Toskana-Fraktion von rechts – das Beispiel Chestertons

54pdf der Druckfassung aus Sezession 54 / Juni 2013

von Johannes Ludwig

Es war nur eine Frage der Zeit. Nachdem 2010 die erste Folge der BBC-Serie Sherlock ausgestrahlt wurde, die Arthur Conan Doyles Krimi-Klassiker kongenial und überaus erfolgreich modernisiert, mußte Father Brown bald folgen.

Anfang 2013 war es soweit: wie­der von der BBC pro­du­ziert, wie­der erfolg­reich, dies­mal aller­dings in der Insze­nie­rung klas­si­scher und des­halb auch eher etwas fürs Nach­mit­tags­pro­gramm. Father Brown und Sher­lock Hol­mes gehö­ren zusam­men, weil sie lite­ra­ri­sche Zwil­lin­ge sind, höchst unglei­che Zwil­lin­ge aller­dings: Der Detek­tiv Hol­mes löst Ver­bre­chen bereits wie heu­te bei CSI etc., also streng ratio­na­lis­tisch und mit wis­sen­schaft­li­cher Metho­dik; er hat aber zugleich einen pro­ble­ma­ti­schen, ja halt­lo­sen Cha­rak­ter, ver­läßt wochen­lang sei­ne Woh­nung nicht, spielt nachts Vio­li­ne oder ver­an­stal­tet Schieß­übun­gen auf die Wohn­zim­mer­wand. Der katho­li­sche Pries­ter Father Brown führt dage­gen ein fast lang­wei­lig ruhi­ges und geord­ne­tes Leben, geht bei der Ver­bre­chens­auf­klä­rung aber wesent­lich intui­ti­ver vor und löst sei­ne Fäl­le mit fei­ner Beob­ach­tungs­ga­be und berufs­be­ding­ter Menschenkenntnis.

Gil­bert Keith Ches­ter­ton, der Schöp­fer der Father Brown Sto­ries, hat erklärt, die Idee zu sei­nen Anti-Hol­mes-Detek­tiv­ge­schich­ten sei ihm gekom­men, als er bemerkt habe, wie ver­brei­tet die Fehl­wahr­neh­mung sei, Geist­li­che sei­en beson­ders welt­fremd und hät­ten von der Rea­li­tät des mensch­li­chen Lebens kei­ne Ahnung. Dabei sei das Gegen­teil wahr. Ches­ter­ton läßt Father Brown des­halb am Ende sei­nes ers­ten Fal­les dem von sei­nen kri­mi­no­lo­gi­schen Kennt­nis­sen ver­blüff­ten Meis­ter­dieb ent­geg­nen: »Ist es Ihnen nie­mals auf­ge­fal­len, daß ein Mensch, der so gut wie nichts tut, als ande­rer Leu­te wirk­li­che Sün­den anzu­hö­ren, wahr­schein­lich in mensch­li­cher Schlech­tig­keit nicht ganz uner­fah­ren ist?«

Einen katho­li­schen Pries­ter zur Haupt­fi­gur einer Kri­mi-Rei­he zu machen, ist bei wei­tem nicht die ein­zi­ge Ket­ze­rei, die Ches­ter­ton sei­nen Zeit­ge­nos­sen zuge­mu­tet hat. 1874 in Lon­don gebo­ren, gehör­te er dem Milieu der Künst­ler und Intel­lek­tu­el­len der spät­vik­to­ria­ni­schen Ära an. Was ihn aus die­sen Krei­sen her­vor­ste­chen ließ, war nicht so sehr sei­ne Nei­gung zur Exzen­trik – bezeich­nend ist eine Pas­sa­ge sei­ner Auto­bio­gra­phie, in der er berich­tet, wie er an sei­nem Hoch­zeits­tag vor der Trau­ung noch unbe­dingt ein Glas Milch trin­ken und einen Revol­ver kau­fen muß­te; ers­te­res, um sym­bo­lisch die Kind­heit abzu­schlie­ßen; letz­te­res, um in der Lage zu sein, sei­ne zukünf­ti­ge Ehe­frau zu beschüt­zen. Wich­ti­ger war, daß er von Anfang an Freu­de dar­an hat­te, gegen Üblich­kei­ten zu ver­sto­ßen und zu pro­vo­zie­ren. Unter lau­ter selbst­er­nann­ten Häre­ti­kern konn­te das für Ches­ter­ton nur hei­ßen, die ein­zi­ge wirk­lich unver­zeih­li­che Häre­sie zu ver­tre­ten: die Ortho­do­xie. Wenn man zunächst noch glau­ben konn­te, Ches­ter­tons Angriff auf neu­heid­ni­sche »Ket­zer« und sei­ne Ver­tei­di­gung gera­de der reak­tio­närs­ten Inhal­te katho­li­scher Dog­ma­tik sei­en blo­ße Pos­se – so ähn­lich wie sei­ne Ver­tei­di­gung des Unsinns oder des Schund­ro­mans –, so muß­te man bald fest­stel­len, daß der so humor­vol­le und bei jeder sich bie­ten­den Gele­gen­heit unernst­haf­te Ches­ter­ton sei­ne Sache tod­ernst meinte.

