Zehn Jahre in Schnellroda

49pdf der Druckfassung aus Sezession 49 / August 2012

von Ellen Kositza und Götz Kubitschek

Zehn Jahre in Schnellroda, zehn Jahre Leben und Arbeit am und im Rittergut – vielleicht ein Zehntel der Leser war schon vor Ort, vor allem die jüngeren kennen das Gut, weil sie im »Großen Raum« an einer der Akademien des Instituts für Staatspolitik teilnahmen. Auch kommt jeden Monat wenigstens ein spontaner Besucher vorbei: rollt auf den Hof, steigt aus, schaut sich um, hat zwei Flaschen Wein dabei, quartiert sich im Gasthof »Zum Schäfchen« ein und bleibt bis zum andern Morgen

Ellen Kositza

Ellen Kositza ist Literatur-Redakteurin und Mutter von sieben Kindern.

Man spricht über Poli­tik, über »die Lage«, manch­mal über Lek­tü­re, meist über das Leben hier in Mit­tel­deutsch­land: über das Leben in dem Kaff fern­ab jener Boom-Regio­nen und Ent­wick­lungs­leucht­tür­me, an denen sich die Hoff­nung und das Selbst­wert­ge­fühl des Ostens fest­ma­chen. Wäh­rend wir erzäh­len und die Sache auf den Punkt zu brin­gen ver­su­chen, pen­delt die Waa­ge hin und her. War es rich­tig? Aber wer ist schon objek­tiv, wenn er sich für die­ses oder jenes Leben ent­schie­den hat? Sind wenigs­tens die Zah­len objektiv?

Fünf­tau­send Euro: Das ist der Preis für einen reno­vie­rungs­be­dürf­ti­gen, aber soli­den Bau­ern­hof, den sich ein Groß­grund­be­sit­zer unter den Nagel riß, um das teu­re Land zu bekom­men. Die Gebäu­de samt Innen­hof stößt er nun wie­der ab: für fünf­tau­send Euro, und man kann noch han­deln. Wer solch einen Hof kauft, hat kei­ne Schul­den, aber eine Men­ge Arbeit und kaum Chan­cen, sei­nen Besitz irgend­wann auf der Bank für einen Kre­dit ein­zu­set­zen. Nach »objek­ti­ven« Kri­te­ri­en ist sein Eigen­tum wenig wert.

Ein Euro fünf­zig: soviel kos­tet ein Bier in der Knei­pe. Ein rie­si­ger Tel­ler Brat­kar­tof­feln mit Spie­gel­eiern und Zwie­beln ist für vier Euro zu haben. In Mün­chen oder Frank­furt – das Drei­fa­che? Aber dort nimmt ein Klemp­ner auch fünf­zig Euro die Stun­de, hier fünf­und­zwan­zig, und geputzt wird im Kran­ken­haus für fünf Euro, wäh­rend in Offen­bach nie­mand für weni­ger als fünf­zehn Euro einen Besen in die Hand nimmt. Der Mau­rer, der samt Frau und Kind vor Jah­ren nach Ulm zog, hat unterm Strich am Monats­ende nicht mehr oder weni­ger übrig als zuvor, er hat es uns bestä­tigt: Aber er wird pünkt­lich bezahlt und lebt in dem befrie­di­gen­den Gefühl, Stun­de um Stun­de nicht zwölf, son­dern zwan­zig Euro wert zu sein.

Reich­ten die­se acht Euro aus, um eine ganz und gar in der Regi­on ver­wur­zel­te Fami­lie in den Süden zu locken, und zwar nicht an ein For­schungs­zen­trum in Kon­stanz, son­dern zum Mau­ern, Ver­put­zen und Tro­cken­bau­en? Nein, so kom­men wir nicht weiter.

