SEZESSION: Darf man daraus folgern, daß Sie junge Leute davor warnen würden, mit aktiver Politik oder Metapolitik in Richtung ebendieses Lagers zu wirken, will man die für den nonkonformen Geist tödliche Umarmung umgehen? Der Vordenker einer Neuen Rechten in Deutschland, Karlheinz Weißmann, formulierte dies ja ähnlich: „Hüte Dich vor jeder Ablenkung ins ‘Liberalkonservative’, ‘Freiheitlich-Konservative’, ‘Kulturkonservative’, ‘Wertkonservative’ – das sind Fallen, mit denen man Dich von der eigentlichen Auseinandersetzung fernhält, denn die ist politischer Natur und fordert klare Entscheidungen.“
ALAIN DE BENOIST: Sie fragen mich damit im Grunde, ob der Antiliberalismus oder, weiter gefaßt, die Feindseligkeit gegenüber bürgerlichen Werten zwangsweise dazu führen muß, es abzulehnen, sich politisch in Parteien oder Bewegungen zu betätigen, die diesen Werten mehr oder weniger große Konzessionen machen. Darauf kann ich Ihnen lediglich eine differenzierte Antwort geben. In persönlicher Eigenschaft als Intellektueller unterstütze ich keine Partei, denn ich sehe keine, die das verkörpert, was ich denke. Aber man kann ein solches Vorgehen nicht verallgemeinern. Nicht jeder nähert sich den Dingen intellektuell, und das ist auch gut so (eine Gesellschaft, die nur aus Intellektuellen bestünde, wäre unerträglich!). Manche sind durch ihr Temperament zur politischen Aktion gekommen; dieses Verlangen ist ebenso legitim.
So wie es selbstverständlich wünschenswert ist, daß die Politik nicht gleichgültig gegenüber Ideen ist, so reduziert sie sich nie auf eine rein ideenbezogene Angelegenheit. Sie hat ihr eigenes Wesen. Sie ist eine Sache von Machtverhältnissen und von Prioritäten. Sie ist vor allem die Kunst des Möglichen. Jene, die das ignorieren wollen, verurteilen sich zur bloßen Idealisierung (man träumt von einer „idealen Politik“), zum sterilen Aktivismus oder zum reinen und einfachen Extremismus.
SEZESSION: Worauf sollte dann heute der ideen- wie realpolitische Fokus liegen?
ALAIN DE BENOIST: Die Priorität läge darin, die herrschenden, vom Volk abgetrennten Klassen zu stürzen, das im Dienst der Banken und Kapitalmärkte stehende Establishment zu destabilisieren, oder wie es kürzlich Eric Zemmour sagte: jene „Eliten ohne Vaterland, die die Volkssouveränität nie akzeptiert haben, und die der wirtschaftlichen Globalisierung eher treu sind als den Interessen der Nation“. Dafür sind alle Mittel recht: eben auch den Front National in Frankreich, die Podemos-Partei in Spanien, Syriza in Griechenland oder die AfD in Deutschland zu unterstützen. Man muß nur darauf achten, sich von Illusionen frei zu machen und sich dessen bewußt zu sein, daß das Wesentliche anderswo liegt.
Anstatt die jungen Leute zu ermutigen oder zu entmutigen, sich in der einen oder anderen politischen Richtung zu engangieren, scheint es mir wichtiger, sie dazu zu veranlassen, ihren Diskurs zu erneuern, indem man sich einer tatsächlichen Denkarbeit widmet. Seit fünfzig Jahren höre ich die französische Rechte dieselben sterilen und überholten Formeln wiederholen. Seit fünfzig Jahren höre ich in Deutschland die ganze Zeit dieselben Wörter, wiederholt jeweils wie ein Mantra: „Kriegsschuld“, „Grundgesetz“, „Nationalstaat“ und jetzt „Islamisierung“.
Mit einem solchen Gepäck kommt man nicht weit. Wo ist die Vorstellung von der Welt? Wo ist die allgemeine Philosophie? Wer denkt ernsthaft über Konzepte der Moderne und der Postmoderne nach? Über die Art und Weise, wie der Handelswert dazu neigt, alle anderen Werte zu verdrängen? Über neue Formen gesellschaftlichen Zusammenlebens (der socialité)? Über die Grenzen des Wachstums? Anstatt sich leidenschaftlich den nächsten Wahlen zu widmen oder sich einzubilden, daß unsere Identität ohne Immigranten weniger problematisch wäre, wäre es besser, Louis Dumont, Jean Baudrillard, Christopher Lasch, Serge Latouche, Karl Polanyi, Hervé Juvin, Régis Debray, Jean-Claude Michéa, Moishe Postone, Hartmut Rosa oder Robert Kurz zu lesen…
SEZESSION: Schön, daß Sie auch an dieser Stelle Jean-Claude Michéa aufführen. Sie nehmen ja mehrfach Bezug auf diesen Theoretiker, der die Linke vom Liberalismus lösen möchte, um eine volksnahe, «populistische» Linke zu formieren. Verkörpern Sie – überspitzt gesagt – so etwas wie das Pendant zu Michéa, indem Sie die (Neue) Rechte vom Liberalismus lösen wollen? Pierre Drieu la Rochelle, den Sie zitieren, sprach hier von der «linken Politik mit rechten Menschen», die ihm vorschwebte.
