der Mitte wäre es an der Zeit für ein radikales ästhetisches Programm, Zeit also für die Absage an Discounter-Qualitäten im weitesten Sinne, an das Dauerlächeln der Moderatoren wie an die alles und jeden inkludierende Einheitsbildung der als Rettungsprojekt gepriesenen Ganztagsschulen mit ihrer heilen Welt hinter Glas.
„Projekte“ sind Inszenierungen; sie halten das stets dramatische Leben fern. Die um sich greifende geistig-sprachliche Legasthenie, einhergehend mit zunehmender körperlicher Degenerierung, führte bislang in die sozialen Betreuungsprogramme der Transfer-Gesellschaft und in die Dialyse-Zentren des medizinisch-industriellen Komplexes. Nach dem vorläufigen Ende der Ideologien ist die richtige Einstellung offenbar nur noch eine pharmazeutische Frage. Der europäische Mensch scheint schon der Form nach am Ende, ansehnlich noch in seiner Karikatur als Spieler, etwa in Trendsportarten. Allerdings bleibt er auch als solcher häufig in einem erschreckenden Infantilismus gefangen, dem der Impuls des Erwachsenwerdens fehlt, weil Erlebnis und Bewährung fehlen. Was mag etwa für ein Zeichen darin zu sehen sein, daß immer mehr ADHS diagnostiziert wird. Einerlei, ob die Diagnosen stimmen, handelt es sich um ein kulturelles Phänomen.
Vermutlich wäre im weitesten Sinne hartes Training nötig, aufzufassen in der Bedeutung des aussterbenden Begriffes der Ertüchtigung, also das Beleben der purpurnen Flüsse, der Neustart der Hirne, das Wiederentdecken von Leistungsvermögen und die Erfahrung, daß viel mehr geht, als man gemeinhin denkt, ja sogar daß mit der Plackerei der Genuß erst beginnt.
„Es bedürfte zu jenem Ziele einer anderer Art Geister, als gerade in diesem Zeitalter wahrscheinlich sind: Geister, durch Kriege und Siege gekräftigt, denen die Eroberung, das Abenteuer, die Gefahr, der Schmerz sogar zum Bedürfnis geworden ist; es bedürfte dazu der Gewöhnung an scharfe hohe Luft, an winterliche Wanderungen, an Eis und Gebirge in jedem Sinne, es bedürfte dazu einer Art sublimer Bosheit selbst, eines letzten selbstgewissesten Mutwillens der Erkenntnis, welcher zur großen Gesundheit gehört, es bedürfte, kurz und schlimm genug, eben dieser großen Gesundheit!“ (Nietzsche, Zur Genealogie der Moral. Eine Streitschrift.) –
Was daran metaphorisch sein mag, wäre zu überlegen. Nicht alles jedenfalls. Man wird ein solches Ansinnen sogleich als faschistisch diffamieren, insofern Nietzsche selbst von den allzu schnell Erschrockenen oder allzu Wohlmeinenden als Protofaschist angesehen wurde. Abgesehen davon, daß der Philosoph mindestens in der philiströsen Anhängerschaft der Diktaturen des vorigen Jahrhunderts eher den letzten Menschen, den Massenmenschen, gesehen hätte, darf man sich den Vorwurf, Faschist zu sein, mittlerweile eher als die Auszeichnung gefallen lassen, in der Kritik an den Umständen in etwa schon richtig zu liegen.
Beginnend mit dem Heranwachsen: Die sogenannten Gymnasien, einst Garanten des Höchsten, was Schulbildung zu bieten hatte, quantifizieren dienstleistend die Talentarmen, weil die kaum mehr zu qualifizieren sind, und lassen wegen hohen sozialpädagogischen Aufwandes die wenigen Talentierten im Stich. Abschlüsse werden aus politischen Intentionen heraus eher deklariert, als daß sie noch errungen werden müßten. Abi statt Reifeprüfung, Job statt Beruf. Soviel 1,0‑Schnitte wie noch nie! Weshalb dennoch Kompetenzmangel? Nicht allein, daß das elementare Vermögen zu lesen, zu schreiben und zu rechnen immer mehr Absolventen, selbst solchen mit „Hochschulreife“, fehlt, nein, die Schule hilft aus systemischen Gründen kaum mehr dabei, aus Personen handlungsfähige und urteilskräftige Menschen zu erziehen, derer die Demokratie bedürfte, um ihre eigenen Ansprüche erfüllen zu können. Mit Hegel: „Der Mensch ist selbst frei, überhaupt im Besitze seiner selbst, nur durch Bildung.“ (Hegel, Grundlinien, § 57N)
Statt verordneter Inklusion wäre in maßgeblichen Bereichen Selektion angezeigt, nicht allein äußerlich über verbindliche Forderungen, sondern ebenso durch Vertiefung, Konzentration, Muße, Kontemplation – zugunsten derjenigen, die dafür die Veranlagung, die Dimension und den Impetus mitbringen. Möglichst heraushalten aus dem Markt, überhaupt aus den überlebten Strukturen, Bildung im Abseits, gar für sich, gegebenenfalls in zu bildenden Zirkeln jener, die sich noch ein Ziel zu geben verstehen. Das klingt nach kulturellem Widerstand. Aber was wäre anregender als das? – Eben gerade nicht jeden dort abholen, wo er steht, wie ein pädagogischer Lapsus das ausdrückt, sondern auf Anstrengung setzen.
