Warum wir in Afghanistan nicht gewinnen können

47pdf der Druckfassung aus Sezession 47 / April 2012

von Thomas Bargatzky

Die Neuorientierung der deutschen Sicherheits- und Verteidigungspolitik seit dem Ende des Kalten Krieges hat zur »Transformation der Bundeswehr« als personell reduzierte Eingreifarmee für den Einsatz an exotischen Schauplätzen geführt. Die neue Aufgabe wurde von dem damaligen Verteidigungsminister Peter Struck im Dezember 2002 mit der Losung »Deutschland wird auch am Hindukusch verteidigt« auf den Punkt gebracht.

Die damit ver­bun­de­ne asym­me­tri­sche Krieg­füh­rung zeigt dem Staat jedoch die Gren­zen mili­tä­ri­scher Inter­ven­tio­nen auf. Am Fall Afgha­ni­stan wird der illu­sio­nä­re Cha­rak­ter von Aus­lands­ein­sät­zen deut­lich: Dort kann der Wes­ten nicht gewin­nen, weil er drei Irr­tü­mern auf­sitzt: Ers­tens, Afgha­ni­stan wird als kul­tu­rel­les und his­to­ri­sches Iso­lat betrach­tet. Man glaubt, dort nati­on-buil­ding als Teil des welt­wei­ten Kamp­fes gegen den Ter­ro­ris­mus durch­ex­er­zie­ren zu kön­nen. Nati­on-buil­ding ist aber die zivi­le Kehr­sei­te der bewaff­ne­ten Auf­stands­be­kämp­fung (coun­ter­insur­gen­cy) und pro­vo­ziert Wider­stand. Zwei­tens, Stam­mes­struk­tu­ren wer­den als zu über­win­den­de »mit­tel­al­ter­li­che« Relik­te abge­tan. Damit unter­läuft dem Wes­ten eine fata­le Fehl­ein­schät­zung. Drit­tens, man unter­schätzt die iden­ti­täts­bil­den­de Kraft des Islam.

Afgha­ni­stan im regio­na­len Zusammenhang

Das von einer Viel­zahl klei­ne­rer und grö­ße­rer eth­ni­scher Grup­pen besie­del­te Ter­ri­to­ri­um namens Afgha­ni­stan ist Teil einer gro­ßen Fließ­zo­ne kul­tu­rel­ler, eth­ni­scher, sprach­li­cher und reli­giö­ser Gemenge­la­gen ohne deut­li­che Abgren­zun­gen von­ein­an­der. Die­ses Kon­ti­nu­um setzt sich nach Wes­ten im Iran, nach Nor­den in den zen­tral­asia­ti­schen Staa­ten und im Wes­ten und Süd­wes­ten auf dem indi­schen Sub­kon­ti­nent fort. Die ein­zi­gen Gren­zen, die in der Ver­gan­gen­heit eine Bedeu­tung hat­ten, waren die sich stän­dig wan­deln­den Gren­zen wech­seln­der dynas­ti­scher Herrschaften.

Afgha­ni­stan war seit jeher ein Durch­gangs­raum zwi­schen Ost und West, Nord und Süd mit flie­ßen­den eth­ni­schen und kul­tu­rel­len Über­gangs­zo­nen. Immer wie­der fie­len unter­schied­li­che Völ­ker aus Zen­tral­asi­en hier ein und dräng­ten wei­ter in Rich­tung Indi­en, oder wur­den von nach­rü­cken­den Völ­kern dort­hin abge­drängt. Im Zuge der ara­bi­schen Erobe­run­gen seit dem 7. Jahr­hun­dert ver­brei­te­ten sich mit dem Islam ara­bi­sche Spra­che und Schrift in der gesam­ten Regi­on. Mus­li­mi­sche Inva­sio­nen bedroh­ten seit­her immer wie­der auch den indi­schen Subkontinent.

Afgha­ni­stan war bis 1747 Teil umfas­sen­de­rer Herr­schafts­ge­bie­te unter wech­seln­den, mal afgha­ni­schen, mal nicht­af­gha­ni­schen Dynas­tien. Die­se Kon­stel­la­ti­on zog sich bis zu dem Gre­at Game genann­ten macht­po­li­ti­schen »Spiel« um die Vor­macht­stel­lung in Asi­en im 19. Jahr­hun­dert, das zwi­schen Groß­bri­tan­ni­en, dem Zaren­reich und Per­si­en aus­ge­tra­gen wur­de. Auch in der Gegen­wart sug­ge­rie­ren die Gren­zen auf der Land­kar­te eine kul­tu­rel­le und staat­li­che Ein­heit und Sou­ve­rä­ni­tät, die so nicht besteht. Inter­ve­niert man dort, sind auch ande­re Län­der betrof­fen, ins­be­son­de­re Pakistan.

