zwei Mal in seinem Heimatort Rothberg/Rosia. Ich bin dabei seinem wunden Punkt sehr nahe gekommen und schrieb für die April-Ausgabe der Sezession ein ausführliches Autorenportrait: Schlattner – ein Lehrstück.
Wer studieren möchte, wie es aussieht, wenn ein Volk verschwindet, zurückflutet, nein: zurückwächst wie ein Gletscher, den sein Nährgebiet nicht mehr speist – der sollte nach Hermannstadt in Rumänien fahren. Es ist schön dort, wenn man sich abgefunden hat. Denn man geht durch eine deutsche Stadt, durch eine deutsche Kulisse, vorbildlich restauriert, durch den Krieg nicht zerstört, vergleichbar vielleicht mit Naumburg oder Heidelberg – Siebenbürger Sachsen jedoch trifft man nur noch an, wenn man sich mit ihnen verabredet oder einen jener wenigen Orte aufsucht, wo den Tag über ein paar von ihnen vorbeikommen: die Buchhandlung, die Volksgruppenvertretung, die Schule, ein Café.
Joachim Wittstock ist ein ruhiger, hochgebildeter, sehr behutsamer älterer Herr, der gründlich zuhört und antwortet. Er ist hartnäckig dort, wo es um die korrekte Darstellung des Geschehenen geht – ein Handwerker der Sprache, der mit jedem Aufsatz ein kompliziertes Mosaik pflastert, denn es geht verwickelt zu beim ewigen Ringkampf des Menschen mit dem Menschen, oder konkret für diesmal: beim Blick auf die bis zuletzt unversöhnlich gebliebenen Opfer des großen siebenbürgischen Schriftstellerprozesses von 1959. Wittstock, der selbst nicht involviert war, wägt ab, urteilt nicht, schildert bloß und reicht zwei Sonderdrucke aus seiner Feder zum Thema über den Tisch. Wie gut, mit ihm gesprochen zu haben, bevor man sich von Hermannstadt aus ins Harbachtal und nach Rothberg (rumänisch: Rosia) aufmacht.
In diesem deutschen Dorf ohne Deutsche hält der Gefängnispfarrer und Ortsgeistliche Eginald Schlattner jeden Sonntag einen völlig einsamen Gottesdienst, »um Gott zu trösten, und um mich selbst zu trösten«, die leeren Bänke dabei ausgelegt mit den schwarzen Schulter- und Kopftüchern der dörflichen Sonntagstracht, »von den auswandernden Bäuerinnen zurückgelassen, mißachtet, so, als müsse man sich dort, wohin man aufbrach, dafür schämen, daß man so bedeckt einmal selbstverständlich jeden Sonntag zur Kirche ging.« Schlattner predigt über den Ruf (»Gott zürnt nicht, wenn man dem Ruf nicht folgt, aber er ruft kein zweites Mal«) und über die Kompromißlosigkeit der Berufung, die einen ins Ungewisse, Neue hole. Dann über das Märchen vom Rattenfänger zu Hameln, der vor 800 Jahren die Kinder durch den Berg nach Siebenbürgen geführt habe; nun sei dieser Flötenton noch einmal erklungen, und zurück nach Deutschland sei alles Volk gezogen, nicht bloß die Kinder, auch die Eltern und Alten diesmal, von der Kirchenbank weg. »Wer hat gespielt und welches Stück ist erklungen?« Er, Schlattner, wisse es nicht.
Kaum aus der Kirche, ist Schlattner kein Pastor mehr. Er ist jetzt jener Schriftsteller und barocke Erzähler, dessentwegen Rothberg von Lesern und Rezensenten angesteuert wird: der Verfasser dreier Romane, in denen er Rechenschaft ablegt über sein mit Schicksal beladenes, in Schuld verstricktes Leben. Schlattner, 1933 geboren, wuchs in Fogarasch am Fuß der Karpaten auf, begann in den fünfziger Jahren ein Studium der Evangelischen Theologie in Klausenburg (Cluj), wechselte zu Mathematik und Hydrologie und gründete mit Kommilitonen Anfang 1957 einen Literaturkreis zur Förderung schriftstellerischer Leistungen der deutschen Volksgruppe.
