Das Imperium wird niemals enden

Über dem täglichen Abhauen und Abbeißen von Hydraköpfen sollte man nicht vergessen, daß man als "politischer  Existenzialist" verpflichtet ist,...

Martin Lichtmesz

Martin Lichtmesz ist freier Publizist und Übersetzer.

zur Gegen­wart ein rela­ti­vie­ren­des, ja im sokra­ti­schen Sin­ne iro­ni­sches Ver­hält­nis zu pfle­gen. Es darf ihr kein Recht zur “Total­herr­schaft” ein­ge­räumt wer­den. Es geht hier um die Fra­ge, wie wir trotz unse­rer Macht­lo­sig­keit unse­re Frei­heit und Inte­gri­tät bewah­ren können.

Denn macht­los sind wir zwei­fel­los. Der “Feu­er­ball der Nar­re­tei­en” (Botho Strauß) wächst täg­lich, und ver­schlingt den “klei­nen Pla­ne­ten des Geis­tes”. “Der Zeit­geist kor­rum­piert fast jeden”, “der Strom treibt uns mit”, schrieb Ellen Kositza neu­lich in der Jun­gen Frei­heit, resi­gniert oder auch nur rea­lis­tisch: “Rudern wir ruhig ein wenig dage­gen. Die Rich­tung wird sich nicht ändern.” Wir weni­gen Dis­si­den­ten ste­hen abseits und sehen zu, wie der baby­lo­ni­sche Turm hoch und höher gebaut wird, wie eine gewal­ti­ge Dampf­wal­ze nach und nach alles platt­macht, was wir sind, was wir glau­ben und was wir lieben.

Die Fra­ge nach der Ursa­che die­ser Ent­wick­lun­gen ist schon oft gestellt und noch öfter beant­wor­tet wor­den. Ich glau­be aller­dings, daß grund­sätz­lich alle Ant­wor­ten am Ende nur Teil­ant­wor­ten sein kön­nen. Wir mögen etwa imstan­de sein, die glo­bal play­ers der gro­ßen Poli­tik zu benen­nen, oder his­to­ri­sche, psy­cho­lo­gi­sche und geis­tes­ge­schicht­li­che Ursa­chen zu ergrün­den. Das mag alles zu wert­vol­len Erkennt­nis­sen füh­ren, mag uns läh­men und fes­seln oder befrei­en und zur Tat ansta­cheln, es bleibt immer nur Stück­werk, und schlimms­ten­falls kann es auch blen­den: “Wer alles durch­schaut hat, sieht am Ende nichts mehr”, schrieb C. S. Lewis. Ich habe in einem Essay ver­sucht, die­se Pro­ble­ma­tik im Bild der “unsicht­ba­ren Geg­ner” zu fassen.

1977 dreh­te der katho­li­sche Iko­no­klast Robert Bres­son einen sei­ner ein­drucks­volls­ten Fil­me: “Le dia­ble, pro­ba­blem­ent” han­delt von dem 20jährigen Stu­den­ten Charles, dem die Anpas­sung an die als zutiefst destruk­tiv, als “Kul­tur des Todes” wahr­ge­nom­me­ne Kon­sum­ge­sell­schaft eben­so wenig gelingt wie die Rück­kehr zum christ­li­chen Glau­ben. Vom Enga­ge­ment in links­ra­di­ka­len Grup­pen wen­det er sich bald ab, sei­ne Lie­bes­be­zie­hun­gen schei­tern, ein Gespräch mit einem äußerst unysmpa­thisch gezeich­ne­ten Psy­cho­the­ra­peu­ten erweist sich zusätz­lich als des­il­lu­sio­nie­rend, am Ende steht der Selbstmord.

