So losgelöst. So müde. – Hirnhunde lesen

Ach, in die Qual gestellt/ taumelst inmitten,/ rings auf den Irrsinn der Welt/ Blumen zu schütten.
(Josef Weinheber: Sendung, 1934)

Wenn auf etwas Verlaß ist, dann immerhin auf den Schnellrodaer Versand – nach der Amazon-Blutgrätsche allzumal.

Nils Wegner

Nils Wegner ist studierter Historiker, lektorierte 2015–2017 bei Antaios, IfS und Sezession und arbeitet als Übersetzer.

Am ver­gan­ge­nen Sams­tag waren die „Hirn­hun­de“ in der Post: eine mehr als will­kom­me­ne Ablen­kung vom Bücher­wäl­zen anläß­lich der Examens­ar­beit und gewiß ein sinn­vol­le­rer Zeit­ver­treib, als Grau­stu­fen des Elends anzu­kreu­zen. Ges­tern, 21 Uhr sine tem­po­re, war der Roman ausgelesen.

An Bel­le­tris­tik aus der und/oder über die „Sze­ne“, was auch immer das sein mag, ist in ver­gan­ge­nen Jah­ren ja nun so eini­ges erschie­nen. Im Grun­de kein Wun­der, steckt doch von einer arg­wöh­ni­schen Per­spek­ti­ve her das All­tags­le­ben schon vol­ler Tra­gik und Skur­ri­li­tät, sodaß eine Über­tra­gung ins Lite­ra­ri­sche nahe­lie­gend scheint. Allein, der Schritt vom Bericht zur Kunst kommt eher einem blin­den Hüp­fer gleich, und Fuß zu fas­sen, ist nicht jeder­manns Sache – ohne damit jewei­li­ge Ver­fas­ser her­ab­wür­di­gen zu wollen.

Eng­lisch­spra­chi­ge Bän­de, wie das kon­ge­nia­le und wohl bald end­lich über­setz­te „Mis­ter“, wohl­weis­lich außen­vor­ge­las­sen: Bei einer kur­zen Reka­pi­tu­la­ti­on des­sen, wovon man „mal gehört“ haben könn­te, kom­men mir spon­tan Björn Cle­mens’ „Pas­cal Orm­unait. Ein deut­scher Jus­tiz­ro­man“ (2013) und Andre­as Molaus „Die Ent­de­ckun­gen des Alex­an­der Kern“ (2008) in den Sinn; bei­des Bücher, die ich selbst zuge­ge­be­ner­ma­ßen nicht gele­sen habe und mir des­halb auch kein Urteil anma­ße. Dar­über, daß letz­te­rer Herr sich mitt­ler­wei­le gehäu­tet und bei den „Aussteiger“-Auxiliarii ein­ge­reiht hat, kann man wei­ters geteil­ter Mei­nung sein, aber das ist für eine Bewer­tung als Autor ohne­hin unerheblich.

Dann war da noch eine Neu­erschei­nung in Baal Mül­lers Teles­ma-Ver­lag, „Von kom­men­den Stür­men“ aus der Feder Tho­mas Bar­thé­le­mys, deren Prä­sen­ta­ti­on auf dem letz­ten zwi­schen­tag mir auf­grund ander­wei­ti­ger Ver­pflich­tun­gen lei­der ent­ging. Und letzt­lich auch, sonst­wo, das skur­ri­le Inter­lu­di­um „Bauch­schmer­zen“ (2009) eines vor­geb­li­chen Wolf­gang Gott­schalk, bei dem das vom Ver­lags­text pro­kla­mier­te „Erschre­cken vor sich selbst“ zumin­dest bei mir als Leser irgend­wo aus­ge­blie­ben ist. Vie­ler­lei Stand­punk­te, vie­ler­lei Zugän­ge zum Roman als lite­ra­ri­scher Form – nach­dem ein ehe­ma­li­ger Dozent aus mei­ner Gie­ße­ner Zeit jüngst sei­ne Dis­ser­ta­ti­on über den „west­deut­schen Kriegs­ro­man 1945–1960“ in den Druck gege­ben hat, steht wohl lang­sam auch eine ger­ma­nis­ti­sche Arbeit über die rech­ten Post-Wen­de-Roma­ne zu erwar­ten. Wun­dern wür­de es jeden­falls nicht.