Die ersten Aktivitäten dieses Kreises verliefen vielversprechend, es lasen Erwin Wittstock (der Vater des oben erwähnten Joachim Wittstock) und Alfred Meschendörfer – Autoren, die man entdecken kann, wenn man sich für den eigentümlichen Kulturkreis der Rumänendeutschen interessiert, angestoßen vielleicht durch die aus dem Banat stammende Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller. Der Staat aber, der dieser Selbstfindung einer wichtigen Volksgruppe für ein paar Jahre einen gewissen Raum ließ, schlug nach den Unruhen in Ungarn (1956) das Fenster wieder zu: Schlattner verschwand, und Ende 1957 erfuhr man, daß er in Kronstadt von der Securitate eingekerkert und der konspirativen Gruppenbildung beschuldigt worden sei.
In Kronstadt wurde Eginald Schlattner zunächst psychisch gebrochen und dann monatelang zu einer Figur aufgebaut, die in zwei Schauprozessen ihre Rolle spielen mußte. Im »Schwarze-Kirche-Prozeß« (November 1958) hatte er als Belastungszeuge auszusagen, im berühmteren »Schriftstellerprozeß« (September 1959) war er mitangeklagt und hatte die eigentlichen Zielpersonen dieser Säuberung zu beschuldigen. Zu Kerker und Zwangsarbeit nämlich wurden verurteilt die Schriftsteller Hans Bergel (15 Jahre), Wolf von Aichelburg (20 Jahre), Georg Scherg (20 Jahre), Andreas Birkner (25 Jahre) und Harald Siegmund (zehn Jahre).
Ihnen allen wurden Taten zur Last gelegt, die weder kriminell noch umstürzlerisch waren, sondern allenfalls Auslotungen des Sagbaren unter diktatorischem Regime oder bloß literarische Treffen und Gesprächsrunden. Die Anklage aber nagelte diese für jeden Autor selbstverständlichen Öffentlichkeits- und Schreibformen zu einem »Konspirationsblock« zusammen – unterstützt durch Aussagen Schlattners. Dieser Schauprozeß diente der Abschreckung, und Schlattner war nichts anderes als die weiße Billardkugel, mit deren Hilfe man die anderen, um die es eigentlich ging, ins Loch stieß.
Schlattner selbst wurde mit einer geringen Strafe belegt und kurz nach dem Prozeß entlassen, die anderen kamen zum Glück bis 1964 wieder frei. Er arbeitete nach seiner Entlassung in einer Ziegelfabrik und danach als Ingenieur. 1973 nahm er das Studium der Evangelischen Theologie wieder auf. Seither ist er als Pfarrer in seiner (nicht mehr vorhandenen) Gemeinde in Rothberg und als Seelsorger in rumänischen Gefängnissen eingesetzt. Mit dem Schreiben begann er Anfang der neunziger Jahre wieder.
Schlattner ist einer jener Autoren, die niederschreiben, was sie sagen müssen – um danach wieder zu verstummen. Der Erzählbogen der existentiellen Trilogie Schlattners erfaßt die Vorkriegsjahre nebst Infizierung der deutschen Volksgruppe durch den Herrenmenschen-Wahn, spannt sich über den Krieg und den Frontwechsel der Rumänen (bis hierher in Der geköpfte Hahn, 1998) und die Enteignung der Deutschen in Siebenbürgen und im Banat (Das Klavier im Nebel, 2005) und schließt mit Verhaftung, Verhören, Präparierung und Prozeß sowie den taumelnden Schritten des entlassenen Studenten, der als ein ganz anderer weiterleben muß (Rote Handschuhe, 2000).
Vielleicht ist die Zersetzung eines jungen Mannes durch Haft und Folter in einem Securitate-Kerker nie eindringlicher literarisch dargestellt worden als in Rote Handschuhe: Wie der Ich-Erzähler seine Verhaftung zunächst für einen Irrtum hält, wie er dabei bleibt, daß er nichts zu erzählen, geschweige denn zu gestehen hätte; wie er dann, nach Monaten der Haft, nach stundenlangen Verhören, nach Gesprächen mit anderen Gefangenen (die seit Jahren in sich nach dem Geständnis suchen, das man wohl von ihnen hören möchte) zusammenbricht – und endlich vermeint, entlang eines sozialistischen Deutungsrasters sich selbst auf die Spur zu kommen und den Staatsfeind in sich entdecken zu können: Das ist ebenso eindringlich, atemlos und beklemmend geschildert wie die Aussage nach Drehbuch im Schauprozeß.
