In seinem letzten, nun postum erscheinenden Buch Un samouraï d’Occident (»Ein Samurai des Abendlandes«) zog er noch einmal das Resümee seines Lebens und Denkens: Dasselbe Europa, dessen jahrtausendealte Kontinuität er in so vielen seiner Werke darzustellen versuchte, befände sich heute in einer beispiellosen Krise, einem »Winterschlaf« vielleicht nur, dessen Ausgang noch ungewiß sei. Getrennt von seiner Geschichte und seiner Identität, sei Europa heute seinen inneren und äußeren Feinden hilflos preisgegeben. Schon ist ein großer »Bevölkerungsaustausch« im Gange, der die europäischen Völker innerhalb weniger Jahrzehnte zu Minderheiten in ihren eigenen Ländern machen wird.
»Nur noch ein Gott kann uns retten«, sagte Martin Heidegger 1966 im Gespräch mit dem Spiegel. »Mystik zuerst, dann Politik«, so formulierte es Venner. Er erkannte, daß jede Kultur mit ihren metaphysischen Fundamenten stehe und falle. Doch wo eine solche »Mystik« suchen und finden? Im heutigen säkularen Europa scheint weit und breit keine zur »Verteidigung des Eigenen« geeignete Religion in Sicht zu sein. In einem seiner letzten Interviews drückte Venner die Hoffnung aus, daß unsere metaphysischen Quellen nicht versiegt seien: »Ebenso wie andere sich als Söhne von Shiva, von Mohammed, von Abraham oder von Buddha wiedererkennen, ist es nicht verkehrt, sich als Söhne und Töchter von Homer, von Odysseus und von Penelope zu wissen.« Die Gestalt hingegen, in der sich das Abendland fast zwei Jahrtausende lang wiedererkannt hat, unter deren Zeichen es eine beispiellose, triumphale Blüte erlebt hat, fehlt: Jesus Christus. Zu Unrecht? Nur schwer kann man sich Christus heute als zentrale Figur einer »identitären« Religion vorstellen, wie sie Venner vorschwebte. Fern sind die Zeiten, in denen Hilaire Belloc sagen konnte: »Der Glaube ist Europa«, ja: »Die Kirche ist Europa.«
Venner war ein eingefleischter, ein nietzscheanischer Heide, der zeitlebens mindestens in Distanz zum Christentum stand, bei gleichzeitigem Respekt vor seinen Kulturleistungen. In einem weiteren Interview erklärte er, daß man zwar durchaus Christ und Traditionalist zugleich sein könne. Er beschuldigte jedoch die Kirche Frankreichs, der Islamisierung des Landes durch Unterstützung und Beschleunigung der »afro-maghrebinischen Einwanderung« erheblichen Vorschub geleistet zu haben. Vor allem müsse man sehen, »daß eine universalistische, antirassistische und gewaltlose Religion, in deren Zentrum das Bewußtsein der eigenen Schuld steht, angesichts der Probleme unserer Zeit wie der afro-moslemischen Einwanderung einen schwachen Halt bildet.« Statt dessen empfahl er eine Rückkehr zu den »Fundamenten aus Granit«, den »grundlegenden Dichtungen« Homers, jener wahren »Bibel Europas«, mit der »Natur als Sockel«, der »Exzellenz als Prinzip« und der »Schönheit als Horizont«.
Hier sprach allerdings ein Atheist, dem die homerischen Götter vor allem als »Allegorien der Mächte des Lebens und der Natur« erschienen. Auch an ein Leben jenseits dieser Welt glaubte Venner nicht. »Die Essenz des Menschen«, schrieb er, liege »in seinem Dasein und nicht in einer ›anderen Welt‹. Es ist im Hier und Jetzt, wo sich unser Schicksal bis zur letzten Sekunde erfüllt.« An einem hochsakralen Ort der Christenheit entschied sich Venner für eine nichtchristliche Geste in der Tradition der antiken Stoiker.
Für kurze Zeit loderte das Fanal in den Schlagzeilen der französischen Presse. Einige wenige Sympathisanten und Weggefährten zogen respektvoll den Hut; die katholisch-konservativen Veranstalter der Proteste gegen die »Homo-Ehe« hingegen gaben zu erkennen, daß sie in Venner einen »tollen Menschen« sahen, der nichts mit ihnen zu tun habe. Ähnlich fiel die Reaktion mancher deutscher Konservativer aus. Ein exemplarischer Thersites schrieb von einer »gewaltsamen und schlimmen Geste eines Gestörten«, der unter gar keinen Umständen »ein Vorbild« sein könne. »Rechter Autor bringt sich aus Schwulenhaß um« titelte die Welt, und in diesem Tenor erledigten die meisten deutschen Medien den Fall.