Nun also: „Hirn­hun­de“. Dan­kens­wer­ter­wei­se ein Buch, über das sich auch spre­chen läßt, ohne den Hand­lungs­ver­lauf offen­zu­le­gen! Das aber geht gleich­sam nicht, ohne ange­sichts des Ver­lags­tex­tes lächelnd den Kopf schief­zu­le­gen. Nicht, daß dort ein ein­zi­ges fal­sches Wort geschrie­ben stün­de, oh nein – der Roman selbst ver­mag alle Zusa­gen zu hal­ten, die die Wer­bung ein­geht. Jedoch, der­ar­ti­ges prägt den Leser zwangs­läu­fig vor, und ich glau­be kaum, daß das hier unab­sicht­lich geschieht:

Wer unbe­fan­gen, wohl als „Szene“-Exeget, an das Buch her­an­geht, der wird viel Ver­trau­tes wie­der­fin­den. Nicht in der Form eines Schlüs­sel­ro­mans, der qua­si einer Sekun­där­pu­bli­ka­ti­on harrt, die alle Deck­na­men offen­legt und aller­lei unter­stüt­zen­de Lek­türe­hil­fen bie­tet. Sowas hat der “Raoul Thal­heim” benams­te Autor nicht nötig und wohl auch nicht im Sinn gehabt. Von daher soll­te man hier auch nicht das gro­ße Ent­hül­lungs- oder Abrech­nungs­werk hin­sicht­lich der Neu­en Rech­ten erwar­ten; die­se Erkennt­nis wirkt gleich­sam befrei­end, da wohl wenig die­ses lie­bens­wert-ver­schro­be­ne Milieu so unent­spannt wir­ken läßt wie der Hang zur ewi­gen Selbst­re­fe­ren­tia­li­sie­rung und ‑kri­tik. In die­sem Sin­ne ist auch das Rate­spiel um die wah­re Iden­ti­tät des Schrift­stel­lers eigent­lich ziem­lich uner­heb­lich, obgleich der Ver­fas­ser die­ser Zei­len natür­lich sei­ne eige­ne The­se dazu hat.

Die „Hirn­hun­de“ zu bewer­ten, das hie­ße (ohne fal­sche Groß­tue­rei), vie­le Regis­ter gleich­zei­tig auf­zie­hen zu müs­sen. Um einen mög­li­chen Grund­vor­be­halt von vorn­her­ein zu ent­kräf­ten: Nein, hier liegt kein wei­te­res Larmoyanz-„Heulheul flenn­flenn, alle sind so gemein zu uns!“-Werk vor, derer es in Pro­sa und als Sach­buch wahr­lich genug gibt. Viel­mehr ist die­ser Roman schlicht­weg ein deut­sches, mei­net­hal­ben auch ein bun­des­re­pu­bli­ka­ni­sches Buch. Und das sogar, von mei­ner His­to­ri­ker­war­te aus, als men­ta­li­täts­ge­schicht­lich-künst­le­ri­scher Quer­schnitt durch die drei his­to­rio­gra­phi­schen Strö­me nach Fer­nand Brau­del – als da sind: geo­gra­phi­sche, zyklische/epochale sowie Ereig­nis­ge­schich­te –, soweit man einen Hauch Phan­ta­sie auf­bringt und dazu bereit ist, sine ira et stu­dio zwi­schen den Zei­len zu lesen. So ent­spinnt sich, und eben nicht rein tro­cken-wis­sen­schaft­lich, son­dern direkt am Leben, das Kon­den­sat der soge­nann­ten „Annales“-Schule: die his­toire tota­le, in der struk­tu­rell „alles mit allem zusammenhängt“.

Nun stellt aber „Hirn­hun­de“ nun ein­mal kei­ne geschicht­li­che oder auch nur ansatz­wei­se sonst­wie wis­sen­schaft­li­che Annä­he­rung an das Leben dies­seits des „Haupt­stroms“ dar. Viel­mehr lebt die­ses Buch und ent­fal­tet sei­nen Zau­ber ganz durch die Reso­nanz der Innen­schau des Prot­ago­nis­ten. Sei­ner Innen­schau und sei­ner Hal­tung im Spie­gel des jewei­li­gen Gegen­über: Sei­en es die Kol­le­gen in der Frei­geist-Redak­ti­on, sei es der alte Freund aus Kin­der­ta­gen oder gar das sich scheu annä­hern­de Wesen aus Ander­welt, eben jene Agnes, deren „Son­nen­strah­len“ aus einer ganz ande­ren Ebe­ne des schein­bar kom­plett in Schub­la­den ein­ge­ord­ne­ten Lebens her­über­strah­len. „Hirn­hun­de“ ist ein Roman des Füh­lens, sicher auch in gewis­sem Aus­maß des Ahnens. Ganz per­sön­lich glau­be ich nicht, daß irgend­je­mand, der jemals die Gefil­de der Sezes­si­on, des Insti­tuts für Staats­po­li­tik, der Neu­en Rech­ten oder der sonst­wie gear­te­ten tat­säch­li­chen Dis­si­denz jemals (und sei es unab­sicht­lich!) berührt hat, nicht sei­ner­seits von die­sem Werk berührt wer­den wird; dabei spielt es wirk­lich kei­ne Rol­le, ob er die­sen viel­leicht flüch­ti­gen Kon­takt als Autor, als Leser, als Kri­ti­ker, viel­leicht selbst als Schnüff­ler gefun­den hat.