Bres­son war bekannt für einen eigen­wil­li­gen Insze­nie­rungs­stil: er dreh­te aus­schließ­lich mit Lai­en­dar­stel­lern, die ihre Sät­ze mehr “auf­sag­ten” als “spiel­ten”. Nicht nur damit ent­fern­te er sich weit von dem, was man all­ge­mein als “Rea­lis­mus” im Film betrach­tet. In einer zen­tra­len Sze­ne des Films begin­nen die Fahr­gäs­te eines Bus­ses plötz­lich einen selt­sa­men Dia­log. Charles und sein Freund haben eben einen Vor­trag über Mas­sen­ver­nich­tungs­waf­fen besucht; zuvor haben sie scho­ckie­ren­de Fil­me über Umwelt­zer­stö­rung und ‑ver­gif­tung gesehen.

Charles: Das Unglaub­li­che ist, daß es aus­reicht, ein­fach die Fak­ten zu ver­leug­nen, um die Men­schen wie­der zu beruhigen.

Michel: Was denn für Fak­ten? Das ist über­na­tür­lich. Nichts ist sichtbar.

Charles: Du spinnst doch! … Die Regie­run­gen sind kurzsichtig.

1. Fahr­gast: Beschul­di­gen Sie nicht die Regie­run­gen. Kei­ne Regie­rung auf die­ser Welt kann heu­te von sich behaup­ten, daß wirk­lich sie es ist, die regiert. Die Mas­sen bestim­men heu­te die Marsch­rich­tung. Dunk­le Kräf­te, deren Geset­ze uner­gründ­lich sind.

2. Fahr­gast: Es ist wahr, daß uns irgend­et­was gegen unse­ren Wil­len treibt.

3. Fahr­gast: Man muß ein­fach nur wei­ter und wei­ter mar­schie­ren… und wir machen alle mit, wir wol­len ja kei­ne Spiel­ver­der­ber sein.

4. Fahr­gast: Wer ist es, der sich über die Mensch­heit lus­tig macht?

3. Fahr­gast: Ja, wer ist es, der uns an der Nase herumführt?

1. Fahr­gast (sar­kas­tisch): Der Teu­fel, möglicherweise.

 

Bres­son war soet­was wie ein Pas­cal des Kinos: ein christ­li­cher Skep­ti­ker, der offen ließ, inwie­fern Gott auf der Welt tat­säch­lich an- oder auch abwe­send ist. Ob man nun tat­säch­lich an wirk­lich-wir­ken­de über­ir­di­sche Mäch­te glaubt oder Gott und den Teu­fel nur für Meta­phern hält: die christ­lich-tra­di­tio­nel­le Sicht, die Welt als Herr­schafts­be­reich des Satans zu betrach­ten, hat sich über Jahr­hun­der­te mit eini­ger Kon­stanz und Hart­nä­ckig­keit gehalten.

In säku­la­rer Form taucht sie auch bei moder­nen pes­si­mis­ti­schen und nihi­lis­ti­schen Den­kern wie etwa Emi­le Cioran auf. Die­ser schrieb ein­mal, daß die Betrach­tung der Welt­ge­schich­te auch noch den trägs­ten Phleg­ma­ti­ker in die Zwangs­ja­cke trei­ben müs­se; und tat­säch­lich ist es nicht ein­fach, dem Anblick ihrer unun­ter­bro­che­nen “Blut­spur” stand­zu­hal­ten. Immer wie­der gibt es Zei­ten, in denen es den Zeit­ge­nos­sen durch­weg so erschien, als sei die Welt in die Hand einer sata­ni­schen Macht gefallen.

Eine sol­che “heil­lo­se” Zeit war gewiß das Zeit­al­ter der euro­päi­schen Umwäl­zun­gen im Zuge der Refor­ma­ti­on und Gegen­re­for­ma­ti­on, des­sen ent­setz­li­cher Höhe­punkt der Drei­ßig­jäh­ri­ge Krieg war, der wei­te Gebie­te von Deutsch­land ent­völ­ker­te und ver­ro­hen ließ. In Egon Frie­dells unver­gleich­li­cher “Kul­tur­ge­schich­te der Neu­zeit” (1927–31) fin­de ich eine Pas­sa­ge über das Wüten Phil­ipps II. in den damals spa­nisch regier­ten Nie­der­lan­den. Ich könn­te will­kür­lich auch irgend­ei­ne ande­re Epi­so­de aus irgend­ei­ner ande­ren Epo­che der euro­päi­schen Geschich­te her­aus­grei­fen: die­se hat mich aller­dings beson­ders frappiert.