Das Zeit­ge­mä­ße der Stammesstruktur

In einem Land wie Afgha­ni­stan nati­on-buil­ding betrei­ben zu wol­len, nach Maß­ga­be moder­ner euro­päi­scher Staats- und Rechts­ord­nun­gen mit ihren Kor­re­la­ten Zivil­ge­sell­schaft, Par­tei­en­plu­ra­lis­mus, Säku­la­ri­sie­rung, Indi­vi­dua­lis­mus und Men­schen­rech­ten, kommt dem Ver­such gleich, den sprich­wört­li­chen Pud­ding an die Wand zu nageln. Der­glei­chen setzt eine spe­zi­fisch euro­päi­sche Ent­wick­lung vor­aus, die im Lehns­we­sen und sei­ner Auf­lö­sung ihren Aus­druck fand, wodurch die aus den alten Bin­dun­gen »frei­ge­setz­ten« Indi­vi­du­en sich unter kapi­ta­lis­ti­schem Vor­zei­chen in Bür­ger­tum und Arbei­ter­schaft neu for­mier­ten. Der säku­la­re, lai­zis­ti­sche moder­ne Rechts­staat trat an die Stel­le der reli­gi­ös legi­ti­mier­ten alten Feu­dal­ord­nung und lie­fer­te als Natio­nal­staat auf der Grund­la­ge einer als je eigen­stän­dig wahr­ge­nom­me­nen und geför­der­ten Kul­tur eine neue ideel­le Klam­mer für die – unter­schied­li­chen Inter­es­sen ver­pflich­te­ten – Bürger.

Kei­ne die­ser Bedin­gun­gen liegt in Afgha­ni­stan vor, in dem grenz­über­schrei­ten­de, auf Ver­wandt­schafts- und Clan­strukturen basie­ren­de Stam­mes­kon­fö­de­ra­tio­nen das Sagen haben, wie sie im zen­tral­asia­ti­schen Raum seit jeher geschichts­be­stim­mend waren. Dabei han­delt es sich nicht um feu­da­le Gebil­de, son­dern um durch Reli­gi­on und Brauch­tum inte­grier­te Rechts- und Loya­li­täts­ge­mein­schaf­ten. Die ein­zel­nen Seg­men­te die­ser Stäm­me schlie­ßen sich auf­grund von Stamm­baum­be­zie­hun­gen bei gege­be­ner Inter­es­sen­la­ge zeit­wei­lig gegen unge­fähr gleich gro­ße Grup­pen inner­halb des Stam­mes zu grö­ße­ren Ver­bän­den zusam­men, zer­fal­len aber eben­so schnell wie­der in ihre Kom­po­nen­ten. Die­se »kom­ple­men­tä­re Oppo­si­ti­on« mani­fes­tiert sich in ers­ter Linie bei Rechts­strei­tig­kei­ten und den häu­fig damit zusam­men­hän­gen­den krie­ge­ri­schen Kon­flik­ten, aber auch in ande­ren poli­ti­schen Situa­tio­nen wie bei der Beset­zung vakan­ter Füh­rungs­äm­ter. Dadurch wird ein grup­pen­wei­se orga­ni­sier­tes Auf­ge­bot mög­lich. Grup­pen­zie­le las­sen sich auf Kos­ten ande­rer Grup­pen durch­set­zen, mit denen man aber bei geän­der­ten Ver­hält­nis­sen wie­der zusam­men­geht. Man könn­te sol­chen Grup­pen das Mot­to unter­stel­len: »Der Feind mei­nes Fein­des ist auch mein Feind.«