Die Frage, ob zudem körperliche und handwerkliche Arbeit zur Erziehung taugen möge, wird gar nicht mehr gestellt, scheint sie doch sogleich auf den nationalsozialistischen Reichsarbeitsdienst und auf Strafarbeit zu verweisen. Die Erinnerung an Arbeitseinsätze – von Trümmerfrau bis Erntehilfe und sozialistischem Subbotnik – scheint vergessen so wie das Wort “Einsatz” überhaupt allzu militant klingt. Allerdings ließ die Elbflut gerade erfahren, wie sinnstiftend dergleichen ist. Nicht zuletzt als Erlebnis der eigenen Kraft zugunsten der Gemeinschaft und zur Aufrichtung des Selbstwertgefühls. Jenseits der Sicherung des nur individuellen Überlebens oder bestenfalls der eigenen Karriere wird der Begriff der Arbeit und des Dienstes „gesellschaftlich“ überhaupt nicht mehr gebraucht, es sei denn in den kümmerlichen Form des deklassierten „Ein-Euro-Jobbers“ oder unterbezahlten Dauerpraktikanten.
Würden Geist und Kraft als Potentiale der Nation und des Volkes erkannt, förderte man sie, setzte man auf das Vorbild der Besten, erledigte sich der „Fachkräftemangel“ und es gäbe sogar wieder Ingenieure, jene Tatsachenmenschen, denen das Land einst den Status einer Großmacht technischer Intelligenz verdankte. Es gäbe vermutlich überhaupt wieder Ideen vom eigenen Selbst, verbunden mit der Grundkompetenz, morgens tatkräftig aufzustehen – ein Vermögen, das alltagskulturell weitgehend verloren ging. Die hohe Ziffer der Schulabbrecher ist nämlich längst nicht mehr harten Prüfungen geschuldet – Darauf wird zugunsten einfachster “Berufsqualifizierung” längst verzichtet! –, sondern einfach der grassierenden Unfähigkeit, für das, was von der Schule übrig blieb, rein physisch präsent zu sein. – Kräftemangel – dieses Wort bringt den gegenwärtigen gesellschaftlichen Zustand auf einen beredten Begriff! Er verlangt nach: Erkraftung!
Das alles ist ohne einen Akt der Erhebung, zunächst der Selbsterhebung, nicht zu haben. Da Staat und Gesellschaft ihre Werte und Normen an Schwäche und Mittelmaß ausrichten, bedarf es dazu nicht viel, nur einer konsumkritische Bewegung, die statt nur oral fixiert Minderwertiges zu verbrauchen, Qualität produzieren und aufwachen will. Im Sinne des großen Willens. Ja, im weitesten Sinne zur Macht!
Schon der augenfällige Hang zum exotischen Tattoo, also das Bedürfnis, im großen Schwinden mögen überhaupt Zeichen bleiben, für die man investiert, was nirgendwo mehr nötig ist, nämlich den Schmerz, deutet auf die kollektive Sehnsucht nach einem Symbol von Erhabenheit hin, auf den unbewußten Wunsch nach Identifikation mit einem neuen unverwechselbaren Stand, nach kraftvoller Umkehr, die immer zuerst Abkehr bedeutet, als Absage an die Mentalität des trägen Verbrauchens, des bloß reproduzierenden, sich selbst unterhaltenden Stoffwechsels. – Woher rührt ferner die seit ca. zwei Jahrzehnten anhaltende Vorliebe für triviale „Fantasy-Literatur“? Suchen die Leute die Ursprünge, den Kampf, die Bewährung? Bislang nur in ihrer Phantasie, vielleicht aber doch mobilisierbar.
