Daß diese „U‑Boot-Christen“ für Ihr einmaliges Auftauchen mit der frohen Botschaft des Evangeliums belohnt werden, ist indes unwahrscheinlich. Vermutlich ist auch vergangenes Jahr wieder der Klassiker „soziale Gerechtigkeit“ gegeben worden.
An dieser Stelle hat Heino Bosselmann das Thema zuletzt aufgegriffen, sodaß ich einige wirtschaftliche Überlegungen zu dieser essentiellen Frage beisteuern möchte.
Die Frage nach der sozialen Gerechtigkeit hat heute natürlich eine ganz andere Bedeutung als etwa zu Beginn des 20. Jahrhunderts, als es für manche buchstäblich ums Überleben ging. Heute geht es vielmehr um „Teilhabe“ an der Gesellschaft, was immer das konkret bedeuten könnte, und wird, gemessen in Euro und Cent, als sozio-kulturelles Existenzminimum definiert.
Mittlerweile ist kein Thema und kein Partikularinteresse zu banal, als daß es nicht durch das Suffix Gerechtigkeit geadelt werden könnte und dadurch diskussionswürdig wird. In aller Regel verbirgt sich dahinter der Wunsch nach Gleichheit, was natürlich nicht zusammengeht. Man muß schon geübter Zwiedenker sein, wenn man nicht zu verstehen vermag, daß man Menschen nur entweder gleich oder gerecht behandeln kann, niemals jedoch beides zugleich.
Auch der in diesem Jahr erschienene vierte Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung hat die Diskussion über die sich augenscheinlich ausweitende Schere zwischen Arm und Reich befeuert. Offenbar verletzt diese zunehmende Ungleichheit das Gerechtigkeitsempfinden vieler Menschen oder läßt sich zumindest gut in dieser Richtung instrumentalisieren. Diese Ungleichheit ist oberflächlich betrachtet kontraintuitiv und widerspricht dem Ziel des Sozialstaats. Soll nicht gerade er eine Umverteilung von oben nach unten bewirken und so der „Gravitation des Geldes“ entgegenwirken?
An dieser Stelle wird von interessierter Seite dann gerne der Sozialabbau angeführt, der diese Zielsetzung konterkariere. Ein Blick auf die Zahlen läßt von diesem Sozialabbau allerdings nichts erkennen. Seit Mitte der Neunziger bewegt sich die Sozialleistungsquote als Maßstab der Sozialausgaben als Anteil am BIP recht stabil um die 29%. Markante Ausreißer waren niedrigere Sozialleistungsquoten bis 2009 und hohe danach. Die Erklärung für die sinkenden Quoten im Vorfeld der Wirtschaftskrise und bei guter Konjunktur ist wohl kaum in einem drastischen Sozialabbau zu suchen, sondern vielmehr im Anstieg des BIP bei relativ konstanten Sozialausgaben. Gleichwohl fallen auch die unter „Hartz X“ apostrophierten Sozialreformen ab 2003 in dieses Zeitfenster, was Einfluß sowohl auf den Anstieg des BIP als auch die Sozialausgaben gehabt haben dürfte.
Wenn bei wachsendem Kuchen (BIP) die Größe des Stückes (Sozialleistungsquote am BIP) konstant bleibt, wachsen in absoluten Zahlen die Umverteilung und damit auch die materielle Ressourcen der Empfänger. Sollte der Beschäftigungsaufschwung der letzten Jahre nicht völlig illusorisch sein, müßte sich der Kreis der Empfänger sogar reduziert haben und damit pro Empfänger die Sozialausgaben zumindest tendenziell gestiegen sein.
Wenn also die tatsächliche Lage der Transferempfänger eigentlich kein Problem ist, was denn dann?
Diese Grafik aus dem Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung zeigt ein vermeintlich drastisches Auseinanderlaufen der Arbeitnehmerentgelte und der Unternehmens- und Vermögenseinkommen (das Volkseinkommen ist die Summe aus beiden). Also ist das die legitime Quelle der Empörung?
Leider nein, denn frei nach Churchills Diktum, man solle keiner Statistik trauen, die man sich selber gefälscht habe, liegt auch hier nur ein (bewußt?) unvollständiger Blick auf die Dinge vor. Zunächst handelt es sich um einen Index, der „nur“ die relative Entwicklung der drei Größen bezogen auf das Jahr 2000 ins Verhältnis setzt. Vermutlich fällt dieser Zeitpunkt nur zufällig mit dem Euro-Einführungszeitraum zusammen, denn es wird in dem entsprechenden Bericht nicht auf den Euro Bezug genommen und vermutlich paßte der Zeitraum bloß gut zur Arbeitshypothese der Verfasser von der „Schere zwischen Arm und Reich“.
Löst man die einzelnen Positionen in absoluten Zahlen auf und verlängert den Betrachtungszeitraum, ergibt sich ein deutlich differenzierteres Bild, denn die Vermögenseinkommen liegen 2012 noch deutlich, die Unternehmergewinne leicht unterhalb des absoluten Hochs vor Ausbruch der Finanzkrise 2007. Die Arbeitnehmerentgelte haben hingegen ihren Steigflug wieder aufgenommen und entwickeln sich deutlich besser als in den Vorjahren.