Nach dem Ende dieser Farce wurde unter anderem der bereits erwähnte Hans Bergel nicht in die Freiheit entlassen (wie Schlattner), sondern für lange Jahre in Arbeitslager und Kerker verschleppt. Er hält daher Schlattners Schilderungen für läppisch, vergliche man sie mit dem, was es wirklich zu erleiden und durchzustehen gegolten habe in den Verhörmühlen der Securitate. Aus allem, was Schlattner schreibe, seien die privilegierten Bedingungen seiner Haft ablesbar. Bergel selbst hat in seinem Der Tanz in Ketten die Hölle der Haft, die Kunst der Zersetzungen, die Verästelungen des Verrats geschildert und in diesem autobiographisch aufgeladenen Buch Bilder geprägt, die man nicht mehr vergessen kann: Wenn Bergel es selbst war, der in kalten Katakomben Tage der Einzelhaft in knietiefem Wasser durchstand, dann hat er mehr ertragen, als ein Mensch gemeinhin ertragen kann – und dann hat er alles Recht, die Schilderungen Schlattners als ein Kratzen am Höllentor und Rote Handschuhe als selbststilisierende Verzeichnung der wahren Begebenheit abzutun.
Dies ändert aber nichts daran, daß Schlattner ein begnadeter Erzähler ist, ein Epiker von grandiosem Format, der nun einmal seine Geschichte erzählt – sie ist schlimm genug. Wie er in Der geköpfte Hahn seinen Roman um einen einzigen, entscheidenden Tag herum anordnet (den 23. August 1944, an dem Rumänien die Deutschen verriet und die Front wechselte) und in Rückblenden alles auf ein Entladungsfinale (zerbrechende Freundschaft, zerbrechende Front, zerbrechende Gewitterwand) hin komponiert: Das ist eine Kunst, die man nicht erlernen oder nachahmen kann.
»Kommen Sie herein, kommen Sie herein, hier wird erzählt, auf dem Balkan kann man noch erzählen«, ruft Eginald Schlattner den Besuchern zu, ebenso eitel wie selbstsicher, ebenso gastfreundlich wie voller spürbarer Lust auf ein Publikum. Schlattner weiß, daß die Rede auf seine Bücher kommen wird, auf seine großen Rechenschaftsberichte. Er zögert diesen Moment hinaus, er inszeniert diese Verzögerung geradezu, und man merkt, daß er dieses Thema scheut, weil er weiß, daß der Besucher unbequeme Fragen mitbringt und nicht nur Schlattner gelesen hat.
Während also zunächst einmal über dies und das berichtet, von dieser oder jener Begegnung erzählt wird, erscheint auf dem Altan eine orthodoxe Nonne. Sie ist zu Gast, liest die Brüder Karamasow in deutscher Übersetzung und tischt in k.u.k.-Manier auf: Grießknödelsuppe, Bohnentopf mit Wurst, Nußstollen, dazu Likör und Kaffee. Draußen wird derweil die Kutsche angespannt, ein Coupé, und während man fährt, winkt Schlattner (der Pfarrer, der Schriftsteller, das barocke Gemüt) den Leuten mit einem einzelnen roten Handschuh(!) zu. Wieder zurück, bezahlt der Gast den Kutscher, das geschieht alles ganz selbstverständlich. Es gibt Schwarztee mit Kümmel, Kaffee und Gebäck, man nimmt im Windfang Platz, und dann muß unausweichlich das Gespräch endlich auf die Bücher kommen, oder doch eigentlich nur auf Rote Handschuhe.
Darin, in dieser großen, autobiographischen Aufzeichnung und Rechtfertigung einer entsetzlichen Lebensphase, kommt Schlattner jener versöhnliche Humor abhanden, den er sonst nie verloren hat als Erzähler siebenbürgischen Schicksals dreier Jahrzehnte: Schlattner karikiert auf seltsam arrogante Art jene fünf Schriftsteller, die im Prozeß von 1959 auch aufgrund seiner erpreßten Aussage verurteilt worden waren.
Hans Bergel: Er, der große, stattliche Mann und Leistungssportler, erscheint als der kleine Mann »Hugo Hügel«, maßlos von sich selbst überzeugt, dem auf Lesereisen ständig ein paar junge Studentinnen am Arm hängen. Er wird von Schlattner halb als verkappter Nazi, halb als willfährig Angepaßter an das sozialistische Rumänien geschildert. Dabei war man einst befreundet, und es ist verbürgt, daß Bergel als eine Art Mentor dem jüngeren Schlattner eines Tages die versteckte Regimekritik in seinem Jugendbuch Fürst und Lautenschläger (1946, ausgezeichnet 1957) in allen Details auslegte.