Der Schriftsteller Richard Millet meinte, es wäre angebrachter gewesen, sich vor dem Pariser Rathaus zu erschießen. Aber die Wahl Notre-Dames zielt auf eine tiefere Symbolik. Staat und Kirche sind heute besetztes Gelände, okkupiert von den Feinden der europäischen Kultur und der europäischen Völker. Hat Venners Tat also frisches Blut in alte Kathedralen fließen lassen, auf daß sich neue Götter auf ihre verödeten Altäre niederlassen? Die Dome Frankreichs, Deutschlands und Italiens gehören in der Tat zu den herrlichsten Zeugen des europäischen Geistes. Aber sie scheinen heute nur mehr als touristische Schaustücke weiterzubestehen, nicht anders als die zwar imposante, aber keinen Gott mehr preisende Hagia Sophia.
II.
Am Morgen nach Venners Freitod traf bei mir eine Buchbestellung ein, die ich eine Woche zuvor getätigt hatte. Ein nur mehr antiquarisch erhältlicher Band, erschienen 1954 in einem katholischen Verlag: Gott ist tot?, die Autobiographie eines 1928 in der französischen Provinz geborenen jungen Mannes namens Michel Mourre. Dieser hatte am Ostersonntag des Jahres 1950 in Notre-Dame zu Paris einen außerordentlichen Skandal provoziert. Im Habit eines Dominikanermönches hatte er sich an das Lesepult gestellt und einen Text im Geiste Nietzsches, eher im Tonfall Zarathustras als des »tollen Menschen«, verlesen: »Wahrlich, ich sage euch: Gott ist tot. / Wir speien die Lauheit eurer Gebete aus, / Denn eure Gebete waren der schmierige Rauch über den Schlachtfeldern unseres Europa. / Geht fort in die tragische und erhabene Wüste einer Welt, in der Gott tot ist, / bis die Erde erneuert ist mit euren bloßen Händen, / Mit euren stolzen Händen, / Mit euren Händen, die nicht beten. / Heute, Ostern des Heiligen Jahres, / hier unter dem Zeichen von Notre-Dame de Paris, / Verkünden wir den Tod des Christengottes, auf daß der Mensch lebe zuletzt.«
Mourre und seine Spießgesellen wurden umgehend verhaftet und einer psychiatrischen Untersuchung unterzogen. Der Eklat wurde zum Gegenstand monatelanger, ernsthafter Debatten in den französischen Feuilletons. Denn schon bald wurde erkannt, daß Mourre nicht bloß als pöbelnder Ikonoklast gehandelt hatte. Seine »Predigt« hatte sich explizit an die »Lauwarmen« gerichtet, die nach dem berühmten Wort aus der Johannesoffenbarung »weder heiß noch kalt« sind, und die der Herr aus seinem Mund »ausspeien« wird. Mourre selbst hatte zu diesem Zeitpunkt bereits einen abenteuerlichen geistigen Lebensweg hinter sich, in dem sich auf schillernde Weise die Themen eines ganzen Jahrhunderts bündeln.
Das Leitmotiv von Mourres Leben war die Erfahrung der Entwurzelung und der Brüchigkeit der menschlichen Gewißheiten. Die entscheidende Figur in seiner Familie war sein Vater gewesen, Architekt von Beruf, bürgerlicher Sozialist, Freimaurer und Antiklerikaler, der »am Tage der Jungfrau von Orléans« die rote Fahne hißte und dessen Arbeitszimmer die Bildnisse des »Volksfront«-Idols Léon Blum und der spanischen Kommunistin »Passionaria« schmückten.
