Man dürfe über Möglichkeiten gesellschaftlicher Teilhabe nachdenken. Ein kakophones Stimmengewirr pflegt sich zu erheben: McDonald! Cinemaxx! Einkaufscenter! Es ist wie immer: Bald obsiegt die melancholische Altstimme des zweitältesten Fräuleins. Sie hat den längsten Atem. Sie hat “Oper!” gerufen, aus Herzenstiefen: also Oper.
Jenes Fräulein hat sich als Opernscout ihre Meriten erworben, die Familie vertraut ihrer Wahl. Sie pflegt eine Sonderwunschliste, die ganz Europa einschließt, daneben einen praktikablen, also dem bundesdeutschen Aufführrahmen verhaftete Zettel. Sie verfügt über keine vertieften Szenenkenntnisse, ihre Vorgehensweise ist so umständlich wie gründlich: Sie schaut auf operabase.com regelmäßig nach Opern, die sie gern/gern mal wieder sehen würde, notiert sich den entsprechenden Regisseur, googelt den Regisseur und seine Kritiken, streicht oder unterstreicht dann das Stück.
Seit ein paar Jahren gibt es jährlich zwei Opernfahrten für das Fräulein, als Geburtstags- und als Weihnachtsgeschenk nämlich. Und eben, selten genug, als Familienschmankerl zwischendurch.
Was könnte sich besser eignen als Stück für die ganze Familie als Carl Maria von Webers Freischütz? Den kennt die Tochter gut, sie hat ihn bereits zweimal gesehen, und auch die ältere und Nächstjüngere kennen und lieben ihn, er ist ja Schulstoff. Die jüngere hatte gerade – siebte Klasse – die Aufgabe, eine eigene Inszenierung zu imaginieren; ein erstaunlich anspruchsvoller Test übrigens zwischen dem benoteten Absingen von Abba- und Erste-Allgemeine-Verunsicherungs-Songs.
Unsere Opernnärrin jedenfalls war hingerissen von dem, was Regisseur Armin Holz an der Oper Mannheim zu inszenieren versprach. Sie hatte „ richtig, richtig gute“ Interviews im Netz vorgefunden. Ihre Augen glänzten.
Frage: Das ist Ihre erste Oper. Warum “Freischütz”?
Holz: Am “Freischütz” hat mich gereizt, mich einmal mit der deutschen Romantik auseinanderzusetzen. Über das Schauspiel ist das nicht zu leisten, weil Dramen von Tieck oder Clemens von Brentano überhaupt nicht mehr aufgeführt werden. Stücke der deutschen Romantik kann man heute nicht mehr durchsetzen und auch gar nicht besetzen.
Frage: Bei einem modernen Regisseur erwartet man einen kritischen Ansatz, eine neu Sichtweise auf den doch sehr kruden Märchenstoff.
Holz: Nein, ich bin eigentlich keiner, der einen kritischen Ansatz hat. Ich will die Stücke, die ich mache, liebend entdecken. Die Zuschauer fordere ich ebenfalls dazu auf.
Die Karten waren bereits gekauft, da las die Tochter noch dies, Holz im Gespräch mit dem Mannheimer Morgen:
Holz: Ich nähere mich den Werken liebend. Ich inszeniere ja relativ selten, und wenn ich inszeniere, inszeniere ich ein Stück, das ich liebe. Ich gehöre nicht zu denen, die der Welt beweisen wollen, wie schlecht das Stück ist. Das ist Mode. Aber eben nicht, was mich interessiert. Aber zu Ihrer Frage. Ich will eine Bildsprache entwickeln, die sich der Romantik stellt.
Morgenweb: Wollen Sie Kitsch und Unglaubwürdigkeit nicht vermeiden?
Holz: Ich will, wie Peter Kümmel (“Die Zeit”, d. Red.) einmal schrieb, dem Kitsch zulächeln. Das ist ja auch etwas, was zum Leben und zur Kunst gehört. Sich das Selbst zu verbieten, hat etwas Ideologisches.
Morgenweb: Keine Zwischenebenen, Ironie?
Holz: Ich nehme das Werk ernst. Ich finde Fehlings Spruch, Ironie sei etwas für Subalterne, gut. (lacht)
Der Opernnärrin war es gelungen, mit ihren Fundstücken die Eltern zu beeindrucken.
Auf seiner eigenen Netzseite formuliert der Regisseur (dessen eigentliches Metier das Theater ist) manifestartig:
Ich träume von einer Versammlung von Menschen, die neugierig sind, naiv und intellektuell, streng und sinnlich. Ich teile die Sehnsucht des Publikums nach gesteigertem Empfinden, Magie, Festlichkeit.
Ich will keine Sensation herstellen müssen.
Wer nach jeder Aufführung fragt: “Was ist daran neu?” hat nichts verstanden. “Neu” ist eine Couture-Kategorie, eine Frage an Kunst – und ja: Theater ist Kunst – lautet: “War es wahr?” Übrigens: Wahrheit und Genuß sind kein Widerspruch.
Vor allem aber: Inszenieren ist ein zärtliches Gefühl.
