Vielfalt statt Einfalt (Normalismus 4)

von Adolph Przybyszewski

In Köln hat wieder ein Aufmarsch der Anständigen stattgefunden. Dem Anführer dieses Aufmarsches, dem regierenden christdemokratischen Funktionär der Dom-Stadt,...

… gelang es erneut, bun­des­deut­sche Sozi­al­de­mo­kra­ten und Anti­fa­schis­ten mit tür­ki­schen Natio­na­lis­ten und reli­giö­sen Lob­by­grup­pen, eman­zi­pier­te Pro­tes­tan­tIn­nen mit isla­mi­schen Anti­fe­mi­nis­ten, pro­gram­ma­tisch Tole­ran­te mit beken­nen­den Homo­se­xu­el­len­fein­den zu ver­ei­nen. Wie schön, wie bunt!

Eine sol­che Ein­heits­front der Viel­falt bedarf frei­lich des eini­gen­den Fein­des, gegen den sich all die­se  BRD-Bür­ge­rin­nen und Bür­ger mit ihren viel­fäl­ti­gen Her­künf­ten und Klas­sen­la­gen, Inter­es­sen und Nei­gun­gen for­mie­ren kön­nen. Daß die­ser Feind Fetisch­cha­rak­ter hat, wis­sen wir längst. Wunsch- und Angst­pro­jek­ti­on in einem, bil­den “die Rech­ten” als “Repu­blik­fein­de” das ganz Ande­re, das Bar­ba­ri­sche und Wil­de, das Anor­ma­le schlecht­hin für eine Gesell­schaft, die sich als uni­ver­sal, zivi­li­siert und tole­rant begreift. Der in der BRD domi­nie­ren­de fle­xi­ble Nor­ma­lis­mus fährt vor die­sem Fetisch sei­nen Tole­ran­zen-Ther­mo­stat her­un­ter und nähert sich damit struk­tu­rell  einem Pro­to­nor­ma­lis­mus, wie er bei den Natio­nal-Sozia­lis­ten auf die Spit­ze getrie­ben erschien: Deren Modell gesell­schaft­li­cher Nor­ma­li­sie­rung ent­sprach dem Typ einer Indus­trie­norm, und ent­spre­chend rigi­de fiel damals die “Aus­sor­tie­rung” nicht norm­ge­rech­ter Ele­men­te aus.

Tat­säch­lich geht der Nor­ma­lis­mus­theo­re­ti­ker Jür­gen Link unter bestimm­ten Bedin­gun­gen  von einem “unver­meid­li­chen Umschla­gen” des einen Nor­ma­lis­mus­typs in den ande­ren aus.  Die Grund­be­din­gung für den Umschlag jenes frü­he­ren Pro­to­nor­ma­lis­mus in den heu­ti­gen fle­xi­blen Nor­ma­lis­mus liegt dar­in, daß die “geschichts­lan­ge Güter­knapp­heit durch die quan­ti­ta­ti­ve und par­al­lel ver­lau­fen­de Stei­ge­rung von Pro­duk­ti­on und Kon­sum­ti­on eine neue, wen­den­de Qua­li­tät ange­nom­men” hat, wie der Ber­li­ner Phi­lo­soph Peter Furth mit Kon­dy­lis kürz­lich aus­ge­führt hat. In der zwei­ten Hälf­te des 20. Jahr­hun­derts konn­te sich so “eine neue Gesell­schafts­form” eta­blie­ren, die  als “Anglei­chungs- und Erschöp­fungs­re­sul­tat der sozia­len und ideo­lo­gi­schen Kämp­fe seit dem 18. Jahr­hun­dert” zu erken­nen ist: Es ist “eine Syn­the­se aus den ent­täusch­ten, nicht rui­nier­ten Bestand­tei­len der drei Ideo­lo­gien, die in der Nach­fol­ge der bür­ger­li­chen Revo­lu­ti­on um die Hege­mo­nie kämpf­ten: Libe­ra­lis­mus, Kon­ser­va­tis­mus und Sozia­lis­mus”. Die­se ideo­lo­gi­schen Res­te amal­ga­mier­ten also zu jener dif­fu­sen “Ein­stel­lung”, wie wir sie in der heu­ti­gen BRD als Main­stream vorfinden.