Der Ver­gleich der Sit­ten und Gewohn­hei­ten im süd­lichs­ten Sach­sen-Anhalt mit denen, die wir aus unse­ren Hei­mat­re­gio­nen ken­nen, fällt nicht mehr so pau­schal aus, wie uns das zunächst vor­kam. Vie­les, was wir als typisch für den Osten begrei­fen woll­ten (bis heu­te kaum hin­nehm­bar man­che Derb­heit, posi­tiv man­ches volks­tüm­li­che Deri­vat), hat sei­ne Ursa­che in einem ande­ren Gegen­satz – meist dem zwi­schen Stadt und Land, dem zwi­schen Bür­ger­lich­keit und Pro­le­ta­ri­sie­rung und gele­gent­lich dem zwi­schen eher nord- und eher süd­deut­schem Wesen. Pro­tes­tan­tisch nüch­tern ist unse­re mit­tel­deut­sche Regi­on aber nicht: Hier, im Kern­land Luthers, zwi­schen Eis­le­ben und Mer­se­burg, Hal­le und Quer­furt sind die Spu­ren pro­tes­tan­ti­scher Arbeits­ethik längst getilgt. Und »nüch­tern« mag man die ernüch­ter­te Stim­mung nicht nen­nen wollen.

Die red­se­li­ge Mit­teil­sam­keit, der jovia­le Ton, die Ver­bind­lich­keit der Rede, auch die Groß­zü­gig­keit in vie­ler Hin­sicht: Kubit­schek ist mit sol­chen kom­mu­ni­ka­ti­ven Gleit­mit­teln im Süden der Repu­blik auf­ge­wach­sen. An Wohl­stand und Satt­heit sei­ner Hei­mat kann es nicht allein lie­gen. Schon im gleich­falls satu­rier­ten Rhein-Main-Gebiet – Kositz­as Revier – gibt man sich wesent­lich sprö­der. Oder neh­men wir umge­kehrt Dres­den, wo wir ein andert­halb­jäh­ri­ges Inter­mez­zo ein­leg­ten: Die Bewoh­ner der Elb­me­tro­po­le glän­zen – was Zuge­wandt­heit betrifft – als »Süd­ler«. Sowohl in Zufalls­ge­sprä­chen auf der Stra­ße als auch auf Ämtern und in öffent­li­chen Ein­rich­tun­gen ist die­se grund­sätz­li­che säch­sisch-höfi­sche Geneigt­heit mei­len­weit von dem Gesprächs­mo­dus ent­fernt, den wir zwi­schen Halle/Saale, Nord­hau­sen und Naum­burg aus­ma­chen kön­nen und müssen.

Anruf bei Behör­de XY: »Kowa­lek!!!« – »Ah, guten Tag, bin ich wohl rich­tig bei Ihnen? Ich woll­te nach­fra­gen wegen Vor­gang Z, dem Sta­tus mei­ner Anfra­ge vom Sound­so­viel­ten?« (Das Gespräch wird wort­los unter­bro­chen, eine Wei­ter­lei­tungs­me­lo­die ertönt.) »Schnei­der!?« – »Tag, ich rufe an wegen Vor­gang Z und möch­te mich erkun­di­gen, ob er schon bear­bei­tet ist, ich habe die Papie­re vor zwei Wochen zu Ihnen geschickt.« – »Weiß ich jetzt nicht!« – »Wen könn­te ich denn dazu befra­gen?« – »(Tie­fes Seuf­zen) Name?« – »Mei­nen Namen mei­nen Sie?« »Ja, wem sei­ner sonst? … Nee, das liegt noch im ers­ten Stock.« – »Ach so. Mir macht die Frist Sor­ge. Der Antrag muß ja bis Mon­tag nächs­ter Woche bear­bei­tet sein. Könn­te ich Ihnen das viel­leicht zufa­xen, um den Vor­gang zu beschleu­ni­gen?« – »Bringt nichts. Unser Fax steht im ers­ten Stock, wir krie­gen die Sachen jeden Frei­tag auf den Tisch.« – »Hm. Was schla­gen Sie vor? Oder könn­ten Sie viel­leicht aus­nahms­wei­se ein­mal in den ers­ten Stock …« – »Ist unüb­lich, aber bit­te …« – »Das ist sehr nett von Ihnen. An wen darf ich das Fax rich­ten? Reicht Frau Schnei­der? Soll ich Ihren Vor­na­men mit dazu­schrei­ben?« – »(Schnau­fen) Mein Vor­na­me geht Sie gar nichts –« Klick.