Frie­dell beschreibt den spa­ni­schen Habs­bur­ger-König als eine Art Fürst der Finsternis:

In Phil­ipp hat nicht nur das habs­bur­gi­sche, son­dern auch das spa­ni­sche Wesen eine sei­ner stärks­ten und absur­des­ten Zusam­men­fas­sun­gen erfah­ren. Der spa­ni­sche Hidal­go ist bigott: Phil­ipp war fana­tisch; er ist rück­sichts­los und bru­tal: Phil­ipp ging über Lei­chen; er betrach­tet sich als ein höhe­res Wesen: Phil­ipp hielt sich für einen Gott; er ist exklu­siv: Phil­ipp war unnah­bar; er ist fins­ter: Phil­ipp war über­haupt nicht zu sehen. Nur die höchs­ten Gran­den hat­ten bei ihm Zutritt, und auch die­se durf­ten sich ihm nur kniend nähern; sei­ne Befeh­le erteil­te er in hal­ben Sät­zen, deren Inhalt man erra­ten muß­te. Nie­mand durf­te ein Pferd bestei­gen, wor­auf er gerit­ten hat­te, nie­mand ein Weib ehe­li­chen, das er beses­sen hat­te: er galt dem Vol­ke in Wahr­heit als eine gehei­lig­te Per­son, als eine Art Pries­ter­kö­nig. Sein Leben ver­floß in der trost­lo­ses­ten Ein­för­mig­keit: immer aß er die­sel­ben pünkt­lich um die glei­che Stun­de auf­ge­tra­ge­nen Spei­sen; immer trug er das­sel­be schwar­ze Gewand, selbst die Orden waren schwarz; täg­lich mach­te er die­sel­be Aus­fahrt durch die reiz­lo­se men­schen­lee­re Umge­bung sei­nes Schlos­ses, in sei­nen spä­te­ren Lebens­jah­ren ver­ließ er sein Zim­mer über­haupt nur, um die Mes­se zu hören.(…)

Er soll nur ein ein­zi­ges Mal in sei­nem Leben gelacht haben: das war, als er die Nach­richt von der Bar­tho­lo­mä­us­nacht emp­fing; der dama­li­ge Papst äußer­te übri­gens sei­ne Freu­de noch viel sinn­fäl­li­ger: er fei­er­te das größ­te Mas­sa­ker der neue­ren Geschich­te durch eine Denk­mün­ze und ein gro­ßes Tede­um und befleck­te damit den Stuhl Petri mehr als alle sei­ne Vor­gän­ger durch ihre Sodo­mie, Simo­nie und Blutschande.

Und nun die grau­sa­me Art, in der Phil­ipp die pro­tes­tan­ti­schen Nie­der­lan­de unter sei­ner Herr­schaft behan­del­te. Mit­hil­fe des Hei­li­gen Stuhls ließ er kur­zer­hand drei Mil­lio­nen Nie­der­län­der zu Ket­zern und “Hoch­ver­rä­tern” erklä­ren, durch Dekre­te, die, wie man heu­te sagen wür­de, absurd-tota­li­tä­re, qua­si-sta­li­nis­ti­sche Züge tru­gen; Voll­stre­cker war der berüch­tig­te Statt­hal­ter der Nie­der­lan­de, der Her­zog von Alba.