Wie sie schwärmte, die Tochter! Vorab in Begeisterung taumelte! Wie sie ihr schönstes Kleid anlegte und die kleinere Schwester ermahnte, die schmutzigen Schuhe (Ziegenstall!) noch mal zu wienern, als wir in Mannheim aus dem Auto stiegen! „Das hier ist nicht Alltag!“
Hinein also in den häßlichen Koloß des Mannheimer Nationaltheaters. Die Tochter war schon mal hier gewesen, zur ewiggleichen Parsifalaufführung. Sie raunte beim Aufstieg über die häßlich verranzten Stufen, beim Platznehmen auf den arg profanen Sitzen: Das unansehnliche Gehäuse lasse den Kern nur um so heller leuchten. Man werde gleich hören und sehen! Wie das Kind strahlte unter ihrer hochaufwendigen Flechtfrisur!
Es war noch Zeit, im frisch erworbenen Heftchen mit dem Titel „Glaubt an Geister!“ zu blättern. Herr Holz zeigt sich im Interview auch hierin als Romantiker, der bedauert, „daß die wunderbaren Theaterstücke der deutschen Romantik nirgendwo mehr unterzubringen sind.“
Der Freischütz, das sei für ihn „noch ein Stück mit Himmel“ und Empathie spiele für ihn eine größere Rolle als der Intellekt; Holz spricht von „Rührung“, ja von Demut. Er lobt seinen Bühnenbildner Matthias Weischer, lobt dessen „Rückbesinnung auf die figurative Malerei, seine Liebe zu den Dingen, seinen Nicht-Zynismus.“
Die Tochter begann bereits, so schien es, sitzend zu schweben. Doch, so mußte es gewesen, sie schwebte vor Erwartungslust! Denn die Frau in der Reihe hinter ihr bat sie tatsächlich, sich doch ein wenig kleiner zu machen. Schon bald gewann die Tochter wieder Bodenhaftung – denn, schade: Ouvertüre ohne Vorhang.
Und dann? Dann beginnt das große Geschiebe und Gerolle auf der Bühne. Oft, aber nicht immer orchestral übertönt. Schlanke Männer in enganliegender schwarzer Bekleidung haben hier einen wenn auch stummen, so doch lautstarken Hauptpart übernommen: Sie schieben die Sperrholzmonumente rein und raus, raus und rein, zweieinhalb Stunden lang.
Man will sich dem symbolträchtigen Verschiebebahnhof dennoch zunächst mit Empathie nähern.
Diese brandig rote Säule mit dem herrschaftlichen Adler an der Spitze, das sieht aus wie… – nein, es wird wohl keine phallische Andeutung sein? Auf die genuin männliche Idiotie einen Wettschießens hinweisend? – Der riesige Scheinwerfer, der als Staffage mal hier, mal dorthin gerollt wird und die minimalistische Szene beherrscht, der soll wohl kein aufklärerisches Instrument der Ausleuchtung darstellen, nein? – Diese silberfarbenen Blöcke, die immer wieder als Plateau dienen, auf denen der unglückliche Max in seiner Qual sich wälzt : sie sind sicher irgendwas, aber doch kein Symbol für die sterilen Seziertische der Pathologie?
Neinnein, das kann nicht sein, dann wäre ja alle verbalen Romantik- Bekenntnisse des Regisseurs ja Lug & Trug! Murmelnde Ratlosigkeit macht sich breit im Publikum. Weil ja dauernd gerollt und geschoben wird auf der Bühne, wird auch die Schweigepflicht auf den Rängen instinktiv etwas laxer gehandhabt.
Dann Auftritt Ännchen, und das Publikum ist wieder besänftigt. Mit sehr kurzem Minikleidchen, Rückenausschnitt bis zum Popo, goldenglitzernde Highheels – very high – an den Füßen, gibt Eunju Kwon höchst apart das sangiunische Ännchen. Kokett und supersexy hüftwackelnd, das wiederum gefällt dem Publikum. Das versteht es, hoho! Es gibt – immer wieder – Zwischenapplaus für die grazile koreanische Dirn und gelöstes Gelächter, als sie einmal (natürlich beabsichtigt) einen ihrer atemberaubenden Stöckelschuhe verliert. Hach, Humor! Wozu sind Schenkel da! Zum Draufklatschen! Ist doch ein volkstümliches Stück!
Ein weiteres Sperrholz wird hereingerollt, darauf ein Jüngling mit Glied, aber ohne Kopf, nicht ganz ohne, aber ohne Hirn, das Stückchen Kopf fehlt. So sind sie, diese schießwütigen (hehe…) jungen Männer! Aufs Abfeuern aus! Bald wird auch eine weitere Sperrholzruine hereingerollt. Sie zeigt ein Schießgewehr und wird unter dem männlichen Glied plaziert. Das ist ohne Frage extrem subtil.
Irgendwann die Pause. Das Publikum lichtet sich. „Konsequent“, sage ich. Der Rest der Familie schaut erschrocken.
