Es ist vor allem die erste Hälfte von “Full Metal Jacket”, an die sich jeder erinnert: nie zuvor oder danach wurde die Ausbildung zum Soldaten und zum “Killer”, wie es im Film heißt, so handgreiflich und eindringlich gezeigt.
Der “ikonische” Charakter des Films, der wie der Bordcomputer HAL oder Alex DeLarge zum Allgemeingut der Populärkultur geworden ist, ist natürlich der “drill instructor” Gunnery Sergeant Hartman, der brutale Ausbilder des Marine Corps, der einen Dauerhagel von wüsten Beschimpfungen auf seine Rekruten herabprasseln läßt. Dabei zeigt er eine verblüffende Kreativität im Erfinden von grotesk überdrehten Obszönitäten, die in der deutschen Synchronfassung (die Kubrick wie immer selbst überwacht hat) noch wahnwitziger als im Original klingen.
Als ich meinen Wehrdienst beim (eher kabarettartigen) österreichischen Bundesheer leistete, gab es kaum einen Ausbilder, der diese Sprüche nicht auswendig kannte, ausgiebig benutzte und selber gerne eine so kolossal harte Sau wie das Vorbild aus dem Film gewesen wäre. Einer ließ uns beim Laufen im Gleichschritt sogar die Marschlieder aus dem Film skandieren: “Ho Chi Minh ist ein Hurensohn…” Sergeant Hartman war offenbar nicht nur furchterregend und sadistisch, sondern auf eine merkwürdige Weise anziehend. Kubrick besetzte die Rolle mit einem authentischen ehemaligen Marine-Ausbilder, der anschließend Karriere mit einschlägigen Rollen als Schleifer, Soldat und fieser Bulle machte.
Hartmans Ausbildungsmethoden wirken wie ein quasi-darwinistischer Dreschflegel, um “alle Schlappschwänze auszusondern, die nicht kräftig genug sind”. Die Persönlichkeiten der Rekruten werden zuerst erniedrigt und gebrochen, damit sie hernach als stählerne Kampfmaschinen des Marine Corps wiederauferstehen – “born again hard”.
Der Erziehungs- und Konditionierungsprozeß in “Full Metal Jacket” ist der “Ludovico-Therapie” aus “A Clockwork Orange” genau entgegengesetzt: diese sollte die “Killerinstinkte” bekämpfen und abtrainieren, jene sie aufstacheln und anheizen, sie dabei aber kanalisieren und zum Einsatz verfügbar machen. Dieses Ausbildungsziel wird völlig unverhohlen ausgesprochen.
Das Marine Corps will keine Roboter. Das Marine Corps will Killer. Das Marine Corps will Männer bauen, die unzerstörbar sind. Männer die keine Furcht kennen.
Das bleibt im Endeffekt die primäre Aufgabe einer jeglichen militärischen Ausbildung, auch wenn sie, wie heute üblich, in eine liberale Schaumsprache eingepackt wird. Die Welt ist durch “politische Korrektheit” nicht besser geworden; es ist lediglich das Ausmaß der Heuchelei gewachsen.
Die Frage nach der Moral stellt sich den Ausbildern wie Rekruten in “Full Metal Jacket” gar nicht erst. Alles was zählt, ist die perfekte Beherrschung des Handwerks des Tötens. So preist Hartman in einer Szene gar die Schießkünste des Massenmörders Charles Whitman und des Kennedy-Attentäters Lee Harvey Oswald, die dank ihrer Marine-Ausbildung meisterhafte Schützen waren, fähig, auf weite Distanzen hinweg bewegliche Ziele zu treffen. Hartman präsentiert sie seinen Rekruten als glänzende Vorbilder, auf die das Marine Corps stolz sein kann. Diese Szene erhält im letzten Drittel des Films eine ironische Anwort, als ein unsichtbarer vietnamesischer sniper einen Zug US-Marines nach der Reihe dezimiert.
Das Dauerfeuer aus Beleidigungen wirkt wie ein herabsetzender “Stachel” (wie Elias Canetti die narzißtische Kränkung des “Befehls” nannte), der Aggressionen schürt und nach gezielter Weitergabe drängt.