 Auch in den blü­hen­den Nie­der­lan­den, dem reichs­ten, reg­sams­ten und zivi­li­sier­tes­ten Gebiet des dama­li­gen Nor­dens, haben die Spa­ni­er nicht anders gewirt­schaf­tet, als ob es sich um eine unter­wor­fe­ne Neger­ko­lo­nie gehan­delt hätte.Es hat sehr lan­ge gedau­ert, bis es ihnen gelang, durch die unsin­ni­ge Ver­bohrt­heit, blin­de Gier und unmensch­li­che Roheit ihrer Ver­wal­tung die­ses fried­lie­ben­de und schwer­be­weg­li­che Volk von bücher­füh­ren­den Kauf­leu­ten und bücher­schrei­ben­den Schul­meis­tern zum todes­mu­ti­gen Auf­stand zu rei­zen; aber ein­mal ent­brannt, war er nicht mehr zu ersticken.

Die Art, wie Alba auf Grund der genau­en Instruk­tio­nen sei­nes Königs in den Nie­der­lan­den ver­fuhr, war mehr als nie­der­träch­tig: sie war unbe­greif­lich. Der von ihm errich­te­te »Rat der Unru­hen« oder »Blut­rat«, wie ihn das Volk mit Recht nann­te, hat­te die Auf­ga­be, Hoch­ver­rä­ter zu bestra­fen. Als sol­cher galt unter ande­rem: wer sich an einer Bitt­schrift um Mil­de­rung der Inqui­si­ti­on betei­ligt hat­te; wer eine sol­che Bitt­schrift nicht ver­hin­der atte; wer, wenn auch gezwun­gen, eine evan­ge­li­sche Pre­digt gedul­det hat­te; wer gesagt hat­te, der König habe nicht das Recht, den Pro­vin­zen ihre Frei­heit zu neh­men; wer bezwei­felt hat­te, daß der »Rat der Unru­hen« an kei­ne Geset­ze gebun­den sei; wer behaup­tet hat­te, man müs­se Gott mehr gehor­chen als den Men­schen; und wer irgend­ei­ne der­ar­ti­ge Äuße­rung still­schwei­gend ange­hört hatte.

Die­se Ver­fü­gun­gen for­der­ten tau­sen­de Menschenleben:

Es ist klar, daß es fast unmög­lich war, wenigs­tens eines von die­sen Delik­ten nicht zu bege­hen. Es war nichts als die streng logi­sche Schluß­fol­ge­rung aus die­sen wahn­sin­ni­gen Prä­mis­sen, daß am 16. Febru­ar 1568 alle Ein­woh­ner der Nie­der­lan­de als Ket­zer zum Tode ver­ur­teilt wur­den: ein Staats­akt, der in der Geschich­te ein­zig daste­hen dürf­te. Nach­dem Tau­sen­de gehängt, ver­brannt, ein­ge­ker­kert, exi­liert, ent­eig­net waren, erschien eine könig­li­che Amnes­tie, die allen, die nach­weis­bar nicht das gerings­te began­gen hat­ten, Straf­lo­sig­keit zusi­cher­te, falls sie bin­nen einer bestimm­ten Frist reu­ig um Gna­de bäten: auch von einer sol­chen Amnes­tie dürf­te es in der Welt­ge­schich­te kaum ein Dupli­kat geben.

Auch wenn Frie­dell die Bei­spiel­lo­sig­keit die­ser beson­de­ren Epi­so­de betont: Geschich­ten wie die­se erin­nern uns dar­an, daß Din­ge wie der Wahn­sinn, die Infa­mie, die Unge­rech­tig­keit und Dumm­heit der Macht­ha­ber, denen wir heu­te gegen­über­ste­hen, in der Welt­ge­schich­te durch­aus üblich sind, daß sie zahl­lo­se Gesich­ter haben kön­nen, und daß wir es heu­te noch lan­ge nicht mit ihren schlimmst­mög­li­chen Aus­prä­gun­gen zu tun haben, auch wenn sich ihre Fol­gen auf lan­ge Frist ver­hee­ren­der aus­wir­ken mögen als der Drei­ßig­jäh­ri­ge Krieg oder gar bei­de Welt­krie­ge des letz­ten Jahr­hun­derts: denn noch nie in der Geschich­te schien das Finis Euro­pae so nahe gerückt wie heute.

