Kein Grund, sich wahlweise freudig erregt oder empört aufzurichten: Die obigen Sätze – Hervorhebung im Original – stammen weder aus einer IfS-Studie, noch aus einem nationalrevolutionären Manifest. Peter Glotz, von 1981 bis 1987 Bundesgeschäftsführer der SPD und deren »Intellektueller vom Dienst«, hat sie in der Einleitung seines 1989 erschienenen Werks Die deutsche Rechte. Eine Streitschrift formuliert. Es schließt sich denn auch ein stilistisch fragwürdiger, gleichsam der Frontstellung entsprechender Vergleich an: „Sie wollen die Rechte nicht untersuchen, sie wollen sie verachten oder verdrängen. Das führt aber nicht zum Ziel. Ich bitte deshalb um Verständnis, daß ich mich dem Gegenstand nähere wie ein Naturforscher. Der kann auch nicht in Emotionen verfallen, wenn er ein häßliches Tier unter dem Mikroskop hat.Ne
Dessenungeachtet handelt es sich bei Glotz’ Schrift um ein Werk, an dem kaum vorbeikommt, wer um ein tieferes Verständnis der westdeutschen Politiklandschaft im Schicksalsjahr 1989 bemüht ist. Vorrangiges Bemühen der Arbeit ist es, den unerwarteten Aufstieg der REPs Franz Schönhubers aus sozialdemokratischer Sicht einzuordnen – und damit verbunden die linke Furcht vor einem „reputierliche[n] parlamentarische[n] Nationalismus, der seine Gefahren hinter legitimierenden Vokabeln versteckt“, zu artikulieren. Vokabeln übrigens, zu denen Glotz neben „deutsche Identität“ und „homogenes Volk“ auch „Wiedervereinigung“ zählt, wie überhaupt sein häufiger Rekurs auf die bedrohlichen Konsequenzen des rapide zerfallenden Ostblocks für den Fortbestand der Zonengrenze Bände spricht über die beinahe hysterische Furcht des hauptberuflichen homo bundesrepublicanensis vor einem Wiedererwachen der deutschen Frage – wenige Monate vor dem Mauerfall.
Abgesehen von solch (aus heutiger Sicht) ulkigen Aspekten bietet das Buch jedoch eine bemerkenswert sachliche Bestandsaufnahme der seinerzeitigen rechten politischen Akteure, wenngleich der Autor in kommentierenden Einschüben seine ablehnende Position mehr als deutlich macht. Für Glotz lag eine hinnehmbare deutsche Rechte dann vor, wenn sie als solche klar erkennbar und für sich abgeschieden in der Parteienlandschaft lag, gemäß einer von ihm zitierten Aussage Kurt Schumachers vom Oktober 1945:
Die Zulassung der Rechtsparteien halte ich nicht für sehr gefährlich. Es ist wohl psychologisch […] etwas unklug, wenn man den einen oder anderen Geist von früher herumstolpern sieht in der politischen Bewegung, aber sie geben die Möglichkeit einer Kontrolle. Die große politische Gefahr für Deutschland ist der rechte Flügel der CDU […].
Letzteren Satz nun interpretierte Glotz dahingehend, daß schon in der unmittelbaren Nachkriegszeit die Wirksamkeit eines durch die sprichwörtliche Hintertür realpolitisch-behutsam eingeführten »Neuen Nationalismus« gegenüber einer außerparlamentarischen Rechten offensichtlich gewesen sei. Dahingehend räumte Glotz im Anschluß allerdings Konrad Adenauer die Leistung ein, durch seine Ausgestaltung der CDU in der BRD-Gründerzeit das vorhandene revolutionär-nationalistische Potential gebunden und so „die deutsch-nationale Traditionsrechte in der Bundesrepublik für viele Jahrzehnte klein gehalten“ zu haben; nach Adenauer habe lediglich noch Franz Josef Strauß diese Kohäsion für einige Zeit aufrechtzuerhalten vermocht. So zielte denn auch die politische Spitze des Buchs, wie der Verfasser eingangs betont, nicht auf Franz Schönhuber, sondern auf den seinerzeitigen Bundeskanzler Helmut Kohl, dessen „vitale[r] muddle-through-Pragmatismus“ die Aufspaltung der deutschen (Parteien-)Rechten und eine Freisetzung agitatorischer Energien maßgeblich verursacht habe.
An Schönhuber arbeitete sich Glotz dennoch reichlich ab: In den analytisch-kommentierenden Text eingeschoben waren unter dem Titel „Deutscher Streit“ mehrere Auszüge eines in der Welt geführten Streitgesprächs zwischen SPD-Mann und REP-Vorsitzendem (sowie einleitend ein Kommentar des Neuen Deutschland dazu unter dem Titel „Herr Glotz verharmlost die Neonazis“, den Glotz unter knappem Verweis auf die unsachgemäße Anwendung des Faschismusbegriffs – den er selbst wohlgemerkt gemäß der kommunistischen Dimitroff-Doktrin definierte – abtat). Diese »Feldbeobachtung« diente jedoch weniger zur Deklassierung eines politischen Gegners, als vielmehr zur Veranschaulichung der gewitterten allgemeinen Gefahr des Populismus, die Glotz unter Rückgriff auf Ernesto Laclau zu veranschaulichen versuchte. Schönhuber als politische Person war nur ein Beispiel; die scheinbare Bedrohung (stets mit Seitenblick auf die Unionsparteien) lag im Aufkommen des »neuen«, populistischen Typus von Funktionären und politischen Bewegungen, die allein schon aus definitorischen Gründen nicht – wie alles »-extremistische« – unter die bewährten Knuten zu zwingen sein würden. An anderer Stelle, jedoch mit gleicher Stoßrichtung, setzen denn auch Glotz’ Warnungen vor einer Neuen Rechten an, die er schon in der Anfangszeit der Bundesrepublik angelegt sah:
Denn es ist ja mehr als vordergründig, die deutsche Rechte nur am Nationalsozialismus (oder »Faschismus«, wie sich die marxistische Linke auszudrücken pflegt) zu messen. Der hatte sich in der Tat total desavouiert. Aber es gab natürlich genügend Leute, die die »plebejische« und »sozialistische« Phase zwischen 1933 und 1945 gern ausgelassen und sozusagen bei der »unverfälschten« Rechten angeknüpft hätten.