Unser Bun­des­land schmückt sich mit dem frag­los hüb­schen Slo­gan »Wir ste­hen frü­her auf«. Gemes­sen am bun­des­wei­ten sta­tis­ti­schen Durch­schnitt, beginnt der Sach­sen-Anhal­ter (der eben kein Sach­sen-Anhal­ti­ner ist, was oft miß­ach­tet wird) sei­nen Tag mit neun­mi­nü­ti­gem Vor­sprung. Gemäß PR-Phi­lo­so­phie macht das unse­re Lands­leu­te zu beson­ders »auf­ge­weck­ten Men­schen« mit einer damit ver­bun­de­nen »vor­teil­haf­ten Geis­tes­hal­tung.« Gefühlt han­delt es sich im All­tag dabei nicht um Minu­ten, son­dern um eine gute Stun­de, und voll­stän­dig haben wir uns an die­sen vor­ge­zo­ge­nen Tages­ab­lauf noch nicht gewöhnt. Hand­wer­ker rücken um halb sie­ben Uhr an, das Mit­tag­essen (hier: »Mitt­ach­brot«) im Kin­der­gar­ten (an dem unse­re Kin­der trotz des ver­füh­re­ri­schen Kan­ti­nen­na­mens »Volks­so­li­da­ri­tät« nicht teil­neh­men) fin­det Punkt »ölf« statt, Nach­mit­tags­ver­an­stal­tun­gen begin­nen, wenn wir mit dem Mit­tag­essen fer­tig sind, und wer abends kurz nach acht (hier: Vier­tel neun) noch bei Nach­barn klin­gelt, dem wird manch­mal im Schlaf­an­zug geöff­net, wenn über­haupt noch.

Die ers­te Schul­stun­de der Grund­schü­ler beginnt um 7 Uhr 20. Demo­gra­phisch bedingt und aus einer kurz­sich­ti­gen Spar­sam­keit her­aus (die Lan­des­her­ren inves­tie­ren mit Vor­lie­be in soge­nann­te grü­ne Ener­gien) wer­den seit der Wen­de mehr und mehr Schu­len geschlos­sen, die Schü­ler haben immer wei­te­re Anfahrts­we­ge, ins Quer­fur­ter Gym­na­si­um bis zu einer Stunde.

Gele­gent­lich unken wir über einen Zusam­men­hang von Früh­auf­ste­he­rei und jener berühm­ten Voll­be­schäf­ti­gung, mit der sich die DDR schmück­te. Älte­re Dorf­be­woh­ner kol­por­tie­ren, daß je einem Bag­ger in der Braun­koh­le­gru­be sie­ben Arbei­ter zuge­teilt waren: Einer fuhr, einer lös­te ihn gele­gent­lich ab, einer koor­di­nier­te von außen, einer reich­te Bem­men (orts­üb­lich für Schnit­ten, Bro­te) und Kaf­fee, einer über­wach­te das Gan­ze – und zwei wei­te­re stan­den zur beson­de­ren Ver­wen­dung bereit und stei­ger­ten die gute Laune.

Unse­re Lan­des­haupt­stadt Mag­de­burg besticht durch Häß­lich­keit. Was die alli­ier­ten Bom­ber nicht schaff­ten, haben Nach­kriegs­ar­chi­tek­tur und Städ­te­pla­nung der Nach­wen­de­zeit voll­endet. Wir ken­nen ähn­li­che Sze­ne­rien aus Darm­stadt, Pforz­heim oder Würz­burg. Mit dem Unter­schied, daß die­se Städ­te pul­sie­ren, wäh­rend Mag­de­burg in sei­ner frucht­ba­ren Bör­de liegt wie auf dem Ster­be­bett: Geblie­ben sind vor allem jene, die ihre Arbeits­kraft wei­ter west­lich nicht bes­ser bezahlt bekommen.