Tat­säch­lich misch­te sich bei Ches­ter­ton die Freu­de am Wider­spruch mit der beharr­li­chen Über­zeu­gung, daß Welt­an­schau­ungs­fra­gen alles ande­re als unwich­tig sei­en. Das mach­te sich auch im Bereich der poli­ti­schen Über­zeu­gun­gen bemerk­bar. Ches­ter­ton fing – wie so vie­le – als Libe­ra­ler an, neig­te aber auch hier von Anfang an zu sehr eigen­wil­li­gen Auf­fas­sun­gen. Kei­nes der bei­den gro­ßen poli­ti­schen Lager sei­ner Zeit über­zeug­te ihn; weder der Impe­ria­lis­mus noch der Sozia­lis­mus. Sei­ne anfäng­li­che Sym­pa­thie für die Sozia­lis­ten erklärt sich allein dar­aus, daß er sie für das gerin­ge­re Übel hielt. Der Buren­krieg weck­te sein Inter­es­se an Poli­tik, und natür­lich gehör­te er zu den weni­gen Eng­län­dern, die für die Buren Par­tei ergrif­fen; das aber nicht aus Pazi­fis­mus wie die meis­ten libe­ra­len oder sozia­lis­ti­schen Pro-Buren, son­dern ein­fach, weil er das Anlie­gen der Buren, ihr eige­nes Land gegen kos­mo­po­li­tisch-impe­ria­lis­ti­sche Inter­es­sen zu ver­tei­di­gen, für berech­tigt hielt.

Sol­cher­ma­ßen Ver­tre­ter der Posi­ti­on einer Min­der­heit inner­halb einer Min­der­heit, lern­te er Hilai­re Bel­loc ken­nen, der sei­ne Ansicht teil­te und in die­ser Zeit eben­falls noch ein Libe­ra­ler war. Bel­loc gehör­te zwi­schen 1906 und 1910 als libe­ra­ler Abge­ord­ne­ter dem Par­la­ment an, wand­te sich aber schließ­lich des­il­lu­sio­niert vom Libe­ra­lis­mus ab. Gemein­sam mit Ches­ter­tons fünf Jah­re jün­ge­rem Bru­der Cecil schrieb er ein viel­be­ach­te­tes Buch gegen das Par­tei­en­sys­tem und grün­de­te 1911 die Zeit­schrift The Eye-Wit­ness. Die dar­in geführ­te Atta­cke auf den kor­rum­pier­ten Par­la­men­ta­ris­mus – in dem in Wahr­heit immer die glei­che, par­tei­über­grei­fen­de Cli­que herr­sche und nicht dem Volk, son­dern ein­zel­nen Inter­es­sen­lob­bys die­ne – war aller­dings aus­drück­lich kein Angriff auf die Demo­kra­tie oder das Par­la­ment und soll­te kei­ner Par­tei, son­dern dem eng­li­schen Volk die­nen. Der von Cecil Ches­ter­ton 1912 auf­ge­deck­te Kor­rup­ti­ons­skan­dal, in den meh­re­re Mit­glie­der der eng­li­schen Regie­rung ver­wi­ckelt waren, betraf dann auch nur eher zufäl­lig die libe­ra­le und nicht die kon­ser­va­ti­ve Partei.

