Es gibt garantiert irgendeinen brillanten Gedanken, dem zu folgen sich lohnt, einen Sachverhalt, den er nennt und über den man gern Genaueres wüßte. Aber keine Erwartung wird erfüllt, die Texte Gumbrechts verlieren sich rasch in Belanglosigkeiten oder verstiegene Argumentationen. Leider gilt das auch für dieses Buch, einer Mischung aus Autobiographie und literaturwissenschaftlicher Exegese, dessen Leitmotiv – die unglaubliche Menge der Möglichkeiten nach der »Entgleisung der Geschichte« – einfach nicht genug hergibt, um den Lebensweg in der Nachkriegszeit mit dem größeren Ganzen zu verknüpfen. Denn im Kern geht es nur darum, daß Gumbrecht wie die meisten kids von Marx und Coke kein Deutscher mehr sein wollte, und darum, daß die »Latenz« dieses Wunsches vom allfälligen Konflikt mit dem Vater über die bereitwillig akzeptierte reeducation und den Unsinn von ’68 bis zur Annahme der amerikanischen Staatsbürgerschaft reichte.
Und selbst das muß man mühsam herausschälen, während Gumbrecht früher, unmittelbar nach den Anschlägen vom 11. September, ganz unverblümt gesagt hat, wie wohl ihm sei, endlich aus seiner deutschen Haut herauszukommen: »Diese Bomben haben unser Land getroffen, wir fürchten uns davor, den Geruch unserer verbrannten Toten einzuatmen, und ich hoffe, niemand wird die Geduld haben, mit denen zu verhandeln, die begierig sind, sich selbst zu solchen Bomben zu machen. Gefühle des Patriotismus, Gefühle der nationalen Erniedrigung und der Hoffnung auf Rache innerhalb von zwei Tagen kennenzulernen hat mich überwältigt. Aber es macht mich auch stolz …«
Hans Ulrich Gumbrecht: Nach 1945. Latenz als Ursprung der Gegenwart, Berlin: Suhrkamp 2012. 355 S., 24.95 €