Lang ist’s her: SPD-Linker auf Augenhöhe

Das, was derzeit in der Bundesrepublik geschieht, muß – damit man es bekämpfen kann – sehr genau analysiert werden. Das heißt aber auch, daß es kalt analysiert werden muß, sozusagen mit spitzen Fingern, mit sterilisierten Instrumenten. Es gibt viele Deutsche, die das nicht akzeptieren.

 

Nils Wegner

Nils Wegner ist studierter Historiker, lektorierte 2015–2017 bei Antaios, IfS und Sezession und arbeitet als Übersetzer.

Kein Grund, sich wahl­wei­se freu­dig erregt oder empört auf­zu­rich­ten: Die obi­gen Sät­ze – Her­vor­he­bung im Ori­gi­nal – stam­men weder aus einer IfS-Stu­die, noch aus einem natio­nal­re­vo­lu­tio­nä­ren Mani­fest. Peter Glotz, von 1981 bis 1987 Bun­des­ge­schäfts­füh­rer der SPD und deren »Intel­lek­tu­el­ler vom Dienst«, hat sie in der Ein­lei­tung sei­nes 1989 erschie­ne­nen Werks Die deut­sche Rech­te. Eine Streit­schrift for­mu­liert. Es schließt sich denn auch ein sti­lis­tisch frag­wür­di­ger, gleich­sam der Front­stel­lung ent­spre­chen­der Ver­gleich an: „Sie wol­len die Rech­te nicht unter­su­chen, sie wol­len sie ver­ach­ten oder ver­drän­gen. Das führt aber nicht zum Ziel. Ich bit­te des­halb um Ver­ständ­nis, daß ich mich dem Gegen­stand nähe­re wie ein Natur­for­scher. Der kann auch nicht in Emo­tio­nen ver­fal­len, wenn er ein häß­li­ches Tier unter dem Mikro­skop hat.Ne

Des­sen­un­ge­ach­tet han­delt es sich bei Glotz’ Schrift um ein Werk, an dem kaum vor­bei­kommt, wer um ein tie­fe­res Ver­ständ­nis der west­deut­schen Poli­tik­land­schaft im Schick­sals­jahr 1989 bemüht ist. Vor­ran­gi­ges Bemü­hen der Arbeit ist es, den uner­war­te­ten Auf­stieg der REPs Franz Schön­hu­bers aus sozi­al­de­mo­kra­ti­scher Sicht ein­zu­ord­nen – und damit ver­bun­den die lin­ke Furcht vor einem „reputierliche[n] parlamentarische[n] Natio­na­lis­mus, der sei­ne Gefah­ren hin­ter legi­ti­mie­ren­den Voka­beln ver­steckt“, zu arti­ku­lie­ren. Voka­beln übri­gens, zu denen Glotz neben „deut­sche Iden­ti­tät“ und „homo­ge­nes Volk“ auch „Wie­der­ver­ei­ni­gung“ zählt, wie über­haupt sein häu­fi­ger Rekurs auf die bedroh­li­chen Kon­se­quen­zen des rapi­de zer­fal­len­den Ost­blocks für den Fort­be­stand der Zonen­gren­ze Bän­de spricht über die bei­na­he hys­te­ri­sche Furcht des haupt­be­ruf­li­chen homo bun­des­re­pu­bli­ca­nen­sis vor einem Wie­der­erwa­chen der deut­schen Fra­ge – weni­ge Mona­te vor dem Mauerfall.