Wer heute nur auf das Serienfernsehen verzichtet, in dem sich die neuen Spießer und Flachdenker selbst bespiegeln, wer wieder nach Gründen und Entwicklung fragt, wer nicht nur geistlos aufnimmt und verdaut, der versammelt sich wie von selbst im kulturellen Widerstand. Wer zunächst nur zweierlei vermeidet – Verfettung und Verblödung –, ist schon Teil einer Bewegung, die die Konsensdemokratie des hedonistischen Kalküls vom Rande her sehr schöpferisch belebt.
Selbst die “Mitte” – in der Zeit des Konvents während der Französischen Revolution die Ebene oder der Sumpf genannt – geriete in wallende Konvulsionen, wenn man ihr mit Verve, mit Leidenschaft, mit neuem Vitalismus Paroli böte. Wie all die politischen Verlautbarungsrhetoriker in Rage gerieten, wo sie sich doch jetzt bereits gegenüber der real existierenden NPD hochempfindlich gerieren. Was wäre die NPD gegen eine Frontstellung von Aktivisten, die sich genau auf das besännen, was als ursprünglich aufklärerischer abendländisch-europäischer Wertekanon von beschaulichen Rednern nur mehr formelhaft ventiliert wird.
Und die Linke? Sie gibt sich damit zufrieden, in einem Kapitalismus mit menschlichem Antlitz saturiert eingerichtet zu sein, indem ihr die Minimalversorgung ihrer Parteigänger versprochen wurde, jener Hier!-Schreier mit Buffet-Mentalität, die mittlerweile die eigenen Bedürfnisse nicht einmal mehr artikulieren, sondern nur noch mit der roten Gewerkschaftspfeife aus billigem Plastik herausträllern können.
Endlich wieder Auseinandersetzung, große Differenzierung, Herstellung von Unterscheidungen. – Eine Bewegung, die nur in sich sofort handelte, sich von der schlaffen Mehrheit absetzte, hätte, wagte sie die Tat, schon gesiegt. Sie müßte sich alsbald nur noch der Überzahl der Konvertiten und Wendehälse, der Anpasser und Opportunisten erwehren, die sogleich die festen Reihen der Garde aufschwemmen wollten, weil all die Mitläufer, nach wie vor in bisheriger Erfahrungslogik handelnd, sogleich Aufstieg und Pfründen witterten.
Der Fehler von Eliten, Gardisten und Parteien neuen Typs lag gerade darin, mit der Aufnahme der “Viel-zu-vielen” (F. Nietzsche) die Sklerose der Bewegung zu riskieren. Nein! Bitte keine Gnade! Nicht mal gegenüber den eigenen Leuten. Kein neuer Erbadel, keine Nomenklatura, keine Zentralkomitees von Geblüt, keine Seilschaften, sondern Anerkennung in der Truppe der Verschworenen nur durch Verdienst und Kompromißlosigkeit in der Haltung.
Haltung ist viel. Sie kompensiert zeitläufige Schwäche und läßt immer Entscheidungen zu. Sie überwindet das Scheitern, selbst wenn man objektiv längst gescheitert ist. Wer das Besondere will, muß stets der Möglichkeit der eigenen Katastrophe gewärtig sein. Von vornherein zu wissen, ja zu erwarten, daß man scheitern und untergehen kann, ja vermutlich gar wird, ist die Eingangsbedingung der Teilnahme an einer offensiv kritischen Bewegung. Durchkommen, Anerkennung finden, Erfolge vermelden, geatzt und versorgt werden, das ist das Vorrecht der Philister, des Pensionärskonservatismus und der Riester-Rentner. Wer das so will, gehört ohnedies zu einer komfortabel lebenden Mehrheit und mag auf deren Seite bleiben. – Nur verändern wird er nichts.
In ihrer von der Natur gesicherten Überzahl sind die mediokren Typen, sind all die im faulen Kompromiß zusammengeschlossenen Nullen eine Macht, die sich notfalls sehr wohl der Guillotine zu bedienen versteht, wenn ihr die allzu wenig Besonderen zu gefährlich wären, und das werden diese Erlesenen schon, sobald sie sich nicht mehr als käuflich und korrumpierbar erweisen.
Selbstbesinnung, Selbstvergewisserung in Klausur und in der Sezession, dann Widerstand des Wortes und der eigenen Tat. Das wäre der Weg. Es gibt derzeit kaum einen Gegner. Wo der stehen müßte, ist Ödland, das besetzt werden sollte. Ödland? Nein, Neuland!