Oder Harald Siegmund: Aus ihm – Pfarrer wie Schlattner – wird »Herwald Schönmund«, ein »gelernter Wortverdreher und gottbegnadeter Poet«, Verfasser einiger Sonette für den Hausgebrauch und etlicher Predigten, »wo weniger von Jesus Christus als von Gottfried Benn und Thomas Mann die Rede war«. Andreas Birkner erscheint unter dem Pseudonym Oinz Erler »als der sächsische Übermensch im Kirchenpelz«, und hinter Getz Schräg verbirgt sich Georg Scherg, dem es »in sechs Wochen gelang, einen Familienroman zu schreiben« – wird nichts Gescheites herausgekommen sein dabei.
Warum solche Backpfeifen, wozu dieser Hohn? Verblassen nicht die Kunst oder das Nichtkönnen eines Schriftstellers hinter seiner Verhaftung und Aburteilung, die allein aus dem Grund erfolgte, daß er schrieb? Muß man nachtreten, wenn doch endlich Ruhe eingekehrt ist und man selbst mit einem Bestseller (Rote Handschuhe liegt in zehn Auflagen und als Taschenbuch vor und ist verfilmt) den Blick einer ganzen Lesergeneration prägen kann? Kann man es den in dieser Hinsicht doppelt Unterlegenen (im Prozeß, in den Bestenlisten) verdenken, daß sie nach der Lektüre dieses Romans jede Versöhnung für obsolet, jeden Annäherungsversuch für gescheitert erklären?
Eginald Schlattner schwimmt, er versucht sich in ein paar seltsamen Erklärungen und Rechtfertigungen und desavouiert Bergel erneut: Verräter habe der ihn genannt, und das sei ein häßliches Wort. Und schon ist Rote Handschuhe aufgeschlagen, und Schlattner liest vor, um den Angriff abzuwehren: »Aber recht betrachtet ist der Verräter einer, der den Mut hat, sich von den Regeln und dem Druck seiner Gruppe freizumachen, manchmal sogar aus edlen Gründen.« Nicht er habe sich also bei Bergel, jener habe sich bei ihm zu entschuldigen.
Doch wofür? Und wozu überhaupt? Viel Zeit ist vergangen, und wäre der Spott in Rote Handschuhe nicht so offensichtlich und unnötig, kein Mensch würde diese alte Sache, bei der es wohl nur Verlierer gab, noch einmal aufrühren wollen. Überhaupt das Zitat eben – jetzt schlägt der Besucher auf: Schlattner habe an der falschen Stelle zu lesen aufgehört, denn der Mithäftling spreche noch weiter. »Junger Freund, du wirst es draußen schwer haben. Vorsicht! Keine unnötige Bewegung, kein Wort zuviel.« Warum er dies nicht beherzigt habe? Warum zuviel der unschönen, unnötigen, herablassenden Worte über Bergel, Scherg, Birkner und die andern? Hätte sein Roman etwas verloren, wenn er diese Stellen anders formuliert hätte? Zugeneigt, behütend, respektvoll? So aber habe sich Schlattner für seine Lesereisen in Deutschland mit Bergel einen hartnäckigen Verfolger eingebrockt, der aus der Zuhörerreihe heraus das Wort ergreife und seine Version der Geschichte erzähle!
»Es war meine Entscheidung!« Jetzt poltert Schlattner. Er sei hier der Schriftsteller, und man könne Bergel und ihn gar nicht vergleichen, weder literarisch noch persönlich, literarisch also auf gar keinen Fall – oder sei hier jemandem ein Buch aus der Feder Bergels bekannt, das verfilmt worden sei? – Widerspruch, erneut: als ob es darauf ankomme, als ob es plötzlich auf den Erfolg ankomme, wo es um Wahrheit, Perspektive und Versöhnung gehe!