Betrach­ten wir unser Dasein “sub spe­cie aeter­ni­ta­tis”, unter dem “Gesichts­punkt des Ewi­gen”, so ste­hen auch wir Heu­ti­gen in einem Agon, dem bis­her noch kein Men­schen­ge­schlecht ent­ron­nen ist. “Agon”, grie­chisch für “Wett­streit”, war einer der Lieb­lings­be­grif­fe des eher anti­christ­lich ein­ge­stell­ten Armin Moh­ler: Leben ist in sei­ner Essenz Kampf, Kräf­te­mes­sen, Durch­set­zung, daher müs­se sich auch eine Gesell­schaft nach ago­na­len Prin­zi­pi­en ori­en­tie­ren, wol­le sie vital, pro­duk­tiv und über­le­bens­fä­hig bleiben.

Dabei hat Moh­ler frei­lich auch an die Ein­set­zung von gerech­ten Spiel­re­geln als poli­ti­sche Auf­ga­be gedacht: der Begriff “Agon” ent­stammt dem Bereich des Spor­tes, also letzt­lich des Spiels. Damit ist ihm sein Ernst nicht genom­men, denn die­ser “Wett­streit” kann blu­tig enden und das Leben kos­ten.  Aller­dings ist ihm durch die para­do­xe Auf­fas­sung als “Spiel” höhe­rer Ord­nung ein eigen­tüm­li­cher Frei­raum bei­gege­ben. Moh­lers Ide­al war das einer kämp­fe­ri­schen “Gelas­sen­heit”, die dem Tod auch dadurch den Sta­chel nimmt, indem sie ihn zum Sporn umfunk­tio­niert, ihn gleich einem Wür­fel in das Lebens“spiel” einbezieht.

Daher auch Moh­lers Vor­lie­be für “ästhe­ti­sche Ges­ten”, exem­pla­risch in der mythi­schen Anek­do­te von der Bela­ge­rung des Alca­zar von Tole­do im Spa­ni­schen Bür­ger­krieg. Oberst Mos­car­dó und sein Sohn schei­nen dar­in den Krieg wie einen blu­ti­gen Witz auf­zu­fas­sen. Dies gibt ihren Cha­rak­te­ren Hal­tung und Kraft, die auch in der äußers­ten Sack­gas­se nicht versagt:

An die­sem Tag (31. Juli 1936) erhält Oberst Mos­car­dó, Kom­man­dant des Alca­zars und der dort ver­schanz­ten Kadet­ten, über eine noch intak­te Tele­fon­ver­bin­dung mit drau­ßen einen Anruf. Anru­fer ist der Chef der bela­gern­den Roten Mili­zen. Er for­dert Mos­car­dó zur Über­ga­be des Alca­zars auf. Andern­falls wer­de man den Sohn des Obers­ten füsi­lie­ren, er befin­de sich in der Hand der Mili­zen. Zur Bekräf­ti­gung wird der Sohn ans Tele­fon geholt und es kommt zu fol­gen­dem Dialog.

Der Sohn: “Papa!” Mos­car­dó: “Ja, was gibt es, mein Sohn?” Der Sohn: “Nichts, sie sagen bloß, daß sie mich erschie­ßen wer­den, wenn Du den Alca­zar nicht über­gibst.” Mos­car­dó: “Dann emp­fiehl Dei­ne See­le Gott, rufe Viva Espa­ña und stirb wie ein Patri­ot.” Der Sohn: “Ich umar­me Dich, Papa.” Mos­car­dó: “Ich umar­me Dich, mein Sohn.” Dann fügt er für den Chef der Mili­zen, der wie­der den Hörer über­nom­men hat, hin­zu: “Ihre Frist ist nutz­los. Der Alca­zar wird nie­mals über­ge­ben.” Mos­car­dó hängt ein, und sein Sohn wird unten in der Stadt erschossen.