Die Ent­wick­lung einer bis dahin bei­spiel­lo­sen Mas­sen­pro­duk­ti­on und ‑kon­sum­ti­on  in West­deutsch­land nach dem letz­ten Welt­krieg  schien die Güter­knapp­heit und damit die Klas­sen­schich­tung end­gül­tig zu besei­ti­gen und dem Indi­vi­du­um im all­ge­mei­nen Wohl­stand neue Spiel­räu­me für einen gestei­ger­ten “Indi­vi­dua­lis­mus” zu öff­nen.  In der “Markt­wirt­schaft”, als die sich der west­deut­sche Staat bald vor­ran­gig defi­nier­te, gel­ten frei­lich Markt­gän­gig­keit und Ren­di­ten als ent­schei­den­de Ori­en­tie­rungs­grö­ßen – “Kon­to rhei”, wie  ein­mal einer mei­ner Bekann­ten aus der BRD in Anleh­nung an Hera­klits “Pan­ta rhei” bemerkt hat: Alles ist Kapi­tal­fluß, und Kapi­tal­fluß ist alles.  Hier müs­sen auch Pro­du­zen­ten und Kon­su­men­ten sich ver­flüs­si­gen, liquid wer­den, der Mensch als Per­sön­lich­keit wird liqui­diert. Tra­di­tio­nen, Behar­rungs­kräf­te, Son­der­rech­te stö­ren den Betrieb.

Den­noch braucht der ein­zel­ne Markt­teil­neh­mer geis­ti­gen Treib­stoff, und der liegt im Ver­spre­chen der “Selbst­ver­wirk­li­chung”. Um ein Selbst ver­wirk­li­chen zu kön­nen, muß sich die­ses not­wen­di­ger­wei­se aber von ande­ren unter­schei­den, also in gewis­ser Wei­se doch wie­der Abson­de­rung, Ver­fes­ti­gung und damit Behar­rung betrei­ben. Infol­ge die­ses Dilem­mas muß­te es in der ent­ste­hen­den, der Wei­ma­rer Zeit allen­falls ähn­li­chen Mas­sen­kul­tur West­deutsch­lands zu einer all­mäh­li­chen “Insti­tu­tio­na­li­sie­rung der Ambi­va­lenz” kom­men, also einer Unein­deu­tig­keit, die “die Ver­ei­ni­gung inkom­pa­ti­bler Moti­ve, Kon­for­mis­mus und Indi­vi­dua­lis­mus, kom­for­ta­bel leb­bar” mach­te und damit das Dilem­ma zu lösen schien:

Unter­schie­de mit onto­lo­gi­schem Anspruch, die nicht nur his­to­risch, son­dern von Natur aus vor­ge­ge­ben sind, kom­men dafür nicht in Fra­ge. Ihre Unver­füg­bar­keit ist ja der demo­kra­ti­sche Skan­dal. Sie sind in Deu­tungs- und Umwer­tungs­un­ter­schie­de zu ver­wan­deln, vor­find­li­che sind in gemach­te und mach­ba­re zu über­füh­ren. Und in die­ser Form, als Unter­schie­de der Mach­bar­keit, kön­nen sie bei­de Moti­ve bedienen.
Die dem uto­pi­schen Impuls im Gleich­heits­mo­tiv ent­ge­gen­ste­hen­den Unter­schie­de kön­nen bekämpft wer­den, indem man umin­ter­pre­tie­rend in der Sphä­re der Kul­tur bleibt, ohne die Opfer­kos­ten einer phy­si­schen Revo­lu­ti­on ris­kie­ren zu müs­sen. Die für Eigen­heit und Selbst­ver­wirk­li­chung gebrauch­ten Unter­schie­de kön­nen von der Nor­ma­li­tät der Ver­sand­ka­ta­lo­ge bis hin zur Pro­vo­ka­ti­on der Exzen­trik aus­pro­biert wer­den, ohne daß dabei die indi­vi­du­el­len Tole­ranz­gren­zen über­schrit­ten wer­den müs­sen. Dies geschieht in einem Raum, in dem der bür­ger­li­che Unter­schied von Pri­vat­heit und Öffent­lich­keit, ‘high and low cul­tu­re’, Hoch- und Pop­kul­tur ver­schwimmt, also nor­ma­ti­ve Ansprü­che Geschmacks­sa­che sind und zudem unter das Gebot der Per­mis­si­vi­tät fallen.

Peter Furth: Über Mas­sen­de­mo­kra­tie. Ihre Lage bei Pana­jo­tis Kon­dy­lis, in: Mer­kur, 63. Jg.  (2009), Nr. 2 [717], Febru­ar 2009,  S. 93–102

Was Peter Furth hier mit Kon­dy­lis ana­ly­siert, ist nichts ande­res als die ideo­lo­gi­sche Pra­xis des wohl­stands­be­ding­ten fle­xi­blen Nor­ma­lis­mus. Wenn die­ser nun im Auf­marsch der Anstän­di­gen wie­der­um umzu­schla­gen scheint, die “Tole­ranz” in einem Maße repres­siv gegen die indi­ge­ne deut­sche Bevöl­ke­rung wird, wie es frü­her kaum denk­bar schien, so wäre zu fra­gen, ob das nur ört­li­che Aus­schlä­ge jenes Ther­mo­sta­ten an den inne­ren Rän­dern des Nor­ma­lis­mus sind. Könn­te es nicht sein, daß sich an Punk­ten wie in Köln und vie­ler­orts anders­wo tat­säch­lich ein Umschlag in grö­ße­rem Maß­stab abzeichnet?

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