Es sind früh Zweifel an der sachlichen Richtigkeit dieser Darstellung geäußert worden – fast alles spricht dafür, daß die Soldaten sangen, um nicht in eigenes Feuer zu geraten -, aber die Wirkung des Symbols Langemarck hat das nicht beeinträchtigt. Die heldenhaft stürmenden Kriegsfreiwilligen, die mit dem Deutschlandlied auf den Lippen siegten oder den Tod fanden, erschienen wie ein großes mythisches Bild, das den „Ideen von 1914” Bestätigung gab. Diese Wirkung hat sich nach dem Ende des Ersten Weltkriegs keineswegs verloren, zumal es wegen der Niederlage keine andere Möglichkeit gab, der Toten zu gedenken, als im Sinn des „Opfers”. Während die eine Seite dieses Opfer als „sinnlos” ansah, betrachtete es die andere als „ver sacrum”, als Hingabe der Jugend für den Fortbestand der Gemeinschaft.
Entsprechende Ideen waren durchaus über den Bereich der nationalen und nationalistischen Verbände hinaus verbreitet. Der Langemarck-Kult wurde in den zwanziger Jahren aber vor allem von Veteranen, außerdem Sportorganisationen, Jugendbewegung und Studentenschaft getragen. Das hing vor allem mit der Vorstellung zusammen, die „jungen Regimenter” hätten in erster Linie aus kriegsfreiwilligen Schülern und Hochschülern bestanden; seit 1928 waren Langemarck-Feiern an den Universitäten zur festen Einrichtung geworden, gleichzeitig kam es zur Einführung der „Langemarck-Spende”, die dazu diente, eine würdige Gedenkstätte für die Gefallenen zu errichten.
Daß die Erinnerung an Langemarck eine starke Klammer bildete, war auch am Langemarck-Buch der Deutschen Studentenschaft zu erkennen, das 1933 schon mit einem Vorwort des neuen Reichskanzlers Adolf Hitler, aber auch mit einem Beitrag des „konservativen Revolutionärs” Edgar Jung erschien, der im folgenden Jahr von der SS getötet werden sollte. Die Nationalsozialisten konnten sich in bezug auf Langemarck der Traditionen bedienen, die sie vorfanden. Eine Korrektur fand nur insofern statt, als man betonte, daß es sich bei den Soldaten keineswegs nur um Studenten gehandelt habe, sondern auch um Handwerker und Arbeiter, so daß weniger an einen elitären Zuschnitt, eher an eine Repräsentation der „Volksgemeinschaft” zu denken war. Vor allem aber hat das Regime – hier wie in anderen Fällen – übernommen, vereinseitigt und instrumentalisiert. In den Zusammenhang gehörte die Intensivierung des Langemarck-Kults durch Hitler-Jugend und Reichsstudentenführung, die Einführung von „Langemarck-Studium” (für begabte Hochschüler aus armen Familien) und „Langemarck-Wettkämpfen” unter Einschluß von Disziplinen militärischen Charakters.
Ihren stärksten Ausdruck fand diese Art symbolischer Politik 1936 in der Errichtung der „Langemarck-Halle” unterhalb des Glockenturms auf dem Berliner Olympia-Gelände. Es handelt sich um einen Raum, der nach dem Vorbild eines antiken Tempels errichtet wurde – sogar das Deckengebälk hatte man in Beton imitiert – und mit seinem „Erdschrein”, der Erde des Schlachtfelds enthielt, zu einem zentralen Ort des Gefallenen-Kults gemacht werden sollte, der für die politische Theologie des Systems eine entscheidende Rolle spielte. Sinnfällig wurde das an den Sätzen, die man an den beiden Seitenwänden anbrachte: Hölderlins „ … Lebe droben, o Vaterland, / Und zähle nicht die Todten! Dir ist, / Liebes! Nicht Einer zu viel gefallen” an der einen, an der anderen das Flex-Zitat „Ihr heiligen grauen Reihen / geht unter Wolken des Ruhms / und tragt die blutigen Weihen / des heimlichen Königtums!”
Die Langemarck-Halle war nicht nur ein Ort des Gedenkens, sondern mehr noch ein ständiger Appell an die „Opferbereitschaft” der Jungen. Welche Konsequenz das hatte, ließ sich nach dem Beginn des Zweiten Weltkriegs ermessen, als die Langemarck-Halle auch dem Gedenken an die Gefallenen des neuen Kampfes diente. Zu diesem Zeitpunkt begann das Symbol Langemarck aber schon an Kraft zu verlieren; als seltsamer Fehlgriff erschien die Entscheidung, eine Einheit der flämischen Waffen-SS mit dem „Ehrennamen” zu versehen, ohne Belang; blieb noch die Entscheidung, im April 1945 ein „Hitler-Jugend Bataillon Langemarck” aus jungen Deutschen und Flamen aufzustellen.
Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und der anschließenden Zerstörung von Teilen des Olympiageländes verfiel die Langemarck-Halle, wurde dann provisorisch wiederhergestellt und aus baulichen Gründen erneut geschlossen; seit dem Sommer dieses Jahres ist sie in restauriertem Zustand wieder zugänglich. Begrüßenswert ist die Behutsamkeit der Wiederherstellung, die – abgesehen von den Fenstern zwischen den Säulen, deren Anbringung Hitler ausdrücklich verboten hatte – den Originalzustand weitgehend bewahrt. Auf eine volkspädagogisch motivierte Dekonstruktion wurde jedenfalls verzichtet. Jedem steht es frei, die in einem Nebenraum untergebrachte Ausstellung zur Schlacht und zum Langemarck-Mythos anzusehen, die ihrerseits sachlich gehalten ist und deren Material in einem empfehlenswerten Katalogbändchen zusammengefaßt wurde (Rainer Rother: Geschichtsort Olympiagelände, Berlin: Jovis 2006. 160 S., kt, zahlreiche Abbildungen, 19.80 €).
Es gibt seit einiger Zeit ein wachsendes Interesse an „Erinnerungsorten”. Soweit dieses Interesse nicht nur antiquarischer Natur ist, kann es dem Zweck dienen, nicht nur die Gedanken, sondern auch die Gefühle der Vergangenheit besser zu verstehen. Einige dieser Gefühle haben große Macht ausgeübt, und dazu gehören ohne Zweifel die Empfindungen, die an Langemarck geknüpft waren. Allein ihre Intensität sollte zur Vorsicht mahnen, wenn über deren Recht oder Unrecht geurteilt wird; angemessener ist die sorgfältige Unterscheidung zwischen Brauch und Mißbrauch.