Und wie stets fielen mir dabei erneut Zusammenhänge auf, die ich bisher nicht bemerkt hatte. Ich lege deshalb hier eine Mini-Serie zu drei Kubrick-Filmen vor – eine Skizze nur, die allerdings, wie man sehen wird, viel mit den Brettern zu tun hat, die regelmäßig in diesem Blog gebohrt werden.
Der Science-Fiction-Klassiker 2001 – A Space Odyssey (Odyssee im Weltraum, 1968) ist der erste in einer Reihe von Kubrick-Filmen, der die Idee formuliert, daß der Mensch ein äußerst problematisches Wesen, im Grunde nämlich ein “dressiertes” und verfeinertes Raubtier ist. Dieses Motiv ist freilich schon seinen früheren Filmen inhärent, insbesondere der Atomkriegssatire Dr. Strangelove Or How I Stopped Worrying And Learned To Love The Bomb (Dr. Seltsam oder Wie ich lernte, die Bombe zu lieben, 1964).
In 2001 bekommt diese Idee allerdings eine dezidiert philosophische Dimension. Im Zuge der Kontroversen um seinen darauf folgenden Film “A Clockwork Orange” (Uhrwerk Orange, 1971) äußerte sich Kubrick unmißverständlich über sein äußerst skeptisches Menschenbild:
Der Mensch ist kein edler Wilder, er ist ein unedler Wilder. Er ist irrational, brutal, schwach, dumm, und unfähig zur Objektivität, sobald seine Interessen auf dem Spiel stehen. Und jeder Versuch, soziale Institutionen auf einer falschen Sicht auf die Natur des Menschen aufzubauen, ist zum Scheitern verurteilt. (…) Die Vorstellung, daß soziale Zwänge samt und sonders böse seien, basiert auf einem utopischen und unrealistischen Menschenbild. (…) Rousseaus romantischer Trugschluß, daß die Gesellschaft den Menschen korrumpiert und nicht der Mensch die Gesellschaft, legt einen betörenden Schleier zwischen uns und die Wirklichkeit. Diese Vorstellung verkauft sich zwar gut an der Kinokasse, aber am Ende führen schmeichelhafte Ideen wie diese nur in die Verzweiflung.
Das ist ein Tonfall, der an Arnold Gehlen und andere Klassiker des Konservatismus erinnert. Über weite Strecken wirkt 2001 gar wie ein filmisches Echo auf Oswald Spenglers Schrift “Der Mensch und die Technik” (1933).
Spengler schrieb darin:
Denn der Mensch ist ein Raubtier. Feine Denker wie Montaigne und Nietzsche haben das immer gewußt. Die Lebensweisheit in alten Märchen und Sprichwörtern aller Bauern- und Nomadenvölker, die lächelnde Einsicht großer Menschenkenner- Staatsmänner, Feldherren, Kaufleute, Richter – auf der Höhe eines reichen Lebens, die Verzweiflung gescheiterter Weltverbesserer und das Schelten erzürnter Priester waren weit davon entfernt, das zu verschweigen oder leugnen zu wollen.
Spengler hob die Rolle des Auges in der Organisation des Raubtiers hervor:
Die höheren Pflanzenfresser werden neben dem Gehör vor allem durch die Witterung beherrscht, die höheren Raubtiere aber herrschen durch das Auge. Die Witterung ist der eigentliche Sinn der Verteidigung. Die Nase spürt Herkunft und Entfernung der Gefahr und gibt damit der Fluchtbewegung eine zweckmäßige Richtung von etwas fort. Das Auge der Raubtiere aber gibt ein Ziel. Schon dadurch, daß die Augenpaare der großen Raubtiere wie beim Menschen auf einen Punkt der Umgebung fixiert werden können, gelingt es, das Beutetier zu bannen. Im feindlichen Blick liegt für das Opfer schon das unentrinnbare Schicksal, der Sprung des nächsten Augenblicks.
Das Fixieren der nach vorn und parallel gerichteten Augen ist aber gleichbedeutend mit dem Entstehen der Welt in dem Sinne, wie der Mensch sie hat, als Bild, als Welt vor seinen Blicken, als Welt nicht nur des Lichtes und der Farben, sondern vor allem der perspektivischen Entfernung, des Raumes und der in ihm stattfindenden Bewegungen und an bestimmten Orten ruhenden Gegenstände. In dieser Art des Sehens, wie sie nur die edelsten Raubtiere besitzen – Pflanzenfresser, z.B. Huftiere, haben seitwärts stehende Augen, von denen jedes einen anderen, unperspektivischen Eindruck hat –, liegt schon die Idee des Herrschens. Das Weltbild ist die vom Auge beherrschte Umwelt.