Der Gol­de­ne Rei­ter, ein Wahr­zei­chen der Haupt­stadt und als deutsch­land­weit ers­tes Rei­ter­stand­bild ver­las­sen an otto­ni­sches Erbe erin­nernd, steht kläg­lich auf dem wochen­ends men­schen­lee­ren Rat­haus­vor­platz, sekun­diert von einer Rolands­fi­gur. Der alte Roland stamm­te aus dem 15. Jahr­hun­dert, der neue wur­de 2005 auf­ge­stellt. Play­mo­bil hat ihn nicht gespon­sert, den­noch schaut er so aus. Kei­ne Bank lädt zum Ver­wei­len ein, nicht ein­mal Blu­men­kü­bel wah­ren die Form des Gru­ßes vom Heu­te ins Ges­tern. In der Nach­bar­schaft: ein Spar­kas­sen­bau und ein Kar­stadt, bei­de in je insti­tu­ti­ons­üb­li­cher Häßlichkeit.

Aber: Mag­de­burg ver­fügt über ein Gen­der­kom­pe­tenz­zen­trum. Nicht alles war schlecht in der DDR, sagt man, und meint damit neben dem Grü­nen Pfeil und der Heiz­wär­me auf Staats­kos­ten die soge­nann­te Gleich­be­rech­ti­gung. Die »Krip­pen­land­schaft« war nicht bunt, aber soli­de, das gilt wie die ein­her­ge­hen­de hohe Frau­en­er­werbs­quo­te bis heu­te. Die ost­deut­sche Frau ist Avant­gar­de, das wird als mut­maß­li­cher Stand­ort­vor­teil sel­ten betont. Die Sta­tus­be­zeich­nung »Haus­frau«, genannt auf amt­li­ches wie per­sön­li­ches Befra­gen, wird mit jenem Inter­es­se kom­men­tiert, das im Zoo exo­ti­schen Tie­ren gilt: »Also arbeits­su­chend, ja, oder wie mei­nen Sie das?« Nicht sel­ten anzu­tref­fen ist hier fol­gen­de Kon­stel­la­ti­on: Sie: Leh­re­rin, Beam­tin in mitt­le­rem bis geho­be­nem Rang, Klein­un­ter­neh­me­rin oder lei­ten­de Ange­stell­te, er: arbeits­los, Mel­ker, Hand­wer­ker, LKW-Fah­rer, häu­fig aber Bau­ar­bei­ter auf Mon­ta­ge. Schwarz­ar­beit ist üblich. Mehr Väter als Müt­ter vor dem Kin­der­gar­ten­tor. Wenn Ehrun­gen anste­hen, bekommt er Blu­men wie sie, und kei­ner grinst verlegen.

Der übli­che rohe Aus­druck für den Nach­wuchs lau­tet »Wäns­ter« (Dick­bauch). Unse­re sie­ben sind im Dorf und den Nach­bar­or­ten in quan­ti­ta­tiv rei­cher Gesell­schaft, mehr als die Hälf­te unse­rer Gene­ra­ti­ons­ge­nos­sen hier hat drei oder mehr Kin­der. Inter­es­sant die Namens­wel­len: Die Mad­lens, Nikolls, Devids und Sin­dys, die sich spre­chen, wie sie geschrie­ben wer­den, besu­chen bereits das Gym­na­si­um, die der­zei­ti­gen Neu­an­kömm­lin­ge hei­ßen Wil­helm oder Augus­ti­ne wie im Prenz­lau­er Berg. Es ist nicht immer deut­lich, war­um man­che Städ­te und Ort­schaf­ten demo­gra­phisch strot­zen, bau­li­che Sub­stanz und Infra­struk­tur lebens­wert erhal­ten haben wie Quer­furt und Naum­burg, wäh­rend ande­re (wie die Nova­lis-Stadt Wei­ßen­fels oder die Luther­stadt Eis­le­ben) küm­mer­li­chen Reser­va­ten gleichen.

