyl mehr bieten können, um ihn vor seinen neuen Zensoren zu schützen.
Sie kann es sich noch nicht einmal mehr leisten, eins seiner Stücke zu spielen: Die Aufführung zu Voltaires dreihundertstem Geburtstag wurde zu Fall gebracht, durch Intervention muslimischer Interessengruppen, in der heute üblichen Allianz mit europäischen Intellektuellen. Vor allem europäische Linke fühlen sich aufgerufen, die religiösen Empfindlichkeiten der muslimischen Orthodoxie zu verteidigen – dieselben Linken, denen, was das Christentum betrifft, keine Kritik scharf, keine Enthüllung un-barmherzig genug sein kann. Zunächst exponierte sich Tariq Ramadan, ein von europäischen Institutionen mit Stipendien und Beraterverträgen geförderter Experte für islamische Positionierung in westlichen Gesellschaften. Geübt im Umgang mit Medien und Öffentlichkeit, hütete er sich, das Stück selbst oder den Autor Voltaire anzugreifen. Er politisierte die Aufführung, drohte mit denkbaren Reaktionen: »Man kann Mahomet nicht aufführen und von diesem explosiven Kontext absehen.« Ihm assistierte der Sprecher der Genfer Moschee, Hanif Gouardini: »Diese Aufführung kann Haß hervorrufen. Sollten uns doch die vorhergehenden Affären lehren, daß die freie Meinungsäußerung im Dienste der Liebe zwischen den Menschen stehen sollte.«