Wenn ihr Ladies meine Insel verlaßt, wenn ihr meine Ausbildung überleben solltet, seid ihr eine Waffe, seid ihr Priester des Krieges und betet um Krieg. Aber bis zu diesem Tag seid ihr Dreck, seid ihr die niedrigste Lebensform auf Erden, seid ihr noch nicht mal annähernd so etwas wie Menschen, seid ihr nichts anderes als ein unorganisierter Haufen von amphibischer Urscheiße!
“O daß wir unsere Ururahnen wären, ein Klümpchen Schleim im warmen Moor…” dichtete Gottfried Benn. Aus diesem Schleimklumpen soll nun etwas werden, das so hart und unmenschlich wie der Monolith aus “2001:Odyssee im Weltraum” ist. Das bedeutet intensive körperliche Ertüchtigung ebenso wie körperliche Askese: “Von jetzt an ist das Gewehr eure einzige Möse”, wie Hartman es drastisch ausdrückt. Metaphern, die Sexualität und Krieg verbinden, tauchen in “Full Metal Jacket” mehrfach auf.
Ausgetrieben werden soll aus den Rekruten alles, was weich und formlos, was weibisch, infantil oder regressiv ist. Der Ausbilder beschimpft sie ununterbrochen als “Maden”, “Schleimer”, “Saftsäcke” und “Schwuchteln”, redet sie, ihren Status als “richtige Männer” angreifend, als “Ladies”, “Süße” und “Schätzchen” an, im schreienden Kontrast zu seinem rohen Tonfall. Klaus Theweleit ist damals wohl kaltschweißgebadet aus dem Kino getorkelt.
Diese Motive spitzen sich in der Figur des Rekruten “Private Paula” zu, der exemplarisch all die Eigenschaften verkörpert, die es nun auszumerzen gilt. Er ist übergewichtig, hat einen weichen, schwabbeligen, formlosen Körper, während Hartman aussieht, als bestünde er nur aus zähen, geformten, harten Muskeln. “Paula” (im Original “Gomer Pyle” nach einer komischen Figur aus einer Fernsehserie) hat eine hohe Stimme und einen peinlich infantilen Habitus. Er wirkt geistig labil und etwas zurückgeblieben.
Die Erniedrigungen, die Hartman ihm angedeihen läßt, zielen darauf ab, die Verächtlichkeit aller kindlichen Regression, aller Milchbärte und Muttersöhnchen anzuprangern: Paula muß daumenlutschend und mit heruntergelassenen Hosen danebenstehen, während seine Kameraden Strafexerzitien wegen seiner Verfehlungen erdulden müssen. Seine Kameraden müssen ihm geduldig erklären, wie man Betten macht oder gar, wie man sich das Hemd richtig zuknöpft.
Als Hartman entdeckt, daß “Paula” einen Krapfen in seinem Spind versteckt hat, befiehlt er ihm, diesen aufzumampfen, und dabei zuzusehen, wie der Rest der Truppe wegen dieser Disziplinlosigkeit Liegestütze pumpen muß. Damit ist das Maß voll: nachts rächen sich die Kameraden, indem sie ihn mit in Handtücher eingewickelten Seifestücken verprügeln.
Diese Maßnahmen scheinen zu funktioneren, denn nun beginnt der endgültig gebrochene Private Paula einen obsessiven Ehrgeiz an den Tag zu legen. Nach und nach zeigt Kubrick, wie die zusammengewürfelte Truppe am Exerzierplatz eine monolithische Form bekommt, wie sie sich in eine gut geölte, präzise funktionierende Maschine verwandelt. Paula macht nicht nur keine Fehler mehr, sondern wird einer von jenen, die ihr Soll übererfüllen. Vor allem entwickelt er eine wahre Meisterschaft im Scharfschützentum. Umso stärker wirkt nun die Anerkennung, die ihm Hartman allmählich zu zollen beginnt.