Was für ein Land­strich aber! Eine Korn­kam­mer, frucht­bars­te Plan­qua­dra­te, auf denen Getrei­de und Mais, Raps und Son­nen­blu­men, Zucker­rü­ben und Kar­tof­feln, Fut­ter­erb­sen und Run­keln gedei­hen; his­to­ri­scher Boden: das Herz­land der Otto­nen mit der Saal­e­fes­tung Mer­se­burg gegen Osten, dem Haus­gut Mem­le­ben, den Pfal­zen All­stedt und Til­le­da, der Burg Quer­furt, den War­ten und Grenz­stei­nen; frü­hest besie­delt, das bele­gen die »Him­mel­sor­te« Nebra (mit der »Son­nen­schei­be«), Lan­gen­eich­städt (»Dol­men­göt­tin«), Gos­eck (»Son­nen­ob­ser­va­to­ri­um«) und das Muse­um für Vor- und Früh­ge­schich­te in Hal­le, die­ser wuch­ti­ge, archi­tek­to­nisch kon­ser­va­tiv-revo­lu­tio­nä­re Bau, in dem gesam­melt und aus­ge­stellt wird, was sich fand in unse­rem Raum. Das Rasen-Laby­rinth von Steigra, eines von zwei erhal­te­nen in Deutsch­land, hat es nicht bis in die Rou­te der »Him­mel­sor­te« geschafft, aber es ist Anlaß für eines der schöns­ten Früh­lings­fes­te, das wir kennen.

In der Unstrut kann man schwim­men, bei Burg­schei­dun­gen begrenzt sie den Hang­gar­ten des Schlos­ses, das mit bizar­ren Gestal­ten und Kalk­stein­köp­fen bestückt ist. Hier, unter­halb, in den nas­sen Wie­sen, auf denen im Früh­jahr das Was­ser in Seen steht, unter­la­gen die Thü­rin­ger 531 den Fran­ken und Sach­sen in einem furcht­ba­ren Gemet­zel und büß­ten ihre Macht­stel­lung unter den deut­schen Stäm­men ein. Und fast genau fünf­hun­dert Jah­re spä­ter ver­wei­ger­te der Otto­ne Hein­rich I. nach jah­re­lan­ger Vor­be­rei­tung den Ungarn den Tri­but und ver­nich­te­te bei Kalbs­rieth oder Groß­kay­na – jeden­falls nicht weit von uns – das erneut plün­dern­de Rei­ter­heer aus dem Osten. Vor Roß­bach bei Wei­ßen­fels ritt dann 1757 der jun­ge Gene­ral­leut­nant von Seyd­litz mit sechs­tau­send preu­ßi­schen Kür­as­sie­ren die Fran­zo­sen samt Reichs­exe­ku­ti­ons­ar­mee in Grund und Boden und ver­schaff­te sei­nem König, Fried­rich II., einen glän­zen­den Sieg.

Teu­er und rar ist der Saa­le-Unstrut-Wein, aber es muß doch ab und zu eine Fla­sche auf­ge­zo­gen wer­den: Höl­der heißt die Rebe, die hier noch auf zwei Hekt­ar wächst und den Namen eines schwä­bi­schen Dich­ters trägt. In unse­rem Gar­ten indes gedeiht an drei Stö­cken die ­Hecker-Rebe – frost­hart und benannt nach dem badi­schen Revolutionär.

Indes: Die Unstrut liegt zu weit weg, als daß man mor­gens oder wann immer zu Fuß oder mit dem Fahr­rad ans Ufer gelan­gen und hin­ein­sprin­gen könn­te, um ganz wach oder wie­der küh­len Kop­fes zu wer­den. Schnell­ro­da: das ist die Quer­fur­ter Plat­te, leer­ge­ro­det, weil jeder Qua­drat­me­ter Boden bes­te Ern­te garan­tiert. Para­die­sisch sind die stau­bi­gen Wirt­schafts­we­ge, gesäumt von Alleen, in denen nie­mand mehr die Kir­schen, Äpfel und Bir­nen ern­tet. Es weht ste­tig: eine Wind­rä­der­ge­gend, tro­cke­nes Land – nie haben wir wind­ge­bro­che­nes Korn ver­der­ben, nie fri­sches Heu ver­fau­len sehen.