Die zusätzlich in die Grafik aufgenommen monetären Sozialleistungen verdeutlichen obige Aussage, dass Mitte des letzten Jahrzehnts kein grundsätzlicher Sozialabbau stattgefunden hat.
Allerdings fällt auf, daß im langfristigen Trend die Steigerungsraten von Vermögens- und Unternehmereinkommen höher sind als bei Arbeitnehmerentgelten, also der Anteil der Arbeitnehmerentgelte am BIP tendenziell zurückgeht. Ein Trend, der übrigens in praktisch allen entwickelten Volkswirtschaften zu beobachten ist, also kaum als Indikator besonderer „sozialer Kälte“ in Deutschland taugt. Zu den Ursachen später…
Bei dieser qualitativen Unterscheidung der Einkommensarten landen allerdings Kleinstunternehmer und Großindustrielle in der gleichen Schublade, so daß sich ein Blick auf Verteilung der Einkommensklassen lohnt, also nicht „woher“ verdient wird, sondern „wieviel“. Die folgende Grafik zeigt die Verteilung der Haushaltseinkommen 1991 und 2010. Es zeigt sich, daß die unteren neun Zehntel der Einkommensgruppen allesamt Rückgänge verzeichnen, wohingegen das oberste Zehntel deutliche Zuwächse verbucht. Trotz der staatlichen Transfers und des vermeintlichen Jobwunders in Deutschland hat die Konzentration der Einkommen bei den Spitzenverdienern weiter zugenommen.
Selbst wenn die Einkommen insgesamt gestiegen sind, ist offensichtlich die Verminderung der Ungleichheit nicht gelungen. Will man verstehen, warum das so ist, empfiehlt es sich, von diesem „Zahlensalat“ zurückzutreten und sich die zugrundeliegenden Wirkmechanismen vor Augen zu führen.
Erklärungsversuche
Per Definition führen Sozialtransfers bei den Empfängern zu Kaufkraftzuwächsen, die sie andernfalls nicht hätten. Dadurch können Sie mehr konsumieren und tun dies auch, denn im Gegensatz zu Besserverdienenden und Vermögenden, bei denen zusätzliches Einkommen in die Ersparnisbildung fließt, haben die Transferempfänger häufig vielfältige ungestillte Konsumbedürfnisse. Die Sozialtransfers landen also als Umsatz bei Unternehmen und erhöhen somit mittelbar das Einkommen der Unternehmenseigentümer und höheren Angestellten, deren Einkommen in stärkerem Maße vom Unternehmenserfolg abhängen als bei Tarifangestellten. Ähnlich sieht es bei Wohnraumvermietern aus, die natürlich ebenfalls davon profitieren, daß Transferempfänger dank staatlicher Unterstützung ihre Wohnungen mieten können. Dank des progressiven Steuertarifs darf sich der Staat selbst sogar über steigende Steuereinnahmen freuen, aber ist dies ist nur eine Teilkompensation der Kosten.
Sowohl Unternehmer als auch Immobilieneigentümer verfügen über Sachwerte, also „dingliches Kapital“, dessen Wert wegen der steigenden Nachfrage durch Sozialtransfers steigt. Diese Attraktivität von Sachwerten befeuert wiederum die Nachfrage nach Finanzkapital und Krediten, um diese Sachwerte schaffen oder erwerben zu können, und so profitiert auch das Finanzkapital, also insbesondere die Banken und ihre Eigentümer und Geldgeber.
Besonderen Charme für Kapitalgeber entfaltet diese Konstellation in Phasen konjunktureller Schwäche, wo sonst typischerweise der Bedarf an Krediten deutlich sinkt. Die dann entstehende Nachfragedelle durch sinkende Einkommen, beispielsweise durch Arbeitslosigkeit, wird durch die Sozialtransfers erheblich gemindert, was sowohl den Betroffenen als auch Ihren Lieferanten und Vermietern zugute kommt.
Geradezu pikant wird diese Überlegung in Hinblick auf das Finanzkapital, denn die Ausdehnung der Staatsausgaben bei sinkenden Steuereinnahmen kann natürlich nur durch Verschuldung gelingen, sodaß Finanzkapital immer gebraucht und entsprechend verzinst wird – bei guter Konjunktur von privaten, bei schlechter von öffentlichen Schuldnern. Das Kapital gewinnt also immer – keine der gängigen oder zumindest offen kommunizierten Zielsetzungen der Befürworter der Sozialstaats.
Wir sehen also, daß die Einkommen der Vermögenden dank des Sozialstaats steigen. Da gerade sie auch die Fähigkeit zur Ersparnisbildung haben, sind Sie es auch, die von der permanenten Ausdehnung der Staatsverschuldung profitieren, denn Sie sind die Gläubiger des Staates. Man könnte noch weitere Aspekte anführen, denn alleine durch den zinstragenden Charakter unseres Geldwesens profitiert das Finanzkapital, aber das würde den Rahmen sprengen.