Zugleich beginnt Paula jedoch, pathologische Verhaltensweisen zu entwickeln. Er fängt an, zu seinem Gewehr zu sprechen, zieht sich in sein Inneres zurück, während sein Blick immer dämmriger und leerer wird. In der letzten Nacht auf der Ausbildungs-“Insel” findet ihn sein Wache schiebender Kamerad “Joker” auf der Toilette sitzend, langsam scharfe Munition in seine Waffe schiebend.
Joker: Wenn Hartman reinkommt und uns hier erwischt, stecken wir beide voll in der Scheiße.
Paula: Ich lebe… in einer Welt… voll Scheiße!
Er springt vom Toilettensitz auf, und beginnt laut brüllend eine gespenstische, automatenhafte Demonstration der Gesten, Kommandos und Parolen, die er gelernt hat:
Links schultert, ho! Rechts schultert, ho! Sichern und Laden! Stillgestanden, ho! “Das ist mein Gewehr! Es gibt viele Gewehre, aber das ist meines! Das Gewehr ist mein bester Freund. Das Gewehr ist mein Leben…”
Als Hartman erscheint, erschießt Paula ihn. Dabei jauchzt er mit geradezu orgasmischer Befriedigung auf, grinst über das ganze Gesicht. Dann schießt er sich selbst eine Kugel in den Kopf.
Diese schockierenden Szenen verarbeiten auf den ersten Blick ein klassisches Motiv des “Antikriegsfilms”, wie man es etwa seit “Im Westen nichts Neues” (1930) kennt: die Unmenschlichkeit und Menschenverachtung der militärischen Ausbildung wird vorgeführt, um die Unmenschlichkeit von Krieg und Militarismus überhaupt anzuprangern. Auf den ersten Blick scheint das auch die Aussage der “Private Paula”-Episode zu sein.
Wie bei einem Kubrick-Film zu erwarten, liegen die Dinge in “Full Metal Jacket” jedoch um einiges komplizierter. Tatsächlich äußerte Co-Drehbuchautor Michael Herr, daß Kubrick explizit vorhatte, keinen “Antikriegsfilm” zu drehen, sondern den Krieg möglichst realistisch so zu zeigen, wie er eben ist.
Das US Marine Corps ist so etwas wie die “Waffen-SS” der US Army, eine Elitetruppe, deren Ruf sich eng an ihre besonders harte Ausbildung und strenge Disziplin knüpft. Die Rekruten sind in der Regel Freiwillige, so auch der körperlich und geistig so ungeeignete Private Paula. Er ist in der Tat der einzige unter den gezeigten Rekruten, den die Härten der Ausbildung in den Zusammenbruch treiben – und das offenbar, weil er bereits zuvor ein unstabiler Genosse war. Dagegen zeigt Kubrick, daß die anderen Charaktere des Films sich keineswegs in Psychowracks, hirntote Roboter oder fühllose Killermaschinen mit ausgelöschter Persönlichkeit verwandeln.
Ganz im Gegenteil: besonders die Hauptfigur Private “Joker”, so genannt wegen seiner sarkastischen Sprüche, bewahrt sich bis zum Schluß einen ausgeprägten und irritierenden Eigensinn. Als er es in einer Szene beharrlich wagt, Hartman die Stirn zu bieten, der versucht, ihn mit einem dummen Witz zu erniedrigen (“Sie gottverdammter, kommunistischer Heide, sagen Sie mir auf der Stelle, daß Sie Jungfrau Maria lieben!”) , verdient er sich dessen Respekt und wird umgehend zum Gruppenführer des auszubildenden Trupps ernannt.
Joker ist annähernd die sympathischste Figur in einem Film, in dem es nur Grauzonen gibt und man nach wirklichen Sympathieträgern eher vergeblich sucht. Joker ist jung, intelligent und meistens gut gelaunt, aber er scheint dem Krieg nicht gerade “kritisch” gegenüberzustehen. Er gibt sogar offen zu, daß er sich zum Marine Corps gemeldet hat, um “zu töten”. Er kümmert sich zwar geduldig um Paula, beteiligt sich aber nach einem kurzen Zögern am Strafkommando gegen ihn, schlägt sogar noch besonders brutal zu.