„Hirn­hun­de“ wirkt des­we­gen so fas­zi­nie­rend, weil es kei­ner­lei appel­la­ti­ven Anspruch hat. Das macht den Roman so leicht­gän­gig; man kann ihn tat­säch­lich in einem Rutsch her­un­ter­le­sen, ohne zwi­schen­durch irgend­et­was nach­schla­gen zu müs­sen. Gewiß: Der­lei mag nicht unein­ge­schränkt gefal­len. Ich erin­ne­re mich leb­haft an gute, fun­dier­te Vor­trä­ge, nach denen die ers­te Wort­mel­dung aus einem schlich­ten „Und was machen wir jetzt?!“ bestand. Aber wir reden hier von Bel­le­tris­tik, zumal der edi­ti­on nord­ost, und ein Stück weit liegt dar­in der rein lite­ra­ri­sche Vor­zug des fik­tio­na­len Antai­os-Sor­ti­ments gegen­über etwa den kapla­ken.

Letz­te­re sind unge­mein wich­ti­ge, ja, wert­vol­le Büch­lein – nichts­des­to­we­ni­ger wird sich kaum jemand dafür inter­es­sie­ren oder einen wei­ter­füh­ren­den Gewinn aus der Lek­tü­re haben, der nicht ohne­hin schon „drin“ in dem Gan­zen und einer gele­gent­li­chen per­spek­ti­vi­schen Ver­ge­wis­se­rung nicht abhold ist. Da eröff­nen die Roma­ne (ob nun Klas­si­ker wie Fer­n­au, vom „Sys­tem“ ver­schmäh­te Glanz­lich­ter wie Ras­pail oder exo­tisch-visio­nä­re Wer­ke wie di Tul­lio) schon einen ande­ren geis­ti­gen Spiel­raum, gera­de weil man über sie auch mit „Außen­sei­tern“ leb­haft dis­ku­tie­ren kön­nen wird, soweit die­se auch nur eine Faser Unvor­ein­ge­nom­men­heit in sich tragen.

Denn „Hirn­hun­de“ lotet den fein­stoff­li­chen Bereich aus, der vie­len gut bekannt sein wird: die Beklom­men­heit gegen­über der irgend­wann unver­meid­li­chen Fra­ge „Und was machst Du so?“. Das spe­zi­fi­sche Unbe­ha­gen – im Buch: die „Grund­bauch­schmer­zen“ (sicher­lich nicht ohne Sei­ten­hieb, s.o.) – gegen­über unbe­ab­sich­tig­tem Bei­fall von uner­war­te­ter Sei­te. Die Zer­ris­sen­heit zwi­schen dem Wil­len, schlicht ein „guter“, arbeit­sam-ehr­li­cher Mensch zu sein und der Rea­li­tät, ers­tens hohn­lä­cheln­de Schur­ken auf der erfolgs­mä­ßi­gen Über­hol­spur zu sehen und zwei­tens von der soge­nann­ten Gesell­schaft ein schein­bar ein­mü­ti­ges „Wir wol­len Dich nicht!“ ins Gesicht gespien zu bekom­men. Die – allein jour­na­lis­ti­sche? – Selbst­ver­pflich­tung der Wahr­heit gegen­über, Hand in Hand gehend mit einer ganz spe­zi­el­len, über­bor­den­den Sen­si­bi­li­tät für das tat­säch­li­che Sein der Din­ge, die aber nicht in den gemei­nen Kanon paßt und des­we­gen allen­falls absei­tig vom eta­blier­ten Betrieb einen Kanal fin­det – die all­ge­gen­wär­ti­ge „Herr­schaft des Ver­dachts“ und der „Mimi­kry“ auf der ande­ren Sei­te. Das ewi­ge Sit­zen zwi­schen den Stüh­len. Gleich­zei­tig, und das dürf­te wohl ein über­grei­fen­der Anlaß zum Schmun­zeln sein, fehl­te auch lan­ge die Dar­stel­lung der Men­schen „unse­rer“ Gefil­de als tat­säch­lich-mensch­li­che Per­so­nen, bar jedes Hel­den- und Opfer­muts, schlicht fokus­siert auf ein anstän­di­ges Leben unter Erfül­lung des­sen, was die jewei­li­ge Arbeit eben verlangt.