Hat Kubrick dieses Buch gekannt? Man kann sich gut vorstellen, daß solche Sätze eine starke Wirkung auf einen Augenmenschen wie Kubrick haben können (schon physiognomisch dominieren sie auffällig in seinem Gesicht), auf einen Fotographen und Filmregisseur, der die Welt in erster Linie durch das Auge – das Sehen, das Zeigen und das Verdecken – fixiert und in eine Form bringt, also: beherrscht. Von Kubrick ist bekannt, daß er ein besessener, kompromißloser Perfektionist war, ein zuweilen tyrannischer “control freak”, der noch über das allerkleinste Detail seiner Filme die absolute Kontrolle haben wollte.
Der notorisch öffentlichkeitsscheue Kubrick hatte auch den Ruf eines Zynikers und Misanthropen. Es gibt so manche Zuschauer, die von der “Kälte” und der scheinbaren Mitleidlosigkeit seiner Filme abgestossen sind. Es ist der Blick eines emotionslosen und distanzierten Beobachters, der das Geschehen auf der Leinwand eher registriert als wertet, und es stets im festen Griff seiner Bildkadrierung und der präzisen Choreographie der Inszenierung hält.
Es gibt in Kubricks Filmen ein visuelles Leitmotiv, das seine Fans liebevoll den “Kubrick stare” getauft haben. Immer wieder läßt er verschiedene “Raubtiere” eindringlich in die Kamera oder knapp an ihr vorbei starren, manchmal auch ins Leere, am Rande oder schon jenseits der Klippe des Wahnsinns wie Jack Nicholson in “The Shining” (1980). Am berühmtesten ist natürlich der “tierisch”-perverse Blick von “Alex”, dem Anführer der gewalttätigen Jugendgang, der “Uhrwerk Orange” (1971) eröffnet.
2001 beginnt in einer unbestimmten Urzeit, der “Morgenröte der Menschheit”, mit menschenaffenartigen Wesen, Ururahnen des homo sapiens, die zusammengekauert an einem Felsen ins Dunkel einer Wüstennacht starren, und endet mit dem Blick eines “Übermenschen” im embryonalen Stadium, der gleich einem Erlöser aus dem Weltall über dem blauen Planeten erscheint und dessen kosmische Bedeutung von den triumphalen Klängen von Richard Strauss “Also sprach Zarathustra” unterstrichen wird.
Das Motiv des Blickes wird mehrfach variiert: als funkelnde Augen eines Leoparden über seiner Beute, als Kameraauge eines allmächtigen Bordcomputers, als Lichtreflektionen im Gesicht eines Astronauten.
Eine der eindrucksvollsten Szenen des Films ist die Begegnung der Affenmenschen mit einem rätselhaften Monolithen. Urplötzlich und ohne jegliche Erklärung taucht er inmitten der grunzenden, kreischenden, zotteligen, kopflos herumspringenden Horde auf: ein geometrisch exaktes, längliches Rechteck, ein Artefakt von vollendeter Perfektion, schwarz, mattglänzend, poliert, aufrechtstehend, scharf und präzise geschnitten. Die Epiphanie einer reinen und absichtslosen Form. Die Verkörperung einer absoluten Anti-Natur. (Es gibt nicht unplausible Spekulationen, daß dies ein Vorbild für das Design des i‑phones war). Die Affen umringen ihn, beschnuppern ihn, fassen ihn an, tasten ihn ab, zuerst zögerlich und ängstlich, dann immer gezielter, forschender, aber “begreifen” können sie das Ding nicht.
Der Monolith taucht gegen Ende von 2001 erneut auf, als “Sternentor”, durch das der Astronaut Bowman (“Bogenmann”) in eine Art Geburtskanal eintritt, um als “Sternenkind” wiedergeboren zu werden,vielleicht als Prototyp einer neuen, den bisherigen Menschen übersteigenden Spezies. Das Rätsel der Herkunft des Monolithen wird nicht gelöst (zu diesem Zweck sind die Astronauten zu ihrer “Odyssee” aufgebrochen). Festzustehen scheint allerdings, daß der Kontakt mit ihm in den Lebenswesen beträchtliche Bewußtseinskrisen und Evolutionssprünge hervorruft.
Kurz nachdem das Artefakt aus dem All den Affenmenschen gleich einem unbegreiflichen Gott erschienen ist, beginnt einer von ihnen eine bahnbrechende Idee zu gebären. Als er einen Knochen eines verendeten Tapirs in die Hand nimmt und mit ihm zu spielen beginnt, entdeckt der Affe, daß er damit seine Schlagkraft um ein Vielfaches erhöhen kann, daß er ihn als Waffe benutzen kann.
In frenetischer Ekstase, mit aus dem Maul herabtropfendem Speichel, schlägt er das Skelett des Tieres in Stücke (Kubrick benutzt hier eine Zeitlupe, um das feierliche Pathos der Szene zu erhöhen). Der langsam heranrollende, dann jäh hervorplatzende Durchbruch eines neuen Bewußtseins wird wiederum mit den Klängen des Zarathustra untermalt. Zugleich bricht aus einer Wolkenbank am Himmel über dem Affen die Sonne durch, ein weiteres Leitmotiv des Films.