Abge­se­hen von solch (aus heu­ti­ger Sicht) ulki­gen Aspek­ten bie­tet das Buch jedoch eine bemer­kens­wert sach­li­che Bestands­auf­nah­me der sei­ner­zei­ti­gen rech­ten poli­ti­schen Akteu­re, wenn­gleich der Autor in kom­men­tie­ren­den Ein­schü­ben sei­ne ableh­nen­de Posi­ti­on mehr als deut­lich macht. Für Glotz lag eine hin­nehm­ba­re deut­sche Rech­te dann vor, wenn sie als sol­che klar erkenn­bar und für sich abge­schie­den in der Par­tei­en­land­schaft lag, gemäß einer von ihm zitier­ten Aus­sa­ge Kurt Schu­ma­chers vom Okto­ber 1945:

Die Zulas­sung der Rechts­par­tei­en hal­te ich nicht für sehr gefähr­lich. Es ist wohl psy­cho­lo­gisch […] etwas unklug, wenn man den einen oder ande­ren Geist von frü­her her­um­stol­pern sieht in der poli­ti­schen Bewe­gung, aber sie geben die Mög­lich­keit einer Kon­trol­le. Die gro­ße poli­ti­sche Gefahr für Deutsch­land ist der rech­te Flü­gel der CDU […].

Letz­te­ren Satz nun inter­pre­tier­te Glotz dahin­ge­hend, daß schon in der unmit­tel­ba­ren Nach­kriegs­zeit die Wirk­sam­keit eines durch die sprich­wört­li­che Hin­ter­tür real­po­li­tisch-behut­sam ein­ge­führ­ten »Neu­en Natio­na­lis­mus« gegen­über einer außer­par­la­men­ta­ri­schen Rech­ten offen­sicht­lich gewe­sen sei. Dahin­ge­hend räum­te Glotz im Anschluß aller­dings Kon­rad Ade­nau­er die Leis­tung ein, durch sei­ne Aus­ge­stal­tung der CDU in der BRD-Grün­der­zeit das vor­han­de­ne revo­lu­tio­när-natio­na­lis­ti­sche Poten­ti­al gebun­den und so „die deutsch-natio­na­le Tra­di­ti­ons­rech­te in der Bun­des­re­pu­blik für vie­le Jahr­zehn­te klein gehal­ten“ zu haben; nach Ade­nau­er habe ledig­lich noch Franz Josef Strauß die­se Kohä­si­on für eini­ge Zeit auf­recht­zu­er­hal­ten ver­mocht. So ziel­te denn auch die poli­ti­sche Spit­ze des Buchs, wie der Ver­fas­ser ein­gangs betont, nicht auf Franz Schön­hu­ber, son­dern auf den sei­ner­zei­ti­gen Bun­des­kanz­ler Hel­mut Kohl, des­sen „vitale[r] mudd­le-through-Prag­ma­tis­mus“ die Auf­spal­tung der deut­schen (Parteien-)Rechten und eine Frei­set­zung agi­ta­to­ri­scher Ener­gien maß­geb­lich ver­ur­sacht habe.

An Schön­hu­ber arbei­te­te sich Glotz den­noch reich­lich ab: In den ana­ly­tisch-kom­men­tie­ren­den Text ein­ge­scho­ben waren unter dem Titel „Deut­scher Streit“ meh­re­re Aus­zü­ge eines in der Welt geführ­ten Streit­ge­sprächs zwi­schen SPD-Mann und REP-Vor­sit­zen­dem (sowie ein­lei­tend ein Kom­men­tar des Neu­en Deutsch­land dazu unter dem Titel „Herr Glotz ver­harm­lost die Neo­na­zis“, den Glotz unter knap­pem Ver­weis auf die unsach­ge­mä­ße Anwen­dung des Faschis­mus­be­griffs – den er selbst wohl­ge­merkt gemäß der kom­mu­nis­ti­schen Dimitroff-Dok­trin defi­nier­te – abtat). Die­se »Feld­be­ob­ach­tung« dien­te jedoch weni­ger zur Deklas­sie­rung eines poli­ti­schen Geg­ners, als viel­mehr zur Ver­an­schau­li­chung der gewit­ter­ten all­ge­mei­nen Gefahr des Popu­lis­mus, die Glotz unter Rück­griff auf Ernes­to Laclau zu ver­an­schau­li­chen ver­such­te. Schön­hu­ber als poli­ti­sche Per­son war nur ein Bei­spiel; die schein­ba­re Bedro­hung (stets mit Sei­ten­blick auf die Uni­ons­par­tei­en) lag im Auf­kom­men des »neu­en«, popu­lis­ti­schen Typus von Funk­tio­nä­ren und poli­ti­schen Bewe­gun­gen, die allein schon aus defi­ni­to­ri­schen Grün­den nicht – wie alles »-extre­mis­ti­sche« – unter die bewähr­ten Knu­ten zu zwin­gen sein wür­den. An ande­rer Stel­le, jedoch mit glei­cher Stoß­rich­tung, set­zen denn auch Glotz’ War­nun­gen vor einer Neu­en Rech­ten an, die er schon in der Anfangs­zeit der Bun­des­re­pu­blik ange­legt sah:

Denn es ist ja mehr als vor­der­grün­dig, die deut­sche Rech­te nur am Natio­nal­so­zia­lis­mus (oder »Faschis­mus«, wie sich die mar­xis­ti­sche Lin­ke aus­zu­drü­cken pflegt) zu mes­sen. Der hat­te sich in der Tat total des­avou­iert. Aber es gab natür­lich genü­gend Leu­te, die die »ple­be­ji­sche« und »sozia­lis­ti­sche« Pha­se zwi­schen 1933 und 1945 gern aus­ge­las­sen und sozu­sa­gen bei der »unver­fälsch­ten« Rech­ten ange­knüpft hätten.

Es folg­ten unter den Kapi­tel­über­schrif­ten „Extre­mis­ten und Popu­lis­ten“, „Die neue Lage und die neue Rech­te“ sowie „Neo­na­tio­na­lis­mus“ exem­pla­ri­sche Aus­ein­an­der­set­zun­gen mit sub­ku­ta­nen Strö­mun­gen rech­ter Intel­li­genz der spä­ten acht­zi­ger Jah­re. Dazu muß man nun aller­dings wis­sen, daß die Bear­bei­tung die­ses The­men­fel­des ein kon­kre­tes Vor­spiel hat­te: 1980 war Hans-Diet­rich San­ders Sam­mel­werk „Der natio­na­le Impe­ra­tiv. Ideen­gän­ge und Werk­stü­cke zur Wie­der­her­stel­lung Deutsch­lands“ erschie­nen, und der mit San­der befreun­de­te jüdi­sche Reli­gi­ons­so­zio­lo­ge Jacob Tau­bes hat­te – in der Hoff­nung, eine pro­duk­ti­ve Debat­te zu ent­zün­den – je ein Exem­plar des öffent­lich weit­hin unbe­ach­te­ten Buchs an Horst Mahler und den dama­li­gen Ber­li­ner Kul­tur­se­na­tor Glotz ver­sandt. Fast ein Jahr­zehnt spä­ter folg­te nun die Ant­wort von Peter Glotz:

Viel gefähr­li­cher als die­ser Rechts­extre­mis­mus [gemeint sind hier NPD und DVU; N.W.] sind die, die im Ver­fas­sungs­schutz­be­richt gar nicht mehr genannt wer­den: die »Neue Rech­te«. Es ist in Frank­reich so wie in der Bun­des­re­pu­blik: Aus der rechts­extre­men Sze­ne wächst ein Orga­ni­sa­ti­ons- und Publi­ka­ti­ons­netz, das nicht alte Kame­ra­den, son­dern neue Men­schen sam­meln will.