Die zweite Hälfte des Films scheint zunächst eigenartig unverbunden neben der ersten zu stehen. Die nun folgenden Szenen haben einen eher losen Zusammenhalt, ganz im Gegensatz zu dem streng auf einen Ort und einen Zeitraum konzentrierten ersten Teil. Cowboy, Joker (der als Kriegsberichterstatter abkommandiert wurde) und andere, bisher noch nicht aufgetretene Männer werden nun bei ihrem Einsatz im Vietnam gezeigt. Zwar haben einige Soldaten von ihren Fronterfahrungen offensichtlich einen psychischen Schaden abgekommen; überwiegend erscheinen sie jedoch als “ganz normale” Männer, weder besonders gut, noch besonders schlecht, weder besonders für noch besonders gegen den Krieg engagiert.
Hier läßt Kubrick den Zuschauer, der es gewöhnt ist, aus Kriegsfilmen “Botschaften” zu empfangen, im Stich. Das wird besonders deutlich, wenn man “Full Metal Jacket” mit Brian de Palmas “Casualties of War” (Die Verdammten des Krieges, 1989) vergleicht. In letzterem wird ein “guter” gegen einen “bösen” US-Soldaten ausgespielt. Sean Penn spielt einen zynischen und skrupellosen Typen, wie er etwa für das Massaker von My Lai verantwortlich war, während Michael J. Fox den verantwortungsbewußten Soldaten verkörpert, der seinen moralischen Kompaß auch im Krieg nicht verloren hat, zur Erleichterung des Zuschauers Protest gegen die Schandtaten seiner Kameraden erhebt und am Ende gar mit einem schlechten Gewissen für sie büßt.
Keine Spur jedoch von solchen Haltegriffen in “Full Metal Jacket”. Der Zuschauer muß allein ertragen, was er sieht. Niemand nimmt ihm das moralische Urteil ab. Krieg ist zwar “die Hölle”, dennoch zeigt Kubrick, daß die Soldaten auch in einen gewissen Rausch und in eine Freude des Tötens und Überlebens geraten können, daß sie sich mit ihrer Rolle als Krieger identifizieren, ansonsten aber nicht einmal beanspruchen, einen allzu großen Überblick über das Geschehen haben. Als sie von einem Fernsehteam interviewt werden, haben sie wenig zu sagen, das über ihre unmittelbaren Erfahrungen hinausgeht:
Wie wir in Hue einrückten, ist das wie Krieg gewesen, verstehen Sie? So wie, wie ich gedacht habe, daß ein Krieg ist, wie ich gedacht habe, daß ein Krieg aussieht. Verstehen Sie, wie das aussehen müßte? Da ist der Feind – knall ihn ab.
Also, das steht überhaupt nicht zur Debatte, ich meine, wir sind die Besten.
Ob ich denke, Amerika gehört nach Vietnam? Äh, ich weiß nicht… ich gehöre nach Vietnam, das kann ich Ihnen sagen.
Persönlich denke ich, die wollen hier eigentlich nichts mit dem Krieg zu tun haben. Ich meine…uns haben sie die Freiheit genommen, und haben sie den Schlitzaugen gegeben. Aber die wollen sie nicht. Die sind lieber am Leben als frei, denke ich. Die armen Bastarde!
Also gegen die hier, gegen die ich wirklich bin, das sind ziemlich üble Burschen. Ich kann’s nicht ausstehen, daß… viele von diesen Knaben eigentlich auf unserer Seite sein sollten. Und ich treff sie, und sie kämpfen in die Gegenrichtung.
Wir lassen uns töten für diese Leute hier, die wissen das nicht mal zu schätzen.
Also, wenn sie mich fragen, wir schießen auf die falschen Schlitzaugen… Was ich davon halte, daß sich Amerika in diesem Krieg engagiert hat? Ich finde, wir sollten gewinnen.