Was Moh­ler wohl nicht wuß­te oder unter­schätz­te, war die Tat­sa­che, daß der Begriff des “Agon” nicht nur bei Nietz­sche, son­dern auch in den bekannt­lich grie­chisch abge­faß­ten Epis­teln des Pau­lus von Tar­sus eine wich­ti­ge Rol­le spielt. Pau­lus faßt das Leben des Chris­ten als Stand­hal­ten, aus­drück­lich als “Agon” auf, so im ers­ten Korintherbrief:

Wißt ihr nicht, daß die, die in der Kampf­bahn lau­fen, die lau­fen alle, aber einer emp­fängt den Sie­ges­preis? Lauft so, daß ihr ihn erlangt. Jeder aber, der kämpft, ent­hält sich aller Din­ge; jene nun, damit sie einen ver­gäng­li­chen Kranz emp­fan­gen, wir aber einen unver­gäng­li­chen. Ich aber lau­fe nicht wie aufs Unge­wis­se; ich kämp­fe mit der Faust, nicht wie einer, der in die Luft schlägt, son­dern ich bezwin­ge mei­nen Leib und zäh­me ihn, damit ich nicht andern pre­di­ge und selbst ver­werf­lich werde.

Die grün­den­de Erzäh­lung des Chris­ten­tums, wie sie im Neu­en Tes­ta­ment über­lie­fert ist, beginnt nun in einem inva­dier­ten, okku­pier­ten Land, das Fremd­herr­schaft und Tyran­nei erdul­den muß. Aus die­sem Rah­men bezieht die Geschich­te des Jesus von Naza­reth einen erheb­li­chen Teil ihrer Anzie­hungs­kraft und ihres immer neu­en Rei­zes. (Ähn­lich ver­hält es sich mit der Geschich­te des Moses und dem Exodus der Juden aus Ägyp­ten.) In den Bibel­fil­men aus Hol­ly­wood und Cine­cit­tà sowie diver­sen Roma­nen, die auf der Bibel beru­hen, wird oft ein wei­te­rer Hand­lungs­strang aus­ge­schmückt, der die poli­ti­schen Bemü­hun­gen von jüdi­schen Natio­na­lis­ten zeigt, die auf einen inner­welt­li­chen Mes­si­as hof­fen, der den Auf­stand gegen die römi­sche Herr­schaft anfüh­ren wird.

Nicho­las Rays “King of Kings” (1961) etwa zeigt in einer Neben­hand­lung eine vom bibli­schen Bar­ra­bas geführ­te “Résistance”-Bewegung gegen die “Nazis” der Anti­ke, die Römer, sowie Mas­sen­kreu­zun­gen von auf­müp­fi­gen Juden, gefolgt von bren­nen­den Schei­ter­hau­fen, über die römi­sche Sol­da­ten wachen: eine deut­li­che Anspie­lung auf die Iko­no­gra­phie des Holo­caust. Ähn­lich zeig­te eine Insze­nie­rung von Andrew Lloyd Web­bers “Jesus Christ Super­star” den römi­schen Statt­hal­ter Pila­tus in SS-arti­ger Uni­form. Für die frü­hen Chris­ten wur­de Rom zum Sym­bol für die welt­li­che Macht schlecht­hin; und schon die Kir­chen­vä­ter deu­te­ten die “Hure Baby­lon” aus der Offen­ba­rung Johan­nis als Sinn­bild für das römi­sche Weltreich.

Als der Mes­si­as in Gestalt von Jesus Chris­tus erscheint, ver­kün­det er aller­dings, daß sein Reich nicht von die­ser Welt sei, und daß man Gott gebe, was Got­tes, und dem Kai­ser, was des Kai­sers ist. Baby­lon wird eines Tages fal­len, und mit ihr der Anti­christ, das gro­ße Tier und die fal­schen Pro­phe­ten. Aber dies liegt nicht in der Macht des Menschen.