Die heu­te etwa 40 Mil­lio­nen Pasch­tu­nen besit­zen solch eine seg­men­tä­re Orga­ni­sa­ti­on. Sie gel­ten als größ­te Stam­mes­ge­sell­schaft der Welt. Sie füh­ren sich auf einen gemein­sa­men Stamm­va­ter zurück, Qais Abdur Rasch­id. Exak­te Zah­len sind schwer zu bekom­men, aber als Faust­re­gel kann man von zwölf Mil­lio­nen in Afgha­ni­stan (40 Pro­zent der Gesamt­be­völ­ke­rung) und 25 bis 27 Mil­lio­nen in Paki­stan (ca. 15 Pro­zent der Gesamt­be­völ­ke­rung) aus­ge­hen. Die bei­den gro­ßen pasch­tu­ni­schen Stam­mes­kon­fö­de­ra­tio­nen der Ghil­zai und Abda­li spie­len bis heu­te eine über­ra­gen­de Rol­le. Mal gin­gen sie gegen einen gemein­sa­men Geg­ner vor, um dann wie­der gegeneinanderzustehen.

Der bewaff­ne­te Wider­stand gegen die Ver­su­che Groß­bri­tan­ni­ens, Afgha­ni­stan im 19. Jahr­hun­dert im Zuge des Gre­at Game unter direk­te Kon­trol­le zu brin­gen, wur­de maß­geb­lich von den Ghil­zai getra­gen. Das Mus­ter stän­dig wech­seln­der Alli­an­zen sogar inner­halb eines Stam­mes nach dem Prin­zip der kom­ple­men­tä­ren Oppo­si­ti­on liegt auch gegen­wär­ti­gen Kon­flikt­la­gen zugrun­de. Drei der pro­kom­mu­nis­ti­schen Prä­si­den­ten Afgha­ni­stans waren Ghil­zai-Pasch­tu­nen (Muham­mad Tara­ki, Hafi­zul­lah Amin, Muham­mad Nad­schi­bull­ah), aber auch die Tali­ban rekru­tier­ten sich vor­nehm­lich aus den Rei­hen der Ghil­zai. Der heu­ti­ge Prä­si­dent Afgha­ni­stans, Hamid Kar­zai, gehört dage­gen dem Dur­ra­ni-Unter­clan der Popal­zai an und ist ein Nach­fah­re von Ach­mad Schah Durrani.

Es wäre ein fata­ler Irr­tum, sol­che Stam­mes­struk­tu­ren als »mit­tel­al­ter­lich« abzu­tun, denn damit ist ja die Vor­stel­lung der Rück­stän­dig­keit ver­bun­den und die Über­zeu­gung, die­se Struk­tu­ren im Zuge der »Moder­ni­sie­rung« durch nati­on-buil­ding über­win­den zu kön­nen. Stam­mes­struk­tu­ren sind viel­mehr in der Moder­ne ange­kom­men. In Karat­schi leben heu­te rund ein­ein­halb Mil­lio­nen Pasch­tu­nen, die das pri­va­te Trans­port­we­sen beherr­schen. Pasch­tu­nen sind welt­weit online ver­netzt (www.pashtunforums.com).

Die trans­na­tio­na­len Stam­mes­netz­wer­ke geben den Stam­mes­ge­nos­sen Vor­tei­le, die kei­ne natio­na­le Zuge­hö­rig­keit bie­ten könn­te. Daher resü­miert der Ori­en­ta­list Oli­vi­er Roy: »Die Stäm­me sind zur Welt hin offen. Das Stam­mes­sys­tem ver­schwin­det nicht, es paßt sich der Glo­ba­li­sie­rung und den supra­na­tio­na­len Ideo­lo­gien an. Der Stamm exis­tiert wei­ter und greift auf die gan­ze Welt über, was oft mit wirt­schaft­li­cher Glo­ba­li­sie­rung ein­her­geht (Betei­li­gung am Dro­gen­han­del, an Schmug­gel, an Arbeits­mi­gra­ti­on)«. Die Tali­ban nut­zen jeden­falls die Ver­net­zung der Stam­mes­struk­tu­ren gewinn­brin­gend zur Erhe­bung von Zöl­len bei Dro­gen­an­bau und Schmuggel.

