Eliade und Werner Müller

pdf der Druckfassung aus Sezession 16/Februar 2007

sez_nr_162von Karlheinz Weißmann

„Wenn man die Bibliographie von Dr. Werner Müller aufmerksam prüft, wird man verstehen, warum er nicht unter die gelehrtesten und schöpferischsten Religionshistoriker unserer Zeit aufgenommen wurde. Um es vorneweg zu sagen, er weiß zuviel und das in zu vielen Forschungsgebieten. Dazu kommt, daß er sich hauptsächlich für wichtige und bedeutende Probleme interessiert, und letztendlich schreibt er klar und prägnant und verfügt über eine seltene Gabe zur Synthese."

Mit die­sen Sät­zen begann Mir­cea Elia­de sei­ne Wür­di­gung Wer­ner Mül­lers zu des­sen 75. Geburts­tag. Die Kern­aus­sa­ge hat bis heu­te nichts von ihrer Rich­tig­keit ver­lo­ren. Mehr noch, die Auf­merk­sam­keit, die Mül­ler zu Beginn der acht­zi­ger Jah­re in gewis­sen Krei­sen genoß, hat sich längst wie­der ver­lo­ren. Von sei­nem Tod am 8. März 1990 wur­de in der Öffent­lich­keit kaum Notiz genom­men, sei­ne Bücher fin­den sich nur noch in Antiquariaten.

Elia­des Text erschien 1981 in der „Zeit­schrift für Kraut und Rüben”: Unter dem Pflas­ter liegt der Strand. Der Titel war selbst­ver­ständ­lich ein deut­li­cher, über­deut­li­cher Bezug auf die Acht­und­sech­zi­ger, zu deren Slo­gans auch die­ser gehört hat­te. Aber wäh­rend Dani­el Cohn-Ben­dits Pflas­ter­strand zu den Orga­nen des lin­ken main­streams zähl­te, war Unter dem Pflas­ter liegt der Strand eher ein Jahr­buch, dem nie­mals der Sprung in die brei­te­re Öffent­lich­keit gelang, ein Sprach­rohr derer, die die Jugend­re­vol­te vor allem als Suche nach Authen­ti­zi­tät ver­stan­den hat­ten, für die Anar­chis­mus und Dro­gen­ex­pe­ri­men­te, befrei­te Sexua­li­tät und Hip­pie­kom­mu­ne, öko­lo­gi­scher Land­bau und fern­öst­li­che Spi­ri­tua­li­tät weni­ger mit Poli­tik und nichts mit einer „zwei­ten Auf­klä­rung” zu tun hat­ten, mehr mit einem neu­en, Lebens­kon­zept: selbst­be­stimmt, ganz­heit­lich, unver­nünf­tig, natür­lich. Paul Feyer­abend gehör­te des­halb zu den Haus­hei­li­gen eben­so wie Hans Peter Duerr, und in einem gewis­sen Sinn auch Elia­de und Wer­ner Müller.
Was sie alle ver­band, war die Wahr­neh­mung der Ver­nunft als „ent­frem­den­de” (Micha­el Land­mann), die prin­zi­pi­el­le Stel­lung gegen die Mach­bar­keits­il­lu­sio­nen der Nach­kriegs­zeit, den tech­no­kra­ti­schen Geist, der alle Lager ein­te, und die Zukunfts­fi­xie­rung des Den­kens. Ansons­ten wie­sen die Inter­es­sen­schwer­punk­te, die welt­an­schau­li­chen Ori­en­tie­run­gen und die Bio­gra­phien denk­bar gro­ße Unter­schie­de auf. Das galt selbst­ver­ständ­lich vor allem für die Älte­ren. Mül­ler war am 22. Mai 1907 zur Welt gekom­men, mit leben­di­gen Erin­ne­run­gen an die Zeit vor dem Ers­ten Welt­krieg, und in den gro­ßen Kri­sen der zwan­zi­ger, drei­ßi­ger und vier­zi­ger Jah­re erwach­sen geworden.