Glotz’ Skiz­zen des geis­ti­gen Reper­toires von „Zeit­schrif­ten wie Wir selbst, Mut, Auf­bruch oder Cri­ti­con“ waren ober­fläch­lich und knapp, ergin­gen sich aber nicht in blan­ker Denun­zia­ti­on wie ein­schlä­gi­ge zeit­ge­nös­si­sche Jour­na­lis­ten („Maegerle“/Modery, Hundse­der et al.). Er mach­te sich gar die Mühe, „einer brei­te­ren Öffent­lich­keit kaum bekann­te Jung­kon­ser­va­ti­ve oder »neu-rech­te« Intel­lek­tu­el­le“ vor­zu­stel­len und anhand ihrer Argu­men­ta­ti­ons­li­ni­en unter­ein­an­der zu dif­fe­ren­zie­ren; die »Aus­er­wähl­ten« hier­zu waren Hen­ning Eich­berg („Befrei­ungs­na­tio­na­lis­mus“), Hans-Diet­rich San­der („Sou­ve­rä­ni­tät“) und Robert Hepp („Pro­na­ta­lis­ti­sche Bevöl­ke­rungs­po­li­tik“). Die Über­blicks­dar­stel­lung kam etwas unbe­hol­fen daher, da sich Glotz auf ledig­lich eine Publi­ka­ti­on jedes Autors stütz­te (bei Eich­berg derer zwei, um die Wand­lung sei­ner Wort­wahl inner­halb eines Jahr­zehnts nach­zu­wei­sen); nichts­des­to­we­ni­ger zeug­te die inhalt­li­che Ein­las­sung von einer beacht­li­chen intel­lek­tu­el­len Trenn­schär­fe. Die­sem allem imma­nent war jedoch die ste­te Sor­ge des Oppo­si­ti­ons­funk­tio­närs, das in Lau­er­stel­lung befind­li­che, geis­ti­ge Poten­ti­al auf der Rech­ten kön­ne als­bald viel­leicht doch den Schmitt­schen »Zugang zum Macht­ha­ber« finden:

Ich fürch­te, daß sich im nächs­ten Jahr­zehnt zei­gen wird, daß ein paar Ideen, die wir längst für tot hiel­ten, noch ziem­lich leben­dig sind. An die Stel­le von Tak­tie­re­rei und hilf­lo­ser Faschis­mus­be­schwö­rung muß eine prä­zi­se intel­lek­tu­el­le Aus­ein­an­der­set­zung treten.

Nun, die Glotz­schen Befürch­tun­gen hin­sicht­lich eines „neu­en Natio­na­lis­mus“ haben sich in den Neun­zi­gern in der Tat bestä­tigt – aller­dings nur um Deutsch­land her­um, vor allem in den ehe­ma­li­gen Ost­block­staa­ten. Sei­ne Sor­ge um das Fort­be­stehen „einer DDR, die von lau­ter par­la­men­ta­ri­schen Demo­kra­tien umge­ben ist“, ohne eine Sowjet­uni­on, hin­ter der sie sich ver­ste­cken könn­te, aller­dings… Nun, wir (wohl selbst die Sozi­al­de­mo­kra­ten) wis­sen es heu­te gott­lob bes­ser. Ein ähn­li­cher geschicht­li­cher Lack­mus­test für das im Buch gele­gent­lich beschwo­re­ne Man­tra des segens­rei­chen Dua­lis­mus von Mul­ti­kul­tu­ra­li­sie­rung und euro­päi­scher Eini­gung bleibt bis­lang noch abzu­war­ten, ist aber durch­aus denk­bar. Die deut­sche Rech­te ist ein Buch, das man auch heu­te – 25 Jah­re nach sei­nem Erschei­nen, 75 Jah­re nach Geburt sei­nes Ver­fas­sers – noch zur Hand neh­men kann, nicht nur des geho­be­nen Schreib­stils wegen, den man bei heu­ti­gen Poli­ti­kern lan­ge suchen muß. Auch, wenn die REP all­zu­bald implo­diert sind und die von Glotz bearg­wöhn­ten Uni­ons­par­tei­en mitt­ler­wei­le dort ste­hen, wo sein inner­par­tei­li­cher Men­tor Wil­ly Brandt ein­mal stand: Peter Glotz hat sei­ner­zeit das fein­sin­ni­ge, unauf­ge­reg­te The­sen­pa­pier eines Alt-BRD-Demo­kra­ten unmit­tel­bar vor der unge­ahn­ten Wen­de ver­faßt, womög­lich das letz­te die­ses Tenors, im Jah­re 11 vor dem »Auf­stand der Anständigen«.

Nils Wegner

Nils Wegner ist studierter Historiker, lektorierte 2015–2017 bei Antaios, IfS und Sezession und arbeitet als Übersetzer.

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