„Soo schlimm ist es doch auch nicht“, bemüht sich die voreilige Armin-Holz-Anhängerin und lobt die Stimmen und das zwar etwas zaghafte, aber doch okaye Orchester.
Es geht weiter wie gehabt. Ännchen wackelt mit dem hübschen Hintern, in der Wolfsschluchtszene markieren formlose Styroporkugeln den Kreis, der eigentlich aus Totenschädeln sein sollte.
Ein splitternacktes Pärchen umkreist Hand in Hand den rückwärtigen Bühnenhalbrund, es mag vorehelichen, also nach alter und überkommener, also überlebter Sitte, ein voreheliches Vergnügen markieren. Den Freischuß, die Freikugeln. Na klar, ein überzeitliches Thema, auch Carl Maria von Webers Zeit wird es gekannt haben.
Die fromme Agathe aber bangt um ihre Hochzeit. Vor einer Kulissensperrholzteil in der Form eines Mikroskops – die Bildsprache bleibt also „höchstromantisch“ – bekommt sie einen Goldenen Käfig aufgesetzt, das Gefängnis der Ehe. Kontrastierend wird eine andere Kulisse geräuschvoll gewendet, sie zeigt nun auf der Kehrseite den zornig zum #Aufschrei verzerrten Mund eines androgynen Amazonengesichts. Töchterlein, siehst du den Holzhammer nicht? Hört man noch die Musik vor all dieser Effekthascherei? Ja, doch, ziemlich leise aber.
Im dritten Akt werden musikalische Akzente gesetzt, namentlich bei den beiden populären Weisen: Hübsch singen die vier Brautjungfrauen vom Winden des Jungfernkranzens, doch am Ende blockt die Brechung den holden Gesang: „Schöner, grüner Jungernkranz!“, die Mädels blöken es garstig hervor, äffen die eben noch gesungene Textzeile voll aufklärerischem Hohn.
Beim Jägerchor („Was gleicht wohl auf Erden dem Jägervergnügen?“) ist es weniger eindeutig. Die Empathie der Opernnärrineltern ist mittlerweile auf Schnapsglasgröße geschrumpft; und man will böswillig karikierende, gleichsam betont rückwärtsgewandte Triller im Tralallala heraushören. Die Betonköpfe der Chormänner rucken wie in starrsinnnigem Gehorsam dazu, als wär´s Marschmusik. (Später, im Auto, wird die Tochter dazu beschwichtigend sagen: „Ich glaub, die konnten es einfach nicht anders“, und Vater und Mutter werden milde, vielsagende Blicke tauschen.)
Bleibt das Ende: Samiel tritt nun auf als Drag-Queen in transparenter Pelerine und mit lila Stiefeln, wie frisch vom Christopher-Straßen-Tag hereingeweht. Landesfürst Ottokar aber gewährt Gnade vor Recht. Nach einem Jahr der (hoffentlichen) Bewährung wird Max seine Agathe heiraten dürfen. Ein kleines Kulissenteil senkt sich von oben her auf die Bühne: Zwei Menschen, Mann und Frau, diesmal die Scham züchtig mit Blättern bedeckt.
Die Protagonisten schauen sich das Gebotsschild an und grinsen sich eins. Das allerletzte Wort der Mannheimer „romantischen Oper“ hat die Dirn´ auf Highheels, nachdem sie das Schildchen besichtigt hat: ein laut-spöttischer Kicherruf: „Hahaha!“ Befreit lacht das Publikum mit. Wer ist schon gern Spielverderber?
Ziemlich genau 70 Jahre vor der Premiere dieses Freischütz ist das Mannheimer Nationaltheater in Schutt & Asche gebombt worden. Wahnsinns- Zufall: Damals, im September 1943 wurde gerade der Freischütz gegeben.
Die nächsten Vorstellungen des Holzschen Freischütz laufen am 13. und am 21. November. Schade eigentlich um das Benzin.
Nachspann: „Hör mal, Tochter: Du hättest vielleicht mal die eine oder andere Premierenkritik durchlesen sollen. Ich hab´s jetzt nachgeholt. Von wahren ´Buh-Walzen´ zur Premiere war da die Rede. Von Kulissenschieberei und gnadenlosem Apparate-Ächzen, von sprödem Spektakel und einem allumfassendem Reinfall! Also: man hätte es wissen können.“
– „Hm. Ja. Das war halt so großartig, was der Regisseur sagte… Und ich fand´s ja trotzdem… ganz schön. Und, ist doch so: Wenn alle dasselbe sagen, wird meistens gelogen.“- “Hm. Mit Betonung auf ´meistens´.”
Rumpelstilzchen
Ein schöner, liebevoller Text.
Obwohl ich keine Opernkennerin bin, kann ich die Gefühlslage aller Beteiligten sehr gut nachvollziehen. Eine romantische Backfischseele kann da schwer ent-täuscht werden.
Ein kleiner Trost ist da immer wieder Loriots Freischütz und anderes von ihm.
https://m.youtube.com/watch?v=r3TE0s1CtW4&desktop_uri=%2Fwatch%3Fv%3Dr3TE0s1CtW4