Die Ent­täu­schung über den Libe­ra­lis­mus und den Sozia­lis­mus führ­te jeden­falls weder bei Bel­loc noch bei den bei­den Ches­ter­tons zu einer Hin­wen­dung zum tra­di­tio­nel­len eng­li­schen Kon­ser­va­tis­mus. Bel­loc blieb eben­so Revo­lu­tio­när, als er Mon­ar­chist und Anhän­ger der Action fran­çai­se wur­de, wie G.K. Ches­ter­ton Revo­lu­tio­när blieb, als er Katho­lik wur­de. Im Fal­le Ches­ter­tons hing das nicht nur mit sei­ner Abnei­gung gegen­über dem ja eigent­lich libe­ra­len Impe­ria­lis­mus der Tories zusam­men; auch dem fun­dier­te­ren Kon­ser­va­tis­mus etwa Edmund Bur­kes konn­te er nur wenig abge­win­nen. Es ist ohne­hin schwer ein­zu­schät­zen, wie stark Ches­ter­tons poli­ti­sches Enga­ge­ment mit dem Gefühl der Ver­pflich­tung zusam­men­hing, das Ver­mächt­nis sei­nes Bru­ders wei­ter­zu­füh­ren, als die­ser 1918 infol­ge einer Kriegs­ver­wun­dung starb. Ches­ter­ton über­nahm jeden­falls die Her­aus­ge­ber­schaft der Zeit­schrift sei­nes Bru­ders und stritt gemein­sam mit Bel­loc vor allem für den »Dis­tri­bu­tis­mus«, eine im Grun­de mit­tel­al­ter­lich inspi­rier­te Wirt­schafts­ord­nung als »Drit­ten Weg« zwi­schen Kapi­ta­lis­mus und Plan­wirt­schaft, in der Pri­vat­be­sitz mög­lichst gleich­mä­ßig ver­teilt wer­den sollte.

Was »Ches­ter­bel­loc« (Geor­ge Ber­nard Shaw) da vor allem in der Di­stributist League und in Ches­ter­tons Pri­vat­zeit­schrift G.K.’s Weekly pro­pa­gier­ten, wies zwar Schnitt­men­gen mit kon­ser­va­ti­ven Anschau­un­gen auf, war aber doch noch rela­tiv weit von typi­schem Kon­ser­va­tis­mus, vor allem von typisch eng­li­schem Kon­ser­va­tis­mus ent­fernt. Ches­ter­ton galt sei­nen Zeit­ge­nos­sen auch eigent­lich nicht als Kon­ser­va­ti­ver, wohl aber als Reak­tio­när. Das bedeu­tet aber nicht, daß Ches­ter­ton je sei­nen revo­lu­tio­nä­ren Geist ver­lo­ren hät­te. Er hat ihn auch nicht zu einem revo­lu­tio­nä­ren Kon­ser­va­tis­mus umge­formt, son­dern die Par­tei­nah­me für die Reak­ti­on eigent­lich bloß als logi­sche Kon­se­quenz betrach­tet. Aus­schlag­ge­bend dafür war sei­ne schon erwähn­te reli­giö­se Posi­tio­nie­rung als Christ, genau­er: als Katholik.

Gegen den Katho­li­zis­mus, den Ches­ter­ton schließ­lich mit der Vehe­menz, aber ohne die Ver­bis­sen­heit des Kon­ver­ti­ten ver­trat, lie­ße sich wohl man­ches ein­wen­den; vor allem wäre die Fra­ge zu stel­len, ob es Ches­ter­tons Katho­li­zis­mus außer­halb der Zeit­span­ne zwi­schen dem Ers­ten und dem Zwei­ten Vati­ka­ni­schen Kon­zil über­haupt je gege­ben hat. Trotz­dem ist sei­ne Ver­tei­di­gung der (katho­li­schen) Ortho­do­xie fas­zi­nie­rend, zumal sie eigent­lich nur dar­in besteht, sämt­li­che übli­cher­wei­se gegen das Chris­ten­tum vor­ge­brach­ten Ein­wän­de auf­zu­neh­men und zu zei­gen, daß es sich dabei in Wirk­lich­keit um Vor­zü­ge han­delt. Die phi­lo­so­phi­sche wie his­to­ri­sche Wahr­heit des Chris­ten­tums bestand für Ches­ter­ton vor­nehm­lich dar­in, daß es die Ant­wort auf die not­wen­di­ge Kri­se des Hei­den­tums gewe­sen sei. Hat­te das Hei­den­tum das Heil in Ver­nunft und Maß – im »gol­de­nen Mit­tel­weg« – gese­hen, so habe das Chris­ten­tum einen neu­en, leben­di­ge­ren Mit­tel­weg ent­deckt: das gleich­zei­ti­ge Fest­hal­ten der Extre­me, die sich dadurch gegen­sei­tig ausbalancieren.

Nur so sei­en über­haupt die ver­schie­de­nen, oft völ­lig gegen­sätz­li­chen Vor­wür­fe der Moder­nis­ten an das Chris­ten­tum ver­ständ­lich: Den einen sei es zu fried­fer­tig (im Gebot der Nächs­ten­lie­be), den ande­ren zu gewalt­tä­tig (in den Kreuz­zü­gen); den einen zu pes­si­mis­tisch (in der Erb­sün­den­leh­re), den ande­ren zu opti­mis­tisch (im Erlö­sungs­ver­spre­chen); den einen zu frau­en­feind­lich, den ande­ren als Reli­gi­on nur etwas für Frau­en usw. Die strik­te Ableh­nung der »Lau­en« (Offb. 3,16) durch Chris­tus vari­ie­rend, schrieb Ches­ter­ton: »Es stimmt, daß die his­to­ri­sche Kir­che eben­so­viel Wert auf den Zöli­bat wie auf die Fami­lie gelegt, daß sie sich (wenn man so will) glei­cher­ma­ßen vehe­ment für das Kin­der­krie­gen und gegen das Kin­der­krie­gen aus­ge­spro­chen hat. Bei­des hat sie neben­ein­an­der­ge­setzt wie zwei star­ke Far­ben, Rot und Weiß, wie das Rot und das Weiß auf dem Schild des hei­li­gen Georg. Sie hat­te stets einen gesun­den Haß auf die Far­be Rosa.«

