Nichts ergreift eine Gruppe von Zuhörern mehr als ein authentisches und heftiges Bild, das der Redner vor ihnen entwirft. Was Götz Kubitschek, der am ersten Abend des gemeinsamen Wochenendes vor die 90 Teilnehmer trat, zu sagen hatte, war sorgenschwer und dunkel.
Er sprach von einem modernen Typus Mensch, der „wie aus Seife” sei – ständig entschlüpfe er seinem Gegenüber, lasse sich von keinem Argument aus der Reserve locken. Zwar begegne er dem Gegenüber freundlich, mit höflichem Verständnis für dessen – wenn auch oppositäre – Standpunkte, doch mache er sich nie erreichbar. Selbst die Empathie, die er aufbringe, habe keinerlei Rückbindung an eigenes Gefühl. Was immer er auch vorfinde, so auch die fremden Standpunkte, passe er in ein funktionales Systemgefüge ein, worin es auf seine Verwertbarkeit abgeklopft werde. Da er keine Leidenschaften und Bindungen – Beschwernisse einer alten Welt – mehr kenne, sei er umso flexibler, anpassungsfähiger, daher im Vorteil.
Mit der verheerenden Aussicht, daß diesem Typus möglicherweise die Zukunft gehöre, ein Gott zu unserer Rettung nicht kommen möge, entließ Kubitschek seine Zuhörer in den „freien Abend“.
Freilich, ein solches Schauerbild, allemal eine solche Schlußnote (an Leif Randts neuem Roman Planet Magnon entlangkomponiert) sollte eigentlich dazu angetan sein, die Zuhörer in dumpfe Resignation zu stürzen. Doch geschah das genaue Gegenteil. Ohne daß man hätte sagen können, woran es lag – an einer Gunst der Stunde, einer unterschwelligen Mobilisierungskraft der Rede –, wirkte dieses Bild zwar über das ganze Wochenende weiter (immer wieder kam man im Gespräch darauf), doch hatte es eine rundherum erbauliche, vitalisierende Wirkung. Man darf sogar sagen, daß es die Teilnehmer geradezu verschwor, aus der Gruppe eine Gemeinschaft machte.
Zu solchen paradoxen Reaktionen kommt es mitunter in der Kunst, wenn man etwa beim Betrachten einer Kriegsmalerei von Goya über die finsteren Motive hinaus – aber auch durch sie hindurch – ästhetisch berührt, erfüllt und beseelt wird. Doch kommt es dazu nur auf höchstem Niveau, wenn nämlich der unbedingte Einsatz des Künstlers seiner Darstellung eine Intensität verleiht, die wiederum den Betrachter durchdringt und sein Auge erst „sonnenhaft“ werden läßt.
Einen ähnlichen Vorgang gab es bei Kubitscheks Rede und, wie bei einem Lauffeuer, das alles Umliegende erfaßt, immanent auch bei allen anderen Vorträgen zum Thema „Geschichtspolitik“, die den 90 Teilnehmern zu Ohren gebracht wurden. Ob Erik Lehnert über den Schuldstolz, Friedrich Pohlmann über den Historikerstreit, Michael Rieger über die geschichtspolitische Positionierung der Literatur oder Klaus Hammel über die nachgereichte Moral beim Blick auf die Wehrmacht referierte – immer griff mehreres ineinander:
Hingabe an den Gegenstand, Eifer und Ernsthaftigkeit auf Seiten der hervorragenden Redner, geballte Konzentration, Strebsamkeit und Aufnahmehunger auf Seiten der Zuhörer. Der Höhepunkt des Wochenendes: ein grandios dichtes Gespräch über Martin Heidegger bei Kerzenlicht, das auf nicht mehr als zehn Teilnehmer beschränkt war, nährte sich ganz entschieden von dieser Dynamik und wäre ohne sie nicht halb so intensiv gewesen.
Es ist dieses Ineinander, dieses gegenseitige Beflügeln ALLER Beteiligter, das so etwas Schwerwiegendes darstellt: nämlich die Bergung und Freilegung einer Gestalt, die letztlich jenem Schreckensbild des entlebendigten, technokratischen Seifenmenschen genau entgegensteht. Sie birgt all das, was diesem entzogen ist: innere Entflammbarkeit, Vehemenz, Unverlogenheit, Demut.
Vielleicht darf man sie, und sei es bloß der Griffigkeit halber, die „Schnellrodaer Gestalt“ nennen. Denn allein dort, in der Abgeschiedenheit der Sachsen-Anhaltischen Provinz, flankiert von den Denkfabriken IfS – Antaios – Sezession wird an ihr und ihrer Zukunft gearbeitet, werden ihre Anlagen gestärkt und verfeinert. Man kann – und jeder der 90 Teilnehmer wird es bestätigen – allen weiteren Interessierten nur zuraten, an dem Prozeß teilzunehmen. Er ist einmalig und gravierend.