Ist “Rom” nur eine Meta­pher, dann hät­te es sub spe­cie aeter­ni­ta­tis kei­nen Sinn gehabt, Paläs­ti­na von der Herr­schaft der Römer zu befrei­en. Eine schlech­te Herr­schaft hät­te die ande­re abge­wech­selt, ohne an der betrüb­li­chen Ver­fas­sung des Men­schen­ge­schlech­tes auch nur das Gerings­te zu ändern. Auch die Okku­pa­ti­on ist aus die­ser Sicht nur eine Meta­pher: das wah­re Hei­mat­land ist das Reich Got­tes. Es wäre dann sozu­sa­gen das Schick­sal der Welt, bis zum Jüngs­ten Tag von “Rom” okku­piert zu bleiben.

Viel­leicht waren es ähn­li­che Gedan­ken, die Phil­ip K. Dick, den genia­len Kaf­ka des Sci­ence-Fic­tion-Romans, in den letz­ten Jah­ren sei­nes Lebens umtrie­ben, als er im Zustand wach­sen­der geis­ti­ger Umnach­tung reli­giö­se Visio­nen hat­te, und die fixe Idee ent­wi­ckel­te, die Geschich­te wäre in Wahr­heit im 1. Jahr­hun­dert ste­hen­ge­blie­ben und seit­her nur eine Hal­lu­zi­na­ti­on von Gefan­ge­nen: “The Empire never ended.”

Auch der bereits erwähn­te C. S. Lewis war Autor von Sci­ence-Fic­tion- und Fan­ta­sy-Roma­nen. Weni­ger bekannt ist, daß er ein enga­gier­ter Apo­lo­get des Chris­ten­tums von fun­keln­der Intel­li­genz war, viel­leicht der viel­schich­tigs­te, den das letz­te Jahr­hun­dert her­vor­ge­bracht hat. In sei­nen unter dem Titel “Mere Chris­tia­ni­ty” gesam­mel­ten Reden (1942–44, erst­mals erschie­nen 1952) fin­det sich ein fas­zi­nie­ren­der Gedanke:

Eines der Din­ge, die mich erstaun­ten, als ich ernst­haft das Neue Tes­ta­ment zu lesen begann, war die Häu­fig­keit, mit der von einer dunk­len Macht im Uni­ver­sum die Rede war – von einem mäch­ti­gen, bösen Geist, der hin­ter Tod, Krank­heit und Sün­de stün­de. Das Chris­ten­tum stimmt mit der dua­lis­ti­schen Auf­fas­sung über­ein, daß sich die­ses Uni­ver­sum im Kriegs­zu­stand befin­det. Aber es glaubt nicht an einen Krieg zwi­schen unab­hän­gi­gen Mäch­ten. Es glaubt an einen Bür­ger­krieg, eine Rebel­li­on, dar­an, daß wir in einem Teil des Uni­ver­sums leben, der vom Rebel­len (sc. gegen Gott, also: Luzi­fer) beherrscht wird.

Vom Feind besetz­tes Gelän­de – das ist es, was die­se Welt ist. Das Chris­ten­tum ist die Geschich­te des recht­mä­ßi­gen Königs, der inco­gni­to – man kann sogar sagen: ver­klei­det – in sein Land zurück­kehrt und uns alle dazu auf­ruft, an einer gro­ßen Sabo­ta­ge­kam­pa­gne teilzunehmen.

Er greift die Fra­ge Bres­sons auf und beant­wor­tet sie im Sin­ne des Glaubens:

Ich weiß, daß man mich nun fra­gen wird: “Wol­len Sie etwa ernst­haft, am hel­lich­ten Tage, unse­ren alten Freund, den Teu­fel, mit Hufen, Hör­nern und all dem Zeug, wie­der in die Dis­kus­si­on ein­füh­ren?” Nun, was die Tages­zeit mit die­sen Din­gen zu tun haben soll, erschließt sich mir nicht. Ich bestehe auch nicht gera­de auf Hufen und Hör­nern.  Aber was den Rest angeht, so ist mei­ne Ant­wort: “Ja, das tue ich.”  Ich behaup­te nicht, daß ich irgend­et­was über sei­ne per­sön­li­che Erschei­nung wüß­te. Soll­te irgend­je­mand ein Inter­es­se dar­an haben, ihn bes­ser ken­nen­ler­nen zu wol­len, so wür­de ich ihm sagen: “Nur kei­ne Sor­ge. Wenn Sie das wirk­lich wol­len, dann wird ihr Wunsch erfüllt wer­den. Ob Sie dar­an Freu­de haben wer­den, wenn das pas­siert, steht auf einem ande­ren Blatt.”