ALAIN DE BENOIST: Ich bin weder das Pendant zu Jean-Claude Michéa noch denke ich gänzlich wie er. Michéa (dem man in Frankreich zu verdanken hat, die Gedanken von George Orwell und Christopher Lasch popularisiert zu haben), hat den großen Verdienst gehabt zu zeigen, daß sich der wirtschaftliche Liberalismus (von rechts) und der kulturelle oder gesellschaftliche Liberalismus (von links) von ein und derselben ideologischen Matrize ableiten. Man begreift gleichzeitig besser, weswegen jene, die im Mai 68 „ohne Einschränkungen genießen“ und „verbieten wollten zu verbieten“ (zwei typisch liberale Slogans), heute mehrheitlich zum Kapitalismus und zur Marktgesellschaft konvertiert sind. Michéa erinnert daran, daß der frühe Liberalismus ein Produkt der Linken ist, und daß Ende des XIX. Jahrhunderts die sozialistische Bewegung und die Arbeiterbewegung sowohl dieser Linken als auch der gegenrevolutionären Rechten und den Reaktionären, die davon träumten, das Ancien Régime zu restaurieren, konträr gegenüber standen. Marx, Proudhon oder Sorel wäre es nie in den Sinn gekommen, sich als „Männer der Linken“ zu begreifen.
Die Wahrheit ist, daß es immer mehrere Linken und mehrere Rechten gegeben hat, und daß einige von diesen Linken und einige von diesen Rechten mehr Affinitäten zueinander als zu jenen ihres Lagers hatten. Sich heute „links“ oder „rechts“ zu verorten, ist eine bequeme Art und Weise, die Dinge zu betrachten. Wenn jemand zu mir sagt, er sei „links“ oder „rechts“, erzählt mir das nichts über seine Vorstellungen. Es gibt eine liberale Rechte und eine antiliberale Rechte, eine revolutionäre Rechte und eine gegenrevolutionäre Rechte, eine Rechte, die für die Europäische Union optiert, und eine Rechte, die ihr feindselig gesonnen ist, eine pro-amerikanische Rechte und eine anti-amerikanische Rechte usw. Und selbstverständlich verhält es sich auf der linken Seite genauso.
Was die soziologischen Spaltungen betrifft, so sind auch sie selbst aufgebrochen (in Frankreich ist die erste Partei der Arbeiter nun der Front National). Der heutige Klassenkampf setzt der Neuen (transnationalen und globalisierten) Klasse die Gesamtheit der Mittelschichten und der Volksklassen entgegen. Drieu la Rochelle ist nicht der einzige, der über eine «linke Politik mit rechten Menschen» gesprochen hat. Die politische Umweltbewegung (natürlich gänzlich verschieden vom Wahlopportunismus der Grünen), könnte ebenso als ein revolutionärer Neokonservatismus angesehen werden. Man hat mich selbst manchmal als einen «Rechten von Links» oder einen «Linken von Rechts» genannt, der den Werten der Rechten und den Ideen der Linken nahestünde. Aber um ehrlich zu sein, mache ich mir aus solcherlei Etikettierung nichts.
SEZESSION: Gegner könnten Ihnen gleichwohl entgegnen, Ihr Streben nach einer Synthese aus enttäuschten (revolutionären und antiliberalen) Linken mit enttäuschten (revolutionären und antiliberalen) Rechten korreliere mit der (frühen) Faschismus-Definition des israelischen Forschers Zeev Sternhell. Womit wir indes bei der alten Polemik geistig wenig beweglicher Antifaschisten wären, die in der Nouvelle Droite nichts anderes als das moderne und intellektuelle Gesicht des Neofaschismus zu erblicken glauben.
ALAIN DE BENOIST: Die Thesen von Zeev Sternhell sind meiner Meinung nach sehr wohl anfechtbar. Und sie wurden und werden ja bestritten (von Raymond Aron, Jacques Julliard, Jean-Marie Domenach, Michel Winock, Serge Bernstein, Stanley Hoffmann, Paul Thibaud, Emilio Gentile usw.). Sternhell gibt vom „Faschismus“ eine so umfassende Definition, daß sie rückblickend auf Männer Anwendung zu finden glaubt, die aber tatsächlich resolute Gegner des realen Faschismus waren. Sternhell spricht über den „Faschismus“, als ob es sich um ein essentialistisches Phänomen handelte, das von der konkreten Geschichte losgelöst war. Der Faschismus war, übrigens genauso wie der Kommunismus, ein reines Produkt der Moderne, das heißt ein Produkt eines abgeschlossenen Zeitalters. Das dringt nur nicht zu den Dinosaurier-Zwillingen namens „Antifa“ und Neonazis: die einen wie die anderen irren sich im Zeitalter. Sich heute auf den Faschismus zu beziehen, heißt, keinen Sinn für den historischen Moment zu haben, der einen umgibt.
Und zu glauben, daß die revolutionäre Synthese aus „Enttäuschten von Links“ und „Enttäuschten von Rechts“ einer neuen Art des „Faschismus“ entsprechen würde, läuft darauf hinaus, sich zu verbieten, zu sehen, was es unverkennbar Neues durch die Spaltungen gibt, die sich heute in den meisten europäischen Länder andeuten. Diese Spaltungen haben im Augenblick noch keinen Namen, aber sie sind schon gut sichtbar. Geschichte ist definitionsgemäß offen, sagte Dominique Venner. Die Zukunft auf die Vergangenheit zurückzuführen heißt wahrlich den Beweis eines ernsthaften Mangels an Vorstellungskraft zu erbringen.
Literaturhinweise:
- Alain de Benoist: Mein Leben. Wege eines Denkens, 432 S., 24.95€.
- Michael Böhm: Alain de Benoist. Denker der Nouvelle Droite, 160 S., 5 €.
- Zudem hat der Verlag Antaios auf seiner Netzseite einen Bücherschrank eingerichtet, der alle derzeit in deutscher Sprache erhältlichen Bücher Benoists versammelt.