Wenn Ches­ter­tons Chris­ten­tum wie sei­ne poli­ti­schen Anschau­un­gen in ers­ter Linie katho­lisch waren, so gilt das im Posi­ti­ven wie im Nega­ti­ven. Es ist jeden­falls kein Zufall, daß Ches­ter­ton ab 1914 im »Krieg der Phi­lo­so­phen« (Peter Hoe­res) eif­rig auf der Sei­te des Fein­des kämpf­te und gegen die »Bar­ba­rei von Ber­lin« anschrieb. Das Preu­ßen­tum ver­ach­te­te er zeit­le­bens, und das nicht nur, weil er es nicht aus eige­ner Anschau­ung kann­te und nur eine unkla­re Vor­stel­lung davon hat­te, son­dern auch, weil er für pro­tes­tan­ti­sche Ernst­haf­tig­keit kei­nen Sinn hat­te. Ches­ter­ton hielt dem Jour­na­lis­mus, »dem leich­tes­ten aller Beru­fe« (Ches­ter­ton), nicht zuletzt des­halb die Treue, weil er lie­ber unge­zwun­gen sei­nen genia­len Ein­fäl­len folg­te, als sie müh­sam bis in die letz­te Kon­se­quenz durch­zu­ar­bei­ten. Das ist auch der Grund dafür, wes­halb sei­ne kon­kre­ten poli­ti­schen Auf­fas­sun­gen – vor allem der Dis­tri­bu­tis­mus – gleich­zei­tig so ver­nünf­tig und so unrea­lis­tisch wir­ken. Er war tat­säch­lich kein Kon­ser­va­ti­ver, was zunächst heißt, daß er die Tra­di­ti­on zwar ach­te­te – als »Demo­kra­tie für die Toten« –, im Zwei­fels­fall aber nur sehr selek­tiv bereit war, auf sie zu hören.

Dar­um ist es auch rich­ti­ger, Ches­ter­ton als Reak­tio­nä­ren zu bezeich­nen, aller­dings als Reak­tio­nä­ren nach eige­ner Fas­son. Inner­halb der Denk­fa­mi­lie der Rech­ten gehört er am ehes­ten zu jener oft kri­ti­sier­ten »Tos­ka­na-Frak­ti­on«, die in Ches­ter­tons Fall aber eher eine Bur­gun­der-Frak­ti­on ist und die ganz in sei­nem Sin­ne ein not­wen­di­ges Gegen­ge­wicht zu gewis­sen aske­ti­schen Aus­wüch­sen preu­ßisch-rech­ter Gesin­nung sein könn­te. Man kann daher von Ches­ter­ton auch heu­te noch viel ler­nen: Zunächst, daß man weder adlig noch Land­be­sit­zer sein muß, um eine reak­tio­nä­re Exis­tenz zu füh­ren; daß es also auch einen reak­tio­nä­ren Mit­tel­stand geben kann. Wich­ti­ger ist aber, daß auch für den Reak­tio­nä­ren Zeit­ge­nos­sen­schaft anstel­le blo­ßer Welt­flucht mög­lich ist. Ein Reak­tio­när à la Ches­ter­ton zieht sich nicht ange­wi­dert vor der Wirk­lich­keit zurück, son­dern strei­tet gut gelaunt für die Tra­di­ti­on. Dabei macht es nichts aus, daß die Tra­di­ti­on längst abge­ris­sen ist; man kann auch für sie kämp­fen, wenn es sie nicht mehr gibt. Oder anders aus­ge­drückt: Wenn die Hand­lungs­mög­lich­kei­ten des Kon­ser­va­tis­mus – Din­ge zu bewah­ren oder auch zu schaf­fen, die zu erhal­ten sich lohnt – gar nicht mehr real bestehen, dann zeigt die Lek­tü­re Ches­ter­tons einen gang­ba­ren Weg auf, der einen vor der frei­wil­li­gen Selbst­ein­wei­sung ins Irren­haus bewahrt.

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