Isla­mi­sche Solidarität

Der Islam stif­te­te bereits in der Zeit vor den euro­päi­schen Inter­ven­tio­nen den Zusam­men­halt ver­fein­de­ter pasch­tu­ni­scher Stäm­me beim Wider­stand gegen die Herr­schaft der Moguln in der zwei­ten Hälf­te des 16. Jahr­hun­derts. Der Mecha­nis­mus der kom­ple­men­tä­ren Oppo­si­ti­on, durch das eini­gen­de Band des Islam ver­stärkt, könn­te eine grenz­über­grei­fen­de Soli­da­ri­sie­rung der Völ­ker Afgha­ni­stans und teil­wei­se Paki­stans gegen den Wes­ten zustan­de brin­gen. Die schwer zu über­wa­chen­de afgha­nisch-paki­sta­ni­sche Staa­ten­gren­ze (Durand-Linie) geht mit­ten durch das Gebiet der Pasch­tu­nen, von denen sie nicht aner­kannt wird. Ghil­zai-Noma­den kön­nen sie unge­hin­dert über­que­ren. Sie wur­de 1893 auf bri­ti­schen Druck hin gezo­gen, um die Pasch­tu­nen zu schwä­chen und Bri­tisch-Indi­en bes­ser zu schüt­zen. Das Prin­zip der Staats­gren­ze wird durch die Stam­mes­struk­tu­ren auf bei­den Sei­ten und die gemein­sa­me isla­mi­sche Basis aus­ge­höhlt. Es ist nicht ver­wun­der­lich, daß bei­spiels­wei­se der paki­sta­ni­sche Geheim­dienst Inter-Ser­vices Intel­li­gence (ISI) im Macht­po­ker zwi­schen Paki­stan und Indi­en um regio­na­len Ein­fluß und Zugriff auf die Roh­stoff­vor­kom­men Zen­tral­asi­ens eine Dop­pel­rol­le spielt – einer­seits wer­den die Tali­ban ver­deckt unter­stützt, ande­rer­seits stellt sich Paki­stan an die Sei­te der USA im Kampf gegen den inter­na­tio­na­len Ter­ro­ris­mus. Ver­wun­der­lich ist viel­mehr, daß sich Poli­ti­ker und Jour­na­lis­ten dar­über immer noch wundern.

Wem nützt der Ein­satz in Afghanistan?

Wah­rend der Zeit des Gre­at Game fürch­te­te Groß­bri­tan­ni­en um sei­ne Herr­schaft in Bri­tisch-Indi­en. Mit dem ang­lo-rus­si­schen Abkom­men von 1907 wur­de ein Inter­es­sen­ab­gleich in Zen­tral­asi­en ver­ein­bart, der aber schon 1918 mit Lenins Auf­ruf an die Mas­sen Asi­ens, dem bol­sche­wis­ti­schen Bei­spiel zu fol­gen, wie­der auf­ge­kün­digt wur­de. Nach dem Zwei­ten Welt­krieg schied Groß­bri­tan­ni­en end­gül­tig als »Spie­ler« aus. Die Neu­auf­la­ge des Gre­at Game seit der Zeit um die Jahr­tau­send­wen­de steht im Zei­chen der Brze­zinski-Dok­trin, der Siche­rung der welt­po­li­ti­schen Vor­macht­stel­lung der USA auch durch Kon­trol­le der poli­ti­schen Lage in Zen­tral­asi­en. Chi­na, Indi­en und Ruß­land sind die Gegen­spie­ler der USA und ihrer Verbündeten.

Die wah­re Auf­ga­be der von der poli­ti­schen Klas­se zweck­ent­frem­de­ten Bun­des­wehr in Afgha­ni­stan ist es, dort den Inter­es­sen der USA zu die­nen. Den Kol­la­te­ral­nut­zen haben fer­ner die Staa­ten der Shang­hai­er Orga­ni­sa­ti­on für Zusam­men­ar­beit (Chi­na, Ruß­land, Usbe­ki­stan, Kasach­stan, Kir­gi­stan und Tadschi­ki­stan), die die Gefahr isla­mis­ti­scher Auf­stän­de in ihren Ter­ri­to­ri­en fürch­ten. Peter Scholl-Latour hat auf die­sen, in den Medi­en kaum beach­te­ten Aspekt hin­ge­wie­sen: »Durch die Prä­senz der Bun­des­wehr in Afgha­ni­stan wird nicht Deutsch­land am Hin­du­kusch ver­tei­digt, son­dern die Rus­si­sche Föde­ra­ti­on und ihre Kli­en­ten … ein Ver­sa­cken der NATO in Afgha­ni­stan ent­spricht den objek­ti­ven Inter­es­sen Mos­kaus. An die Adres­se der unbe­lehr­ba­ren Stra­te­gen des Wes­tens rich­te­te ein enger Bera­ter Putins die gro­be Auf­for­de­rung: ›You’ll have to eat your own shit‹«.

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