Spengler schreibt über das Verhältnis der Hand zum Auge und seiner Bedeutung für den Prozeß der Menschwerdung:
Seit wann gibt es diesen Typus des erfinderischen Raubtiers? Das ist gleichbedeutend mit der Frage: Seit wann gibt es den Menschen? – Was ist der Mensch? Wodurch ist er zum Menschen geworden?
Die Antwort lautet: Durch die Entstehung der Hand. Das ist eine Waffe ohne gleichen in der Welt des freibeweglichen Lebens. Man vergleiche sie mit der Tatze, dem Schnabel, den Hörnern, Zähnen und Schwanzflossen anderer Wesen. Auf der einen Seite konzentriert sich in ihr der Tastsinn in dem Grade, daß man sie fast als Tastorgan neben das Seh- und das Hörorgan stellen kann. Sie unterscheidet nicht nur warm und kalt, fest und flüssig, hart und weich, sondern vor allem Schwere, Gestalt und Ort der Widerstände, kurz die Dinge im Raum. Aber darüber hinaus sammelt sich in ihr die Tätigkeit des Lebens so vollständig, daß sich die gesamte Haltung und der Gang des Leibes – gleichzeitig – daraufhin gestaltet hat. Es gibt nichts in der Welt, was mit diesem tastenden und tätigen Gliede verglichen werden kann. Zum Raubtierauge, das die Welt »theoretisch« beherrscht, tritt die Menschenhand als praktische Beherrscherin.
Ich habe keinen Zweifel mehr: Kubrick muß diesen Text Spenglers gekannt haben.
Der erwachte Affe beginnt nun, zu jagen und zum Fleischfresser zu werden. Bald ist auch sein Rudel bewaffnet. Am wild umkämpften Wasserloch schlägt er mit dem neuentdeckten Instrument den Anführer eines rivalisierenden Rudels tot, das darauf die Flucht ergreift. Die Gruppe des Entdeckers hat gesiegt, und ist nun im Kampf ums Dasein im evolutionären Vorteil. Kubrick läßt also die Zivilisation bzw. die Entwicklung der Technik mit einem gezielten Akt des Tötens beginnen.
Triumphierend wirft der prähistorische Prometheus den Knochen in die Luft; die Kamera folgt ihm auf seiner Flugbahn in den blauen Himmel. Im wohl kühnsten harten Schnitt der Filmgeschichte schneidet Kubrick abrupt auf ein weißes, schwerelos im schwarzen All schwebendes Raumschiff in der Form eines Knochens. Die Idee dahinter ist klar: der zur Waffe umfunktionierte Knochen und das Raumschiff sind letztlich Manifestationen ein- und desselben Prinzips.
Nun folgt die “Signatur-Sequenz” des Films, die jeder kennt, das legendäre, ironische und ikonische “Ballett” der Raumschiffe zu den Klängen von Karajans Donauwalzer. Allein diese ersten 20 Minuten von Odyssee im Weltraum, in denen kein einziges Wort gesprochen wird, sind von einer stupenden Genialität. Ich bekomme jedesmal von Neuem eine Gänsehaut davon, ob auf der großen Leinwand oder dem schmalen Bildschirm eines Laptops.
Nächste Folge: A Clockwork Orange/ Uhrwerk Orange (GB 1971)
Ein Fremder aus Elea
Ich hatte auch einmal vor langer Zeit eine Kritik zu diesem Film geschrieben, etwas von der Art: "Scheißlangweiliger Film, nur die Affensequenz ist gut: Die Idee mit dem schwarzen Monolithen als Sinnbild des Abstrakten, an welche sich das Erwachen der Affen zum Abstrakten anschließt."
Übrigens das mit der Hand haben sicher mehrere tausend verschiedene Autoren vor Spengler genauso geschrieben, angefangen wohl mit Darwin.
Hmm, ja, das Düstere dieses Erwachens gefiel mir auch, nicht so sehr der Plausibilität wegen, sondern weil es so eindringlich ist. Ich denke allerdings, daß der Leitfaden bei gesellschaftlichen Zwängen jenseits des Gesetzes, welches sich ja direkt gegen die Kriminalität richtet, nicht die Schlechtigkeit der Menschen sein sollte, sondern mehr ihre Schwäche oder gleichbedeutetend damit die Komplexität ihrer Umwelt.
Es ist nämlich so, daß besonders strikte Systeme in ihrer Komplexität beschränkt sind. Wenn ich alle Menschen durch Furcht beherrsche, kann ich keine Hochzivilisation unterhalten.
M.L.: Ich habe den Film nun mindestens zum 20x gesehen (im Laufe von ebenso vielen Jahren), und er ist mir noch nie langweilig geworden.