Dann ist es still am Tisch, der Kaffee ist getrunken, der Tee ist kalt geworden, der Gesprächsfaden gerissen. Anknüpfungsversuch: Man habe sich vor der Fahrt nach Rumänien noch einmal mit dem Banater Schriftsteller Richard Wagner getroffen. Er habe, befragt nach seinen Kenntnissen der Causa Schlattner, kategorisch gesprochen: Auch er, Wagner, habe die Securitate kennengelernt und sei ein paar Tage lang verhört worden. Andere hätten länger eingesessen und seien mißhandelt worden. Dennoch sei es bei der Aushebung der von ihm mitinitiierten Banater Gruppe Mitte der siebziger Jahre nicht um Leben und Tod gegangen. Bei Schlattner, Bergel und den anderen habe es sich hingegen nicht um ein Mehr oder Weniger (etwa: kann man publizieren oder nicht?) gehandelt, sondern grundsätzlich um ein Alles oder Nichts: um Vernichtung oder Davonkommen. Er könne über Schlattner daher nicht den Stab brechen, über die informellen Mitarbeiter seiner eigenen Zeit hingegen sehr wohl, und dies sei der Grund, warum er in den Prozessen gegen die Denunzianten seiner Generation sich finanziell und physisch bis an den Rand des Erträglichen begeben habe.
Schlattner sinniert jetzt und will nicht mehr sprechen. Im Haus räumt die Zigeunerin Carmen das Geschirr auf. Sie gehört zu Schlattners Zöglingen, »sie ist die Zukunft dieses Landes, sie übernimmt das Erbe derer, die abgehauen sind, die wegwarfen, was ihnen gegeben war. Und jetzt? Schauen Sie sich um: Kulissen nur noch. Aber es sind wieder Menschen darin, andere eben. Und in dem, was Sie sagten, eben: Da waren zwei, drei neue Gedanken auch für mich mit dabei. Aber bitte: Wozu das noch? Es ist vorbei, und es geht ganz anders weiter, hier, und doch auch bei Ihnen in Deutschland, nicht?« Nostalgischer Schmelz war noch nie in der Stimme Schlattners, eher sogar so etwas wie Distanz zum Eigenen, das nun zu Ende geht – unwiderruflich.
(von zu Hause aus)
»Lieber Herr Pfarrer Schlattner,
ich bin zurück in Schnellroda. Ich danke für Gespräch, Kost, Kutschfahrt, vor allem für den Gottesdienst und die Widmung ins Buch. Ich weiß, daß Sie und Bergel und viele andere zu einem für die Entwicklung einer ›Normal-Biographie‹ verheerenden Zeitpunkt in die Knochenmühle des 20. Jahrhunderts geraten sind. Ich kann mir, das sagte ich schon, schlechterdings nicht ausmalen, was einem körperlich, seelisch und geistig angetan werden kann, wenn man schmort und nicht weiß, ob man der letzte Trottel ist, der noch nicht ausgepackt hat (obwohl es nichts auszupacken gibt), oder am Ende doch der erste Stein, den die Belagerer aus der Mauer brechen.
Ich glaube nicht, daß ich irgend etwas vermitteln kann zwischen Bergel und Ihnen, das ist jetzt vermutlich auch gar nicht mehr notwendig. Wenn ich über Ihre Romane, über Bergels Worte zur Sache und über den Schriftstellerprozeß an sich schreiben sollte, dann wird dies ein sehr friedfertiger, bloß darstellender Text sein, dem alles Angriffslustige, Entlarvende fehlen und in dem die Demut vor Ihrer und der anderen Schriftsteller Lebenslast zum Ausdruck kommen wird. Sie sind sehr konsequent den Weg zu den Ärmsten der Armen in die Gefängnisse gegangen und sind dennoch – das bewundere ich! – ein in der Kunst der ironischen Selbstdarstellung bewanderter Mann geblieben. Wie anders sollte ich die Kutschfahrt deuten, die Sie, bewaffnet mit einem roten Handschuh, antraten und die vom Dorf entweder als Marotte, Wunderlichkeit, Lebenslust oder Eitelkeit wahrgenommen werden mußte – bevor Sie der Sache dann durch jene wunderbare Geste die Spitze nahmen: durch die Einladung an die Zigeunerkinder, mitzufahren und das Winken mit dem Handschuh zu übernehmen. In dieser halben Stunde steckte für mich gleichermaßen die Sehnsucht nach Hierarchie neben der Brechung dieser übertrieben arangierten Herrenfahrt, die Freude am prallen Leben, eines Ihrer Selbstbilder, eine echte Zuneigung zu den kleinen Leuten, ein Abschied vom deutschen Siebenbürgen für immer und so weiter.
Sie wollen die Inszenierung Ihres Lebens selbst in der Hand behalten. Für ein paar Stunden tauchte ich als eine aufmerksame Nebenrolle in Ihrem Drehbuch auf und brachte es ein wenig durcheinander. Ich war gerne da.
Nächstens mehr (würde Hölderlin sagen).«