Vie­len wer­den sol­che Gedan­ken als Ärger­nis oder Tor­heit erschei­nen; für das Ent­schei­den­de an ihnen kann ich jedoch auch einen alten deut­schen Hei­den als Zeu­gen auf­ru­fen, der viel über den “Flie­gen­gott, Ver­der­ber, Lüg­ner” nach­ge­dacht hat, und der uns dar­an erin­nert hat, daß alles Ver­gäng­li­che nur ein Gleich­nis ist. Die wech­seln­den irdi­schen Statt­hal­ter der Lüge, der Unter­drü­ckung und des Wahn­sinns sind es eben­so, wie der nicht enden­de Kampf gegen sie, der nicht zuletzt in der eige­nen okku­pier­ten See­le beginnt.

Und schließ­lich wäre hier auch noch von einem ande­ren Par­ti­sa­nen und Sabo­teur gegen die Total­herr­schaft der zeit­li­chen Ord­nun­gen zu spre­chen. Im “Wald­gang” schreibt Ernst Jünger:

Wo es Unsterb­lich­keit gibt, ja wo nur der Glau­be an sie vor­han­den ist, da sind auch Punk­te anzu­neh­men, an denen der Mensch durch kei­ne Macht und Über­macht der Erde erreicht oder beein­träch­tigt, geschwei­ge denn ver­nich­tet wer­den kann. Der Wald ist Hei­lig­tum. Die Panik, die man heu­te weit­hin beob­ach­tet, ist bereits der Aus­druck eines ange­zehr­ten Geis­tes, eines pas­si­ven Nihi­lis­mus, der den akti­ven her­aus­for­dert. Der frei­lich ist am leich­tes­ten ein­zu­schüch­tern, der glaubt, daß, wenn man sei­ne flüch­ti­ge Erschei­nung aus­löscht, alles zu Ende sei. Das wis­sen die neu­en Skla­ven­hal­ter, und dar­auf grün­det sich die Bedeu­tung der mate­ria­lis­ti­schen Leh­ren für sie. Sie die­nen im Auf­stand zur Erschüt­te­rung der Ord­nung und sol­len nach errun­ge­ner Herr­schaft den Schre­cken ver­ewi­gen. Es soll kei­ne Bas­tio­nen mehr geben, auf denen der Mensch sich unan­greif­bar und damit furcht­los fühlt.

Dem­ge­gen­über ist es wich­tig, zu wis­sen, daß jeder Mensch unsterb­lich und daß ein ewi­ges Leben in ihm ist, uner­forsch­tes und doch bewohn­tes Land, das er selbst leug­nen mag, doch das kei­ne zeit­li­che Macht ihm rau­ben kann. Der Zugang bei vie­len, ja bei den meis­ten mag einem Brun­nen glei­chen, in wel­chen seit Jahr­hun­der­ten Trüm­mer und Schutt gewor­fen sind. Räumt man sie fort, so fin­det man am Grun­de nicht nur die Quel­le, son­dern auch die alten Bil­der vor. Der Reich­tum des Men­schen ist unend­lich grö­ßer, als er ahnt. Es ist ein Reich­tum, den nie­mand rau­ben kann und der im Lauf der Zei­ten auch immer wie­der sicht­bar anflu­tet, vor allem, wenn der Schmerz die Tie­fen auf­ge­gra­ben hat. Das ist es, was der Mensch wis­sen will. Hier liegt das Zen­trum sei­ner zeit­li­chen Unru­he. Das ist die Ursa­che sei­nes Durs­tes, der in der Wüs­te wächst — und die­se Wüs­te ist die Zeit.

 

 

Martin Lichtmesz

Martin Lichtmesz ist freier Publizist und Übersetzer.

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