Der erste Schock in Mourres Kindheit war der frühe Krebstod seiner Mutter, der zweite der kurz darauf erfolgte Zusammenbruch Frankreichs im Juni 1940. Die Dritte Republik war unter dem Ansturm des Faschismus eingestürzt wie ein Kartenhaus, und mit ihr die über den Vater vermittelten »Götzenbilder«. Eines davon war die Vorstellung des allmächtigen Volkswillens, der Menschenmengen, die »immer schön« seien und unentwegt »sängen und siegten«. Der Anblick von Flüchtlingsmassen auf dem Bahnhof von Lyon, einer Menge »ohne Mut und Hoffnung, weil ihr ein Kopf fehlte«, kurierte Mourre »wohl für immer« von »dem Glauben an die schönen Träume der Demokratie«. »Das Volk – Gott Volk – verging vor Angst, weil es verlassen war, und fluchte der Freiheit, die es ins Unglück gestürzt hatte.« Er beobachtete, wie rasch sich die politischen Ideale der Menschen angesichts der neuen Machtverhältnisse verflüchtigten, wie schmiegsam sie sich der neuen Lage fügten. Auch sein Vater »vergaß« schnell große Teile seiner Biographie, und fand heraus, daß er vielleicht doch nicht so ein überzeugter Republikaner war, wie er bisher gedacht hatte, und daß der Nationalsozialismus doch auch ein Sozialismus sei – ein Phänomen, das sich nach der »Libération« mit umgekehrten Vorzeichen wiederholte.
Der junge Michel Mourre war auch in der Zeit der Vichy-Regierung weltanschaulich indifferent geblieben und weit entfernt davon, ein »nationales« Bewußtsein zu entwickeln. Der Wunsch, »etwas zu leisten«, brachte ihn im Frühjahr 1944 dazu, sich ohne politische Überzeugung einer »kollaborationistischen« Jugendorganisation anzuschließen, die Bombenopfer versorgte. Interessanterweise begegnete Mourre der Faschismus zuerst als »internationalistische« Idee. »Ich kannte damals kein Vaterlandsgefühl. Die väterliche Erziehung hatte nichts getan, es in mir zu wecken. Von Kindheit auf stand es für mich fest, daß es kein Frankreich mehr gab, daß die Vaterländer tot waren. Vater träumte nur von der Internationale. Und war es nicht eine Internationale, die der Faschismus zu schaffen unternahm?«
Mourre stellte im Rückblick fest, daß diese Disposition nicht selten war. Viele, die sich als Freiwillige an die Ostfront gemeldet hatten, suchten »ein Erlebnis, das ihnen den Weg zu sich selber wies. Andere Lebensumstände hätten sie vermutlich in die Widerstandsbewegung verschlagen. Die Zeit zwang den einzelnen, selbst Hand anzulegen und den Boden zu bereiten, auf dem er anderen zu begegnen hoffte. Alle diese jungen Leute, zu denen ich gehört hätte, wäre ich etwas älter gewesen, fühlten sich ihrer heimatlichen Erde, ihrem geistigen Nährboden entfremdet, weil man es unterlassen hatte, sie die Heimat und ihre Kultur lieben zu lehren. Deshalb hofften sie, auch ihre Gemeinschaft nicht auf die Wirklichkeit zu gründen – die man ihnen nie gezeigt hatte –, sondern auf ein heldisches Traumbild.« Die Anklage des »Verrats«, die nach der Befreiung auch gegen ihn erhoben wurde, konnte Mourre kaum nachvollziehen, weil ihm jegliche vaterländischen Bindungen fehlten.
Es ist bezeichnend für seinen Charakter, daß er sich erst in der Stunde ihrer Niederlage besiegten Kräften wie der ebenfalls in das Netz der Kollaboration verstrickten Action française zuwandte. Nach einer kurzen Haftstrafe geriet der 17jährige Herumtreiber in royalistisch-katholische Kreise und verschlang gierig die Schriften des nunmehr greisen Charles Maurras, dessen Unbeugsamkeit ihn begeisterte. Über Maurras entdeckte Mourre endlich den Anschluß an das »ewige Frankreich«: »Dank ihm ging mir der Sinn meiner Geburt auf. Beglückt erkannte ich das mir Aufgegebene, Naturnotwendige, weil ich auf französischem Boden geboren war, weil ich, insofern ich lebte, teilhatte an einem Schatz von Überlieferungen, Denknormen und Bräuchen, die sich im Laufe von Jahrhunderten herausgebildet hatten. Nicht sich selber schenkte da Maurras, nein, das gesamte geschichtliche, geistige, seelische Erbe Frankreichs, des lateinischen, des ›römischen‹ Abendlandes schloß er auf.« Dazu gehörte auch die »Begegnung mit der Ordnung«, die »Sehnsucht nach Ebenmaß«, der »Hunger nach Wahrheit«.