Anfang 2002 hat­ten wir mit der Suche nach einem Haus begon­nen. Bis zum Som­mer woll­ten wir es gefun­den haben. Ers­tens, weil die Ein­schu­lung der ältes­ten Toch­ter anstand, zwei­tens, weil die Dresd­ner Woh­nung knapp wur­de. Das vier­te Kind hat­te sich ange­kün­digt, die Heb­am­me erklär­te sich bereit, ger­ne auch auf einer Bau­stel­le ihre Arbeit zu ver­rich­ten. Sie habe schon zwi­schen Kalk­sä­cken und ohne flie­ßend Warm­was­ser gehol­fen; kein Pro­blem also. Daß wir als Frei­schaf­fen­de ört­lich nicht gebun­den waren, ent­grenz­te die Suche und stell­te uns vor die Qual der Wahl. Nach sechs, sie­ben Dut­zend mal detail­liert, mal kur­so­risch begut­ach­te­ten Drei­seit­hö­fen, ver­fal­le­nen Vil­len und still­ge­leg­ten Kin­der­hei­men in Bran­den­burg, Sach­sen und Thü­rin­gen (zu ein­sam, zu bedrängt, neben einer Schwei­ne­mäs­te­rei, mit Aus­sicht auf einen Super­markt, mit Arbeits­ge­räu­schen im Dach­ge­bälk, mit vier­und­zwan­zig lei­der neu ein­ge­bau­ten Plas­tik­fens­tern inklu­si­ve vor­ge­setz­tem Rol­la­den­kas­ten) leg­ten wir säu­ber­lich eine Kri­te­ri­en­lis­te an, nach Prio­ri­tä­ten geord­net. Wün­sche wie »Fluß/See in unmit­tel­ba­rer Nähe«, »gefäl­li­ger Dia­lekt«, »Grund­schu­le am Ort«, »Auto­bahn­an­schluß unter 20 km«, »Ent­fer­nung von Groß­el­tern max. drei Stun­den« stan­den weit oben.

Die Land­krei­se rund um Dres­den stan­den hoch im Kurs, doch das galt lei­der auch für die Lage der ins Auge gefaß­ten Häu­ser auf dem Immo­bi­li­en­markt. Wir such­ten per Mak­ler, per regio­na­ler Zwangs­ver­stei­ge­rungs­lis­te und in ein­schlä­gi­gen Inter­net-Foren; die schöns­ten Haus­fun­de bescher­te uns stets der Quar­tals­ka­ta­log der Säch­si­schen Grund­stücks­auk­ti­on. Wel­che Leben in wel­chen Gemäu­ern, in wel­cher Umge­bung haben wir uns schon her­bei­ge­ahnt! Das – oft heim­li­che – Bege­hen längst ver­las­se­ner, teils rui­nö­ser Lebens­stät­ten ist uns bis heu­te eine Lei­den­schaft geblie­ben: über jahr­hun­der­te­al­te Mau­ern klet­tern, sich win­den durch Gar­ten- und Park­ge­strüpp, ein Por­tal bestau­nen, eine zer­bro­che­ne Fens­ter­schei­be ent­de­cken – und hin­ein in ein Leben, das war und das, modi­fi­ziert, wie­der mög­lich wäre; hier steht noch die Bade­wan­ne mit Bol­ler­ofen, dort ein Schrank vol­ler Geschirr, eine Mäu­se­fa­mi­lie flüch­tet aus den Kis­sen eines Sofas, da liegt Schrift­kram, Schul­zeug­nis­se von 1987 zwi­schen Akten­de­ckeln. Hier wur­de gestor­ben, hier wur­de gebo­ren, hier wur­den Leben gemeis­tert, tau­send Gerü­che hän­gen in den Wän­den. Wir haben Vil­len inspi­ziert und Guts­häu­ser, die uns bis heu­te gute Freun­de sind, sie ste­hen immer noch leer, sie ste­hen nahe­zu tro­cken, ihr Abriß wäre zu teuer.