Joker steht den Schrecken des Krieges zwar keineswegs gleichgültig gegenüber, er nimmt sie jedoch passiv hin, beteiligt sich schließlich sogar an ihnen. Dem Fernsehteam präsentiert er sich mit subversivem Humor und breitem Grinsen:
Ich wollte das exotische Vietnam sehen, das Kleinod von Südostasien. Ich hab mir gedacht, ich treffe interessante, anregende Menschen aus einer alten Kultur, und – kill sie. Ich wollte unbedingt der erste in meinem Block sein, der einen amtlichen Kill vorweisen kann.
Von einer schwarzen Komik ist auch Jokers Dialog mit einem Oberst, der sich von seiner Aufmachung irritiert zeigt:
Colonel: Was ist das auf Ihrer Weste?
Joker: Ein Friedenssymbol, Sir!
Colonel: Wo haben Sie das her?
Joker: Ich weiß nicht mehr, Sir.
Colonel: Und was haben Sie da oben auf Ihren Helm geschrieben?
Joker: “Born to Kill”, Sir!
Colonel: Sie schreiben “Born to Kill“auf Ihren Helm und tragen ein Friedensabzeichen? Halten Sie das etwa für witzig?
Joker: Nein, Sir!
Colonel: Was soll es also dann bedeuten?
Joker: Ich weiß nicht, Sir.
Colonel: Nehmen Sie mal schleunigst den Kopf aus dem Arsch, sonst werde ich Ihnen gewaltig vor den Koffer scheißen. Sie antworten auf meine Frage, oder es gibt ein Militärgerichtsverfahren.
Joker: Ich glaube, ich wollte damit etwas über die Dualität des Menschen sagen, Sir.
Colonel: Die was-??
Joker: Die Dualität des Menschen, das Ding von Jung, Sir.
Colonel (nach einem kurzen, verständnislosen Stutzer): Auf welcher Seite stehen Sie, Sohn?
Joker: Auf unserer Seite, Sir.
Colonel: Lieben Sie Ihr Vaterland?
Joker: Jawohl, Sir!
Colonel: Dann halten Sie sich auch ans Programm. Warum packen Sie nicht mit an und machen mit bis zu unserem Endsieg?
Hier ist es erneut, das Thema von “2001” und “A Clockwork Orange”: die unbegreifliche “Dualität” des Menschen.
Ein weiterer bemerkenswerter Satz fällt in dem oben zitierten Dialog. Wie fast alle Vietnam-Filme ist auch “Full Metal Jacket” ausgesprochen kritisch gegenüber der amerikanischen Außenpolitik. Der Oberst erklärt Joker seine “Mission” in diesem Krieg so:
Wir sind hier, um diesen Vietnamesen zu helfen, weil in jedem dieser Schlitzaugen steckt ein Amerikaner, der aus ihm raus will.
25 Jahre nach Entstehung des Films und beinahe 50 Jahre nach dem Ausbruch des Vietnamkriegs, scheitern die Amerikaner immer wieder von Neuem an dieser Attitüde. Unterdessen gibt es immer noch zahlreiche Re-Education-Deutsche, die sie verinnerlicht haben, und als Musterschüler ihrer Befreier und Erlöser von Gestern am liebsten auf die gesamte islamische Welt ausdehnen würden.
Im letzten Drittel von “Full Metal Jacket” läßt Kubrick seine Marines eine unheimliche Demütigung widerfahren. Sie entdecken, daß der verborgene vietnamesische Scharfschütze, der sie in Angst und Schrecken versetzt hat, eine junge Frau ist (Klaus Theweleit ist wohl abermals in seinem Kinosessel ausgeflippt). Der Moment, als sie den sich hinter ihrem Rücken anschleichenden Joker entdeckt und das Feuer eröffnet, gehört zu den furchtbarsten des Films: in ihrem Gesicht spiegeln sich Todesangst, wilder Haß und der atemlose Wille zum Töten und Überleben. Sie weiß bereits, daß sie verloren hat. Sie wirkt fragil und verwundbar und zugleich wie eine rächende Furie aus der Unterwelt.