Mourre fühlte sich wie eine heimgekehrte Waise, glaubte nun seine »Einwurzelung«, seine Heimat, gefunden zu haben. »Jeden Tag erlebte ich die Freude, eine neue Bindung an Frankreichs Geist und Boden aufzuspüren.« Er verkehrte mit monarchistischen Splittergruppen, wurde zum Wahlkampfhelfer der gemäßigt rechten »Republikanischen Freiheitspartei«, prügelte sich mit Kommunisten, träumte von der Herausgabe einer eigenen Zeitschrift. Mourres wachsende Begeisterung für den Katholizismus ging nun weit über Maurras hinaus – diesen Atheisten, der die Kirche in erster Linie als nationale Ordnungsmacht pries. Er begeisterte sich für ihre »tausendjährigen Gebärden« und ihre altehrwürdige Geschichte. Selbst bei dem ungläubigen Maurras hatte er Sätze gelesen wie: »Ohne Anrufung Gottes, der die Franzosen liebt, wäre Frankreich ein entarteter Begriff.« Nun war ein noch größerer Hunger in Mourre entfacht, der Hunger nach dem Absoluten, nach Gott, der zum universalistischen Feuer aufloderte: Nicht eher sollte die Kirche ruhen, »bis die ganze Erde in eine einzige riesige Kirche verwandelt war und Gott je und je verherrlicht und gepriesen wurde im Leben eines jedes einzelnen Menschen«.
Mit achtzehn Jahren ließ Mourre sich taufen, ein Jahr später trat er als Novize in das Dominikaner-Kloster zu Saint-Maximin in der Provence ein. Dazwischen lag ein Intermezzo als Besatzungssoldat in Deutschland, das ihn fremdartig faszinierte. Er erlebte gar den Schmerz, »das Volk der Ritter meiner Träume uns kümmerlichen Siegern gefügig zu sehen.« Der Geist Deutschlands drückte sich ihm vor allem in dem Dürer-Stich »Ritter, Tod und Teufel« aus, dem auch Dominique Venner ein ganzes Kapitel in Un samouraï d’Occident gewidmet hat. Mourre fügte sich ein halbes Jahr lang in die Klosterdisziplin und unterwarf sich dem Mönchsleben außerhalb von Geschichte und Welt. Doch bald schon machten sich die alte Rastlosigkeit und das Gefühl des Ungenügens bemerkbar. Er verließ das Kloster und kehrte nach Paris zurück. Die Hochspannung seiner mystischen Phase fiel schlagartig ab, und bald schwand auch der Glaube. Erneut fand er sich unter Bohemiens, Taglöhnern und verkrachten Existenzen wieder, erneut bindungslos, ziellos, ohne einen erkennbaren Lebenssinn.
Mit Gott hatte er den Zugriff auf die Welt, das Leben und die Mitmenschen wieder verloren. Nun erlebte er sich in einer radikalen Entfremdung und Isolation, nicht anders als die Romanfiguren von Sartre und Camus. Aber eine Rechnung war noch offen. »Überdruß und Mißvergnügen« verwandelten sich in einen »hysterischen, überspannten Haß gegen Gott« und die katholische Kirche. Im Zustand einer besessenen Angespanntheit vollzog er den Eklat von Notre-Dame. Rückblickend verwarf er seine Tat und sah seine Geschichte als »Geschichte eines Scheiterns«. »Außerhalb Gottes erlangen wir nichts. Gott waltet fort und fort, am Born unseres Lebens und zu unserem Heil. … Gott bleibt als reine Hoffnung, die kein Schmutz, keine menschliche Schnödigkeit zuschanden machen kann.« Mourre geriet nun in Vergessenheit und wählte die Kontemplation des Gelehrten, unter anderem als Autor eines mehrbändigen Lexikons der Universalgeschichte. Er starb 1977, nach einem rastlosen, exzentrischen Leben.
III.
Zurück zu Dominique Venner, der nach einer Phase als jugendlicher, militant-nationalistischer Aktivist ebenfalls zum »meditativen Historiker« wurde: Die Lektüre von Michel Mourres Autobiographie erinnert uns, daß zwischen dem »Tod Gottes« und dem Tod Europas und Frankreichs ein enger Zusammenhang besteht. Sowohl Mourre als auch der nur sieben Jahre jüngere Dominique Venner haben sich vor dem jahrhundertealten Altar Notre-Dames, im Abstand von über sechs Jahrzehnten, ein- und derselben Krise gestellt, mit der Glut eines Geistes, den die meisten Nominalchristen heute nicht mehr kennen. Die große, kritische Frage nach der »Einwurzelung« des postchristlichen Menschen bleibt weiterhin offen.