Es mag ein riskanter Gedanke sein, aber wir bedürfen ab und an der großen Erfrischung – und zwar nicht nur die Enthusiasten, sondern ebenso deren Gegner, der gleich ihnen wieder Sinn darin findet, überhaupt ernstzunehmender Gegner zu sein. Gedanklich radikale Bewegungen sind geschichtlich so normal wie notwendig. Will man sich nicht dazu bekennen, muß man sich aber doch dazu verhalten, wenn erst die Unterscheidung offenbar ist, und das geschieht zwangsläufig, erhebt eine Bewegung erst die Stimme, der es mehr als um „Integration“ um Konfrontation zu tun ist:
Das Arterhaltende. – Die stärksten und bösesten Geister haben bis jetzt die Menschheit am meisten vorwärtsgebracht: sie entzündeten immer wieder die einschlafenden Leidenschaften – alle geordnete Gesellschaft schläfert die Leidenschaften ein – , sie weckte immer wieder den Sinn der Vergleichung, des Widerspruchs, der Lust am Neuen, Gewagten, Unerprobten, sie zwangen die Menschen, Meinungen gegen Meinungen, Musterbilder gegen Musterbilder zu stellen. Mit den Waffen, mit Umsturz der Grenzsteine, durch Verletzung der Pietäten zumeist: aber auch durch neue Religionen und Moralen! Dieselbe “Bosheit” ist in jedem Lehrer und Prediger des Neuen, welche einen Eroberer verrufen macht, – wenn sie auch siech feiner äußert, nicht sogleich die Muskeln in Bewegung setzt und eben deshalb auch nicht so verrufen macht! Das Neue ist aber unter allen Umständen das Böse, als das, was erobern, die alten Grenzsteine und die alten Pietäten umwerfen will; und nur das Alte ist das Gute! Die guten Menschen jeder Zeit sind die, welche die alten Gedanken in die Tiefe graben und mit ihnen Frucht tragen, die Ackerbauern des Geistes. Aber jenes Land wird endlich ausgenützt, und immer wieder muß die Pflugschar des Bösen kommen. – Es gibt jetzt eine gründliche Irrlehre der Moral, welche namentlich in England sehr gefeiert wird: nach ihr sind die Urteile “gut” und “böse” die Aufsammlung der Erfahrungen über “Zweckmäßig” und “unzweckmäßig”; nach ihr ist das “gut” Genannte das Arterhaltende, das “bös” Genannte aber das der Art Schädliche. In Wahrheit sind aber die bösen Triebe in ebenso hohem Grade zweckmäßig, arterhaltend und unentbehrlich wie die guten: – nur ist ihre Funktion eine verschiedene. (Friedrich Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft)
Die Reaktion der anderen: Sie werden solche Bewegung zunächst in dem bereits gewohnten Sinne pathologisieren. Als das unmittelbar Böse, was angesichts all der geschichtsdidaktischen Läuterungen in Verlauf und Ergebnis des zwanzigsten Jahrhunderts normalerweise nicht mehr möglich wäre. Tritt es dennoch auf, ist es abnorm und gehört in Quarantäne! Alles Schöpferische sollte darauf eingestellt sein, den Stagnateuren als böse zu gelten.
Dabei sind nicht etwa ein Aufstand, eine Revolution, nicht einmal Demonstrationen nötig, um die ganze Aufmerksamkeit zu bekommen, sondern nur Renitenz und Résistance in der Haltung. Schon gar keine mobilisierten Massen, denn das wäre Aktionismus eines für Augenblicke wild gewordenen Mittelmaßes, kurze Besoffenheit in Entgrenzung, Psychose, rauschhafte Forderung gieriger Verbraucher nach noch besseren Plätzen in den großen Kantinen unterm Dach der sogenannten Marktwirtschaft. Vielmehr braucht es eine kleine Schar, die eine Menge schon dadurch riskiert, daß sie ihre Existenz aufs Spiel setzt, nachdem sie ihren Ruf bereits verloren hat. Das gilt für die Kunst wie für die Politik.
Mag sein, wir stehen in dieser Krise mal wieder vorm Ende der großen Langeweile. Man spiele nach all den Jahren „Winds of Change“ ein – vor verändertem Hintergrund, in ganz neuem Zusammenhang.
albert
Ein spannender Aufsatz - wie immer. Ich stimme Ihrer Analyse auch zu 95% zu.
Allein - mir fehlt die alltagstaugliche, lebensnahe Ausrichtung: Spannung aushalten - Haltung zeigen - konsequent verweigern - Sezession - alles richtig: Nur, was heißt denn das praktisch? Wie sieht so was im Alltag aus?