Als Anfang Juni 2002 ein Rit­ter­gut in Schnell­ro­da annon­ciert wur­de, notier­ten wir: »evtl. kurz anschau­en«, es lag mehr zufäl­lig auf einer wei­te­ren Besich­ti­gungs­tour, und weil die Adres­se auf »Haupt­stra­ße« lau­te­te, stand es nicht zur enge­ren Wahl. Kin­der- und Stra­ßen­lärm zugleich, das wäre um einen Fak­tor zu laut. Sie­ben, acht Häu­ser stan­den an jenem Wochen­en­de auf dem Plan. Dann das Ergeb­nis: »Alles halb gut, bis auf Schnell­ro­da = fast per­fekt.« Zwar ohne See/Fluß, ohne Grund­schu­le (die befand sich noch nach der Wen­de im Rit­ter­gut), ohne gefäl­li­gen Dia­lekt, ohne Groß­el­tern- und Auto­bahn­nä­he. Wir fuh­ren wie­der hin, noch ein­mal. 21 Räu­me, teils durch Leicht­bau­wän­de abge­teilt, die Decken zwecks bes­se­rer Heiz­bar­keit abge­hängt, umge­ben von Mau­ern, die teils dem 13., teils dem 17. Jahr­hun­dert ent­stam­men. Wir hoben nicht den PVC-Belag und die Dach­pap­pe zu unsern Füßen (dar­un­ter teils feins­tes Par­kett), wir zer­schlu­gen nicht pro­be­wei­se die Decken­ab­hän­gung (dar­un­ter eine Renais­sance­de­cke), wir kauf­ten Ende Juni die Kat­ze im Sack. Gott sei ­Dank, wir haben es nie bereut.

Über­haupt: Was könn­te es zu bereu­en geben, wenn man jeden Tag alle Hän­de voll zu tun hat und gar nicht ins Grü­beln kom­men kann, ob die­ser Ort nun der rich­ti­ge sei? Ent­we­der kennt man den Wunsch, irgend­wann mit der Suche auf­hö­ren zu dür­fen, eine Ent­schei­dung tref­fen und anfan­gen zu kön­nen, oder man kennt die­se grund­le­gen­de Lebens­hal­tung nicht und bleibt gewis­ser­ma­ßen vor­läu­fig. Wer in einer Kirsch­al­lee von Baum zu Baum und immer wei­ter geht, weil er die idea­le Frucht nicht fin­den kann, muß sich irgend­wann ein­ge­ste­hen, daß ihm die­ses Gehen am Her­zen liegt, nicht das Ern­ten – nicht das Blei­ben, son­dern das Wei­ter­zie­hen und das unbe­stimm­te Hof­fen dar­auf, daß irgend­wo und irgend­wann das ganz und gar Rich­ti­ge sich ein­stel­len werde.

Aber: Es stellt sich fast nie ein, die­ses Rich­ti­ge, es fällt einem nicht zu, es fällt nicht mit der Tür ins Haus. Es ist viel­mehr, als kön­ne man das, was sich inein­an­der­fügt, her­an­ar­bei­ten, indem man Haus und Arbeit, Leben und Erschöp­fung, Erfolg und Demut immer bes­ser und irgend­wann ganz selbst­ver­ständ­lich auf­ein­an­der abstimmt und zuein­an­der in die Waa­ge bringt. Man muß ein­fach irgend­wo anfan­gen. Und dies begreift fast jeder Besu­cher, der aufs Rit­ter­gut kommt.

Ellen Kositza

Ellen Kositza ist Literatur-Redakteurin und Mutter von sieben Kindern.

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