Daß er bei den Jun­gen Gehör fand, man­che ihn sogar als „Kult­fi­gur” der alter­na­ti­ven Sze­ne bezeich­ne­ten, hing weni­ger mit sei­nen theo­re­ti­schen Schrif­ten, eher mit dem Zen­trum sei­ner wis­sen­schaft­li­chen Arbei­ten – den Reli­gio­nen der nord­ame­ri­ka­ni­schen India­ner – zusam­men. Seit­dem er 1930 bei dem Bon­ner Theo­lo­gen Carl Cle­men mit einer Arbeit über Die ältes­ten ame­ri­ka­ni­schen Sint­flut­erzäh­lun­gen pro­mo­viert wor­den war, hat­te ihn die­ses The­ma nicht mehr los­ge­las­sen. Nach dem Zwei­ten Welt­krieg ver­öf­fent­lich­te er ein hal­bes Dut­zend gro­ßer Mono­gra­phien über ver­schie­de­ne Aspek­te india­ni­scher Reli­gi­on. Von ihm stamm­ten auch die ent­spre­chen­den Abschnit­te in dem Ame­ri­ka-Band der bis heu­te unüber­trof­fe­nen Rei­he Reli­gio­nen der Mensch­heit des Kohl­ham­mer-Ver­la­ges, und in sei­nem letz­ten Buch Ame­ri­ka – die neue oder die alte Welt? leg­te er eine Art Syn­the­se sei­ner For­schun­gen vor.
Damit bezog er noch ein­mal eine dezi­dier­te Außen­sei­ter­po­si­ti­on, weil er den direk­ten Zusam­men­hang der alt­ame­ri­ka­ni­schen und der eura­si­schen Zivi­li­sa­tio­nen in der Früh­zeit des Men­schen behaup­te­te; eine Auf­fas­sung, die von der zünf­ti­gen Wis­sen­schaft immer zurück­ge­wie­sen wur­de, die aber neu­er­dings ver­stärkt Aner­ken­nung fin­det, auf Grund gene­ti­scher Unter­su­chun­gen eben­so wie auf Grund archäo­lo­gi­scher Fun­de, die eine bis in ferns­te Ver­gan­gen­heit zurück­rei­chen­de und lang­dau­ern­de Bezie­hung der Kon­ti­nen­te über den Atlan­tik hin­weg wahr­schein­li­cher wer­den las­sen. Das beson­de­re an der Argu­men­ta­ti­on Mül­lers war aller­dings, daß er an das Vor­han­den­sein einer „altark­ti­schen” Zivi­li­sa­ti­on glaub­te, die durch nach­drän­gen­de Eski­mos gezwun­gen wur­de, nach Süden aus­zu­wei­chen und sich dabei in zwei Flü­gel teil­te: der eine bil­de­te in der Fol­ge die nord­ame­ri­ka­ni­schen India­ner­stäm­me, der ande­re die west­eu­ra­si­sche Bevöl­ke­rung. Zwi­schen bei­den gebe es über das Meso­li­thi­kum hin­aus­rei­chen­de kul­tu­rel­le und reli­giö­se Gemein­sam­kei­ten, die so auf­fäl­lig sei­en und sich so deut­lich von den Merk­ma­len der ost­eu­ra­si­schen Zivi­li­sa­tio­nen unter­schie­den, daß eine ent­spre­chen­de Deu­tung naheliege.
Wie für Elia­de das kos­mi­sche Chris­ten­tum der rumä­ni­schen Bau­ern war für Mül­ler die Reli­gio­si­tät der India­ner der Aus­gangs­punkt und Maß­stab sei­ner Über­le­gun­gen. In sei­nem Essay India­ni­sche Welt­erfah­rung hat er die­se Fixie­rung unter Hin­weis auf eine Äuße­rung Ste­fan Geor­ges erklärt: „Nietz­sche kann­te die Phi­lo­so­phen, ich ken­ne die India­ner”; das war natür­lich nicht als Bekennt­nis zu Karl May oder Wild­west-Roma­nen zu ver­ste­hen, son­dern als Aus­druck dafür, daß der Dich­ter nach jenem „Urstoff” des Den­kens such­te, von dem die „Wil­den” noch wuß­ten. Mül­lers Vor­stel­lung war, daß die­ser Urstoff vor allem in einer beson­de­ren Fähig­keit gele­gen habe, das kos­mi­sche Gan­ze zu erfas­sen, ein Ver­ständ­nis vom not­wen­di­gen Gleich­ge­wicht zwi­schen mensch­li­chem Ein­grei­fen und natür­li­chen Kräf­ten zu ent­wi­ckeln und das Gött­li­che in allen sei­nen Mani­fes­ta­tio­nen zu begrei­fen. Das Archai­sche der india­ni­schen Spra­chen habe ihre „Sinn­lich­keit und Wirk­lich­keits­freu­de” erhal­ten, die Mög­lich­keit, die „Uner­meß­lich­keit der Phä­no­me­ne” und den „unend­li­chen Wech­sel der Situa­tio­nen” zu verstehen.

