Als einzige Rettung der Freiheit des Denkens, wenn auch nur punktuell auf der Ebene des Einzelnen, erscheint Lisson der „Homo Absolutus“, der vollständig losgelöste Mensch.
Ein Mensch, der sich von allen Tendenzen lossagt. Nach Lisson ist dies durch geschichtliche Bildung möglich. Indem der Homo Absolutus die verschiedenen Zustände und Tendenzen der Geschichte vergleicht, könne er sich privat für die entscheiden, die seiner genetischen Veranlagung und damit seinem ihm eigenen Denken am ehesten entsprechen. Seine Freiheit ist aber in keiner Weise politisch. Es besteht hierbei eine interessante Parallele zum evolanischen Konzept der Apolitaia, also der politischen Enthaltsamkeit aus dem Gefühl der Unzeitgemäßheit. Evola wurde jedoch apolitisch in einer Zeit, in der er für sich keine Wirkungsmöglichkeit sah. Lissons Ideal ist grundsätzlich antipolitisch aus Abscheu gegen die Mechanismen menschlichen Zusammenlebens.
Wenn es aber je einen Homo Absolutus gegeben hat, dann war das Julius Baron Evola. Solch eine Gestalt war aber nur in einer Zeit extrem freien Denkens überhaupt möglich und wirkte selbst damals oft grotesk. Er zeigt uns die Grenzen dieses Modells. Wie sollte so jemand unter restriktiveren Bedingungen möglich sein? Wie sollte unter den Bedingungen der sozial-demokratischen Zivilisation ein Mensch in der Lage sein etwas anderes zu wollen als das gegebene? Der Ausweg Lissons ist allenfalls ein verlorener Posten einzelner freier Geister während der Zeit des Übergangs.
Es drängt sich erneut die Frage auf warum ein Denker, der sein Werk ausdrücklich nicht als politisch verstanden haben will, doch beständig um politische Fragen kreist. Ist es nur weil das Politische durch seine Existenz die Freiheit des Denkers einschränkt? Mir scheint es doch noch eine tiefere Begründung zu geben. Lisson entlarvt jeden Gott und jede Metaphysik als Technik, mit deren Hilfe der Mensch sich in der Welt einrichtet und existenziellen Fragen ausweicht.
Aber wenn dem Menschen kein Gott gegenübersteht, dann bleiben dem Philosophen für seine Betrachtungen nur der Kosmos und der Mensch übrig. Der Kosmos ist ohne Metaphysik sinnlos. Es bleibt als lohnendes Beobachtungsfeld nur der Mensch. Der Mensch aber ist ein Gemeinschaftswesen. Er ist nur aus seiner Situation in der Gemeinschaft mit anderen Menschen zu verstehen. Ohne Gott und Metaphysik wird der Philosoph notwendig zum Gesellschaftswissenschaftler.
Als solcher unterscheidet Lisson leider nicht immer klar zwischen der Tendenz der Sozial-Demokratie und dem Zustand der »Zivilisation«. Insbesondere der „Homo Crator“ leidet unter diesem Fehler. Dabei müsste die Trennlinie scharf gezeichnet werden. Denn eine Tendenz ist Lisson ein gesellschaftspsychologisches Phänomen. Ein Zustand ist ihm die materielle Rahmenbedingung des Denkens. Konsequenterweise bestünde dann für eine Tendenz die Gefahr zu scheitern, was für einen Zustand nicht möglich wäre. Er beinhaltet im Gegensatz zur Tendenz nämlich kein Ideal. Ein Zustand könnte lediglich von einem anderen Zustand abgelöst werden.
Die Sozial-Demokratie als Haupttendenz unserer Zeit hat sich, zumindest im Westen, spätestens seit 1945 zunehmend verfestigt. Muss sie aber die Tendenz der Zukunft sein? Ich will hier nicht die Lehre von der prinzipiellen Offenheit der Geschichte, dieses Trostbonbon der von der Geschichte überrollten, vertreten. Dennoch sollte man vorsichtig sein, die letzten siebzig Jahre mit dem Aufstieg des Christentums zu vergleichen. Das Christentum hat, was immer es sonst war, seine Gemeinschaften gestärkt. Mit dem immer wildere Auswüchse zeigenden Egalitarismus der Sozial-Demokratie ist hingegen buchstäblich kein Staat zu machen.
An dieser Stelle offenbart sich eine große Schwäche Lissons: Er überträgt die Frage nach der Funktionalität nicht vom Einzelnen auf die Tendenz. Seine Trilogie ist eine brillante Analyse der Zwänge und Korrumpierungen des Menschen durch seine Umwelt und die eigene Natur. Für eine Geschichtsprognostik – und diesen Anspruch erhebt das Werk ja auch – reicht das nicht aus.
Frank Lisson: Homo Absolutus. Nach den Kulturen, Schnellroda: Antaios 2015 (überarbeitete Neuauflage). 558 S., 22 €, hier bestellen
Die Homines-Trilogie kann hier für 55 € statt 66 € (bei Einzelkauf) bestellt werden.
Ein Fremder aus Elea
Also ich würde nicht apodiktisch behaupten, jemand, der in der Sozialdemokratie groß wurde, könne nichts anderes wollen, als was sie ihm gibt. Eine solche Behauptung ist, denke ich, zuviel der Ehr.
Allgemeiner würde ich nicht sagen wollen, daß ein Mensch vollständig durch sein Umfeld bestimmt wird, wiewohl es stimmen mag, wenn man die Geschichte der letzten 100 000 Jahre mit in dieses Umfeld einbezieht.
An der Situation des Menschen, der Welt gegenüberzustehen und etwas aus ihr und in ihr machen zu müssen, ändert sich ja nichts, ob es Gott nun gibt oder nicht.
Der Unterschied betrifft doch nur den Glauben, welchen man dbzgl. gewinnt. Wenn es einen Gott gibt, kann er etwas gegen den eigenen Glauben haben oder ihn auch unterstützen. Gibt es ihn hingegen nicht, so ist Glaube eine rein subjektive Notwendigkeit aus der Psychopathologie des Menschen heraus, also sich etwas ganz fest einreden zu müssen, um sich mit einiger emotionaler Stabilität durch's Leben bewegen zu können.
Und dieser Unterschied kann einem so lange egal sein, wie man nicht auf Fragen des dem Menschen Verbotenen und Gebotenen zu sprechen kommt.
Ich würde sagen, die Sozialdemokratie betrifft das gerade nicht. Weder ist sie verboten, noch geboten. Sie ist eine profane freie Entscheidung, in welcher sich freilich zuvörderst der Widerwille, sich für oder gegen irgendwas zu entscheiden, ausdrückt.
Aber eine derart unentschlossene Phase dauert nie an.