Die „Hirn­hun­de“ sind, trotz aller Les­bar­keit und viel­sei­ti­ger Mög­lich­kei­ten der Aus­le­gung, gele­gent­lich ein Bro­cken in wahl­wei­se Magen oder Hirn. Das stellt sich spä­tes­tens dann ein, wenn es (unter häu­fi­ger Ver­ge­gen­wär­ti­gung der Gedan­ken­gän­ge des Prot­ago­nis­ten) um Zwi­schen­mensch­li­ches, auch und gera­de über poli­ti­sche Lager hin­weg, geht. Nicht zuletzt auch des­we­gen, weil die (sagen wir mal) roman­ti­schen Stel­len des Buchs gera­de gen Ende wohl zum Bedeu­tungs­volls­ten gehö­ren, was dies­seits irgend­wel­cher prä­ten­tiö­ser Lite­ra­tur­prei­se soweit geschrie­ben wor­den ist.

Yours tru­ly wei­gert sich in jedem Fall auch aus eige­ner Erfah­rung stand­haft, zu glau­ben, daß der­ar­ti­ge Berüh­rungs­mo­men­te/-sze­nen zwi­schen den soge­nann­ten „Extre­men“ eine Sel­ten­heit wären. Viel­mehr gilt es hier wohl, ein altes chi­ne­si­sches Sprich­wort zu beden­ken: näm­lich daß man, „wenn man wie ein Nagel her­aus­steht, eben platt­ge­hau­en wird“ – und im halb­krum­men Zustand nei­gen sich Nägel zwangs­läu­fig ein­an­der zu. Defi­ni­tiv han­delt es sich hier­bei um kein opti­mis­ti­sches Buch, und gewiß ist der Abschluß ähn­lich nie­der­rei­ßend wie bei den „Sie­ben“ – gleich­wohl han­delt es sich hier­bei um eine unhin­ter­geh­ba­re Lek­tü­re. Punctum.

(Hirn­hun­de hier ein­se­hen und erwerben.)

Nils Wegner

Nils Wegner ist studierter Historiker, lektorierte 2015–2017 bei Antaios, IfS und Sezession und arbeitet als Übersetzer.

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Kommentare (1)

Rumpelstilzchen

26. Mai 2014 21:39

Das Rechte, das ist definitiv männlicher Stil. Ordnungsgedanke, Dezisionismus, Etatismus, Kulturpessimismus, Ästhetizismus, Analyse. Das ist ein Männerprogramm, durch und durch.

aus Hirnhunde

Ich habe das Buch sofort bestellt, weil ich wissen wollte, wie es sich anfühlt, wie eine Fliege an der Decke rumzulaufen:

https://www.sezession.de/44946/raoul-thalheim-hirnhunde.html#more-44946

Ich habe das Buch verschlungen und bin begeistert. Endlich mal was für Frauen.
Kein Ordnungsgedanke ! Keine Männer, die auf Käfer starren. Ein liebenswerter Protagonist.
Ein intelligentes, sensibles Buch. Zum Lächeln, laut Lachen. Geniale Anspielungen, Komik . Eine zarte Liebesgeschichte, die in der Schwebe bleibt. Und somit hocherotisch. Unterhaltend, amüsant. Ein überraschendes Ende.

Ich bin zuwenig belesen, als dass ich wüsste, wer der Autor sein könnte.
Aber ich würde gerne mehr von ihm lesen. Vielleicht tritt er mit Perücke auf einer Lesung auf ? Ich hab' mich kaputtgelacht über diese im Buch genannte Idee.
Vielleicht hat ja Eugen diesen Roman geschrieben oder die Edelfeder aus Wien. Wer weiß.
Ich kann dem Buch nur eine große Verbreitung und Aufmerksamkeit auch von anderen Seiten wünschen.
Ein großer Wurf.

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