Zwei naheliegenden, aber fehlgeleiteten Schlußfolgerungen möchte ich prophylaktisch begegnen. Zum einen halte ich den Impuls, den Profiteuren dieser Gesamtkonstellation mit einer Vermögenssteuer o. ä. ans Portemonnaie zu gehen, für verfehlt. Der Staat hat kein Einnahmenproblem, wie rekordhohe Steuereinnahmen eindrucksvoll belegen, sondern er hat ein Ausgabenproblem. Den tiefer liegenden Ursachen und jedweden Verbindungen mit dem Wesen der Demokratie wird sicher eine spannende Diskussion nachgehen.
Der zweite, ganz wesentliche Aspekt ist, daß dieser Beitrag keine Gegenrede zu Herrn Bosselmanns Beobachtungen darstellt. Im Gegenteil ist es in meinen Augen geradezu zwingend, daß eine immer ausgefuchstere Sozialbürokratie gerade nicht in der Lage ist, alle bzw. die besonders Bedürftigen zu erreichen. Insbesondere das Vorhandensein starker Lobbygruppen und der „Sozialhilfe-Profis“ sorgt dafür, daß gerade bei den wirklich Bedürftigen immer weniger ankommt. Es macht ja die Schwäche der Schwächsten aus, daß sie die vielfältigen Hilfsangebote gar nicht annehmen können oder wollen.
Einen Ausweg aufzuzeigen fällt schwer. Auch wenn ich mir damit absehbar (Neo-)Liberalen-Schelte einhandele, sehe ich die Antwort gerade nicht in mehr staatlichen Eingriffen, sondern in weniger, da diese letztlich immer stark interessengeleitet sind. Stichwort: Staat als Beute.
Der entscheidende Kollateralschaden des Gouvernantenstaats liegt ja in der Auflösung gewachsener Solidargemeinschaften und „Outsourcing“ von Anteilnahme und konkreter Hilfestellung bis in die Familien hinein. Das strahlt auf noch essentiellere Themen aus, wie etwa die demographische Katastrophe. Folgerichtig ist Besserung nicht durch irgendwie geartetes „Feintuning“ an Steuer- und Sozialversicherungssystemen zu erwarten. Das absehbare Platzen der staatlichen „Omnipotenzblase“ wird wohl mehr für die Gesundung unserer Gesellschaften leisten als die vergangenen Jahrzehnte ideologischen Sozialingenieurwesens.
Ein Fremder aus Elea
Wann immer der Staat eine vielversprechende Geldkuh sieht, füttert er sie.
Kann man mehr dazu sagen?
Ich meine, so läuft das Geschäft, und so wird es auch weiterlaufen, wenn der Staat weniger Geld auszugeben hat.
Das System ist auf seine Weise perfekt, und gerade deswegen ist es schwierig, von ihm abzuspringen.
Sein Hauptmakel, daß es verhindert, daß sich unter ihm ein Markt frei bilden kann, weil es den Konsum durch seine Subventionen verzerrt, kann nicht so ohne weiteres aufgehoben werden, die ideale Situation ist - aus welcher heraus es auch gewachsen ist, - daß ein großer Markt sich andernorts frei bildet, welchen es bedient. Dann kann es sogar den eigenen Markt nach einer Weile anpassen.
Nur ist es wahrscheinlich zu gut in der Situation, es zwingt den großen Markt, welchen es bedient, zum selben Verhalten, um mit ihm zu konkurrieren, bis es global überhaupt keinen freien Markt mehr gibt.
Die EU gibt ja vor, dem entgegenzuwirken, aber das läuft wahrscheinlich nur auf nationale Kuhhandel hinaus, ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, daß die EU mit sämtlichen nationalen Industriesubventionen aufräumt, wiewohl, so oder so, im Endeffekt läuft es darauf hinaus, die Subventionen auf europäischer Ebene zu koordinieren, auf welche Weise auch immer das bewerkstelligt wird, ob nun informell zwischen einzelnen Staaten oder zentral in Brüssel im Namen der europäischen Volkswirtschaft.
Den Menschen wird die Freiheit auf eine so indirekte und langwierige Weise entzogen, daß sie es nicht verstehen.
Ich meine, was haben wir bereits heute alles an Freiheit eingebüßt? Der Zwang zur Vervollkommnung unserer wirtschaftlichen Organisation höhlt unser Menschsein aus. Alte Geschichte, wirklich. Und was soll man sagen? Mit Jünger, daß man in der Rolle des Arbeiters aufgehen soll?
Früher oder später führt das natürlich zum Systemwechsel. Warum sich in einer Zeit, in welcher man technisch fast alles machen könnte, in ein immer engeres Korsett zwängen lassen?
Nur sollte man die sozialen und psychologischen Probleme dabei nicht unterschätzen. Und es geht natürlich immer auch um Macht, darum, andere auf Macht verzichten zu lassen und es selber nicht zu tun.
Typischer gordischer Knoten.