Das erklä­re auch, war­um sie zur Abs­trak­ti­on und Sche­ma­ti­sie­rung kaum fähig sei­en, ein Man­ko, das Mül­ler aller­dings für einen Vor­zug hielt. Denn sei­ner Auf­fas­sung nach waren die bei­den Mau­er und Git­ter des „euro­päi­schen Denk­ge­fäng­nis­ses”, aus dem es kein Ent­kom­men mehr gebe, son­dern nur elen­de Haft im Beschränk­ten und All­ge­mei­nen: „Die wis­sen­schaft­li­chen, tech­ni­schen und wirt­schaft­li­chen Ziel­vor­stel­lun­gen ver­knüp­fen sich zwang­haft mit einer emo­tio­na­len Ver­ar­mung ohne­glei­chen. … Der post­his­to­ri­sche Mensch bestimmt die Sze­ne. Zwang und Nöti­gung ste­cken in sei­nem Wir­ken, und auch die Wis­sen­schaft ist not­wen­dig ein Kind sei­ner Ratio­na­li­tät. Die Abstrei­fung des Adjek­ti­vi­schen, der Rück­zug auf die Begriff­lich­keit gehört zu ihrem Wesen.”
Mül­ler glaub­te nicht an die Mög­lich­keit einer Mas­sen­flucht aus die­sem Ker­ker. Der Euro­pä­er hat­te sich schon zu lan­ge – im Grun­de seit dem Sieg von Sokra­tes und Pla­ton über die ioni­sche Natur­phi­lo­so­phie – an Reduk­tio­nen gewöhnt. Das war eine pes­si­mis­ti­sche Bot­schaft, die sei­ne Anhän­ger sicher nicht hören woll­ten. Was sie inter­es­sier­te, waren die Aus­sa­gen Mül­lers über die „Natur­fröm­mig­keit” der India­ner, will­kom­men als Bei­trag zu einem Welt­bild, in dem die Vor­stel­lung eine wich­ti­ge Rol­le spiel­te, daß die tra­di­tio­nel­len Gesell­schaf­ten, die Stäm­me und Clans, eine alte Weis­heit bewahr­ten, an die man nicht nur den­kend, son­dern auch in der Lebens­pra­xis anknüp­fen kön­ne. Von der – fin­gier­ten – Rede des Häupt­lings Seat­tle über die Hopi-Weis­hei­ten auf Green­peace-Pro­pa­gan­da, von den „Ein­wei­hun­gen” Casta­ne­das bis zum Bau­satz für das „Medi­zin­rad”, vom Spe­zi­al­ver­sand für alles, was mit India­nern zu tun hat­te, bis zur Soli­da­ri­tät mit Red Power gab es in den sieb­zi­ger und acht­zi­ger Jah­ren zahl­lo­se Ele­men­te, die zu die­sem Welt­bild gehör­ten, das den roten Mann als tota­len Gegen­ent­wurf des wei­ßen erschei­nen ließ.
Mül­ler hat die­ses Bemü­hen um prak­ti­sche Anwen­dung sei­ner Erkennt­nis­se mit einer gewis­sen Skep­sis beob­ach­tet. Im west­li­chen Kul­tur­kreis sah er über­haupt nur noch ein „archai­sches Volk” von Bedeu­tung: das jüdi­sche. Ent­ge­gen einer weit­ver­brei­te­ten Annah­me glaub­te Mül­ler an die Unver­fälscht­heit der alt­tes­ta­ment­li­chen und nach­bi­bli­schen Tra­di­ti­on und dar­an, daß Isra­els Erwählt­heits­an­spruch nicht als radi­ka­ler Par­ti­ku­la­ris­mus zu wer­ten sei, son­dern als „Über­nah­me einer uni­ver­sa­len Ver­ant­wor­tung”. Daß man ihm dafür kei­nen Dank gewußt habe, erschien Mül­ler als deut­li­che Par­al­le­le zum Schick­sal der india­ni­schen Völ­ker, deren Kul­tur und Reli­gi­on von den wei­ßen Erobe­rern so voll­stän­dig aus­ge­löscht wur­de, daß kein noch so wohl­wol­len­der Ver­such sie wie­der­zu­be­le­ben vermochte.

In dem Text India­ni­sche Welt­erfah­rung erwähnt Mül­ler auch Ernst Jün­ger, der auf ande­re Wei­se ver­such­te, den Anfang der Spra­che zurück­zu­ge­win­nen, und mit dem er die Hoch­schät­zung der Visi­on teil­te, ver­stan­den als Mög­lich­keit, in die „Hin­ter­welt” vor­zu­drin­gen. Ähn­lich, aber doch mit einem ande­ren Akzent, erklärt sich auch Mül­lers Sym­pa­thie für Elia­de. In einer Gegen­ga­be zu dem ein­gangs zitier­ten Auf­satz von Elia­de über Mül­ler hat der letzt­ge­nann­te über den erst­ge­nann­ten zu des­sen 75. Geburts­tag geschrie­ben: „Elia­de ver­kör­pert inmit­ten der Ver­duns­tung der kon­kre­ten Erschei­nun­gen eine Umkehr, einen Wan­del, einen Auf­hal­ter. Er weiß um die Kluft zwi­schen Urphä­no­me­nen und Ursa­chen. Bil­der sind es, die er in jeder Arbeit auf­leuch­ten läßt, Epi­pha­ni­en, Wirk­lich­kei­ten, sinn­li­che Tat­sa­chen. Die­se Ten­denz ver­bin­det ihn aufs engs­te mit der archai­schen Mensch­heit, hier hat er gelernt.”
Das Ver­hält­nis Mül­lers zu Jün­ger wie zu Elia­de war vor allem durch sei­ne Bei­trä­ge für die von bei­den her­aus­ge­ge­be­ne Zeit­schrift Antai­os inten­si­viert wor­den. Die Auf­sät­ze, die Mül­ler hier ver­öf­fent­lich­te, befaß­ten sich aller­dings nicht nur mit The­men, die man der „Ame­ri­ka­nis­tik” zuord­nen müß­te, son­dern auch mit zwei ande­ren Aspek­ten, die für sei­ne Arbeit immer eine wich­ti­ge Rol­le spiel­ten: Sym­bo­lik und Hei­lig­keit des Rau­mes. Wie Elia­de führ­te er das Sym­bol auf sei­ne ursprüng­li­che Bedeu­tung zurück, als ein Etwas, das von dem, was es ver­trat, nicht voll­stän­dig ver­schie­den war, son­dern das Anteil an ihm hat­te. Die wech­sel­sei­ti­ge Durch­drin­gung von Sym­bol und Sym­bo­li­sier­tem hat­te ihn immer beson­ders fas­zi­niert, und die­se Sicht­wei­se bestimm­te auch sei­ne Auf­fas­sung des hei­li­gen Rau­mes – im Haus, dem hei­li­gen Ort, dem Tem­pel -, des­sen Fest­le­gung der Mensch ursprüng­lich sym­bo­lisch ver­stand, so daß die Bezie­hun­gen zwi­schen Makro­kos­mos und Mikro­kos­mos sinn­bild­lich wur­den und die mythi­sche Welt­auf­fas­sung es erlaub­te, nicht nur eine unend­li­che Men­ge von Bezie­hun­gen zwi­schen dem Gro­ßen und dem Klei­nen zu erfas­sen, son­dern auch durch Zugriff auf das Klei­ne das Gro­ße zu beeinflussen.
In der 1961 ver­öf­fent­lich­ten Mono­gra­phie Die hei­li­ge Stadt hat Mül­ler die­se Vor­stel­lung sys­te­ma­tisch ent­fal­tet. Dabei wies er auf alte Über­lie­fe­run­gen hin, in denen die Abgren­zung von Sakra­lem und Pro­fa­nem einem gött­li­chen Schöp­fungs­akt ent­sprach – etwa bei der Fur­che, die Romu­lus mit dem Pflug zog, die Remus nicht ernst nahm, wor­auf­hin er für sei­nen Fre­vel getö­tet wur­de -, behan­del­te die Bau­wei­se von Hüt­ten oder Sied­lun­gen india­ni­scher oder afri­ka­ni­scher Völ­ker, in deren Anla­ge sich das Gan­ze der gött­li­chen Ord­nung spie­gel­te oder die Grund­ris­se indi­scher bezie­hungs­wei­se chi­ne­si­scher Städ­te, die der „Qua­dra­tur” der Welt-Vier­tel ent­spra­chen. Die hei­li­ge Stadt ist auch die ein­zi­ge Arbeit Mül­lers mit einer umfas­sen­de­ren theo­re­ti­schen