Sie wird niedergeschossen, stirbt aber nicht sofort. Nun folgt eine schier unerträgliche Szene. Quälend lange stehen die Marines um die wimmernde, verendende Frau und betrachten sie mit einem kalten, mitleidlosen Blick. Sie beginnt, keuchend um ihren Tod zu betteln. Joker gibt ihr schließlich den Gnadenschuß. In dem Moment, als er die Waffe abfeuert, dreht sich sein Körper leicht zur Seite, sodaß das Friedenssymbol auf seiner Jacke nicht mehr zu sehen ist. Nun hat er endgültig die Grenze zum “Herz der Finsternis” überschritten.
“Full Metal Jacket” endet mit einer letzten Irritation. Ein Zug Soldaten zieht durch die Ruinen einer brennenden Stadt. Mit grimmigem Galgenhumor singen sie im Chor den Titelsong der in den Sechziger Jahren populären Kindershow “Mickey-Mouse-Club”.
Who’s the leader of the Club that’s made for you and me? M‑I-C-K-E‑Y, M‑O-U-S‑E!)
Mitten in diesem Aberwitz ist auch Joker, der grinsend mitsingt. Aus dem Off hört man seine Stimme:
Ich träume den Traum vom großen Heimkehrfick. Ich bin so glücklich, am Leben zu sein. Ganz geblieben und bald fertig hier. Ich bin in einer Welt voll Scheiße. Stimmt. Aber ich bin am Leben. Und ich hab keine Angst.
Abblende, Abspann: “Directed and produced by Stanley Kubrick”. Die Rolling Stones singen dazu: “Paint it Black”.
Stevanovic
Dieser Film passt in kein politisches Schema – der ist Nihilismus pur. Männer werden bewegt, geschliffen, gemacht und es bleibt im Grunde doch egal. Es ist nicht mal schlimm, es ist halt so.
Mein Lieblingssatz im Film:
Ob ich denke, Amerika gehört nach Vietnam? Äh, ich weiß nicht… ich gehöre nach Vietnam, das kann ich Ihnen sagen.
Die Frage „warum“ erscheint geradezu dümmlich in dieser Welt.
Herr Lichtmesz, vielen Dank für die Beiträge. Ich werde mir die Filme jetzt nochmal anschauen, Sie haben meine Neugierde neu entfacht. Ihr Hinweis auf Oswald Spengler in der Odyssee war mir so nicht bekannt – ich werde Oswald Spengler nun lesen, für einen Kubrick lohnt sich das alle male.
Aus irgendeinem Grund habe ich „Barry Lyndon“ nie auf dem Radar gehabt, ich habe ihn vor Jahren eher beiläufig gesehen. Was macht ihn, im Vergleich zu den von Ihnen besprochenen Naturgewalten, zu ihrem Lieblings- Kubrick?
M.L.: Das ist mehr eine persönliche Neigung, sein bedeutendster Film ist es sicher nicht, obwohl er den anderen in der formalen Meisterschaft nicht nachsteht. Ich liebe vor allem das Zeitalter, das er porträtiert, und die Intensität und betörende visuelle Extravaganz, mit der Kubrick es zum Leben erweckt, als würde man eine Zeitreise machen und wäre wirklich dort. Wenn dann die drei Stunden vorbei sind (mir gehen sie immer schnell vorüber) ist man wie aus einem Traum erwacht. Dann: Den kühlen Sarkasmus, die Eleganz der Form, die traumwandlerisch vollkommene Musikalität der Inszenierung. Die emotionale Glut unter den strengen sozialen Konventionen. Die farbige Sprache der Dialoge. Die Duell-Szenen sind unvergeßlich. Kubrick wollte ja ursprünglich einen Film über Napoleon machen, der leider nie zustande kam. Davon kann man nur träumen, wie von Leni Riefenstahls "Penthesilea" und Sergio Leones "Leningrad". "Barry Lyndon" ist jedoch alles andere als ein Kostümfilm-Idyll und hat ebenso seine anthropologischen Abgründe, die allerdings nicht so offensichtlich und so grell hervortreten, wie in den bekannteren Filmen. Das Ende ist äußerst pessimistisch. Ich bin sogar ein großer Fan von seinem letzten Film "Eyes Wide Shut", der sträflich unterschätzt wird.