Es folgten unter den Kapitelüberschriften „Extremisten und Populisten“, „Die neue Lage und die neue Rechte“ sowie „Neonationalismus“ exemplarische Auseinandersetzungen mit subkutanen Strömungen rechter Intelligenz der späten achtziger Jahre. Dazu muß man nun allerdings wissen, daß die Bearbeitung dieses Themenfeldes ein konkretes Vorspiel hatte: 1980 war Hans-Dietrich Sanders Sammelwerk „Der nationale Imperativ. Ideengänge und Werkstücke zur Wiederherstellung Deutschlands“ erschienen, und der mit Sander befreundete jüdische Religionssoziologe Jacob Taubes hatte – in der Hoffnung, eine produktive Debatte zu entzünden – je ein Exemplar des öffentlich weithin unbeachteten Buchs an Horst Mahler und den damaligen Berliner Kultursenator Glotz versandt. Fast ein Jahrzehnt später folgte nun die Antwort von Peter Glotz:
Viel gefährlicher als dieser Rechtsextremismus [gemeint sind hier NPD und DVU; N.W.] sind die, die im Verfassungsschutzbericht gar nicht mehr genannt werden: die »Neue Rechte«. Es ist in Frankreich so wie in der Bundesrepublik: Aus der rechtsextremen Szene wächst ein Organisations- und Publikationsnetz, das nicht alte Kameraden, sondern neue Menschen sammeln will.
Glotz’ Skizzen des geistigen Repertoires von „Zeitschriften wie Wir selbst, Mut, Aufbruch oder Criticon“ waren oberflächlich und knapp, ergingen sich aber nicht in blanker Denunziation wie einschlägige zeitgenössische Journalisten („Maegerle“/Modery, Hundseder et al.). Er machte sich gar die Mühe, „einer breiteren Öffentlichkeit kaum bekannte Jungkonservative oder »neu-rechte« Intellektuelle“ vorzustellen und anhand ihrer Argumentationslinien untereinander zu differenzieren; die »Auserwählten« hierzu waren Henning Eichberg („Befreiungsnationalismus“), Hans-Dietrich Sander („Souveränität“) und Robert Hepp („Pronatalistische Bevölkerungspolitik“). Die Überblicksdarstellung kam etwas unbeholfen daher, da sich Glotz auf lediglich eine Publikation jedes Autors stützte (bei Eichberg derer zwei, um die Wandlung seiner Wortwahl innerhalb eines Jahrzehnts nachzuweisen); nichtsdestoweniger zeugte die inhaltliche Einlassung von einer beachtlichen intellektuellen Trennschärfe. Diesem allem immanent war jedoch die stete Sorge des Oppositionsfunktionärs, das in Lauerstellung befindliche, geistige Potential auf der Rechten könne alsbald vielleicht doch den Schmittschen »Zugang zum Machthaber« finden:
Ich fürchte, daß sich im nächsten Jahrzehnt zeigen wird, daß ein paar Ideen, die wir längst für tot hielten, noch ziemlich lebendig sind. An die Stelle von Taktiererei und hilfloser Faschismusbeschwörung muß eine präzise intellektuelle Auseinandersetzung treten.
Nun, die Glotzschen Befürchtungen hinsichtlich eines „neuen Nationalismus“ haben sich in den Neunzigern in der Tat bestätigt – allerdings nur um Deutschland herum, vor allem in den ehemaligen Ostblockstaaten. Seine Sorge um das Fortbestehen „einer DDR, die von lauter parlamentarischen Demokratien umgeben ist“, ohne eine Sowjetunion, hinter der sie sich verstecken könnte, allerdings… Nun, wir (wohl selbst die Sozialdemokraten) wissen es heute gottlob besser. Ein ähnlicher geschichtlicher Lackmustest für das im Buch gelegentlich beschworene Mantra des segensreichen Dualismus von Multikulturalisierung und europäischer Einigung bleibt bislang noch abzuwarten, ist aber durchaus denkbar. Die deutsche Rechte ist ein Buch, das man auch heute – 25 Jahre nach seinem Erscheinen, 75 Jahre nach Geburt seines Verfassers – noch zur Hand nehmen kann, nicht nur des gehobenen Schreibstils wegen, den man bei heutigen Politikern lange suchen muß. Auch, wenn die REP allzubald implodiert sind und die von Glotz beargwöhnten Unionsparteien mittlerweile dort stehen, wo sein innerparteilicher Mentor Willy Brandt einmal stand: Peter Glotz hat seinerzeit das feinsinnige, unaufgeregte Thesenpapier eines Alt-BRD-Demokraten unmittelbar vor der ungeahnten Wende verfaßt, womöglich das letzte dieses Tenors, im Jahre 11 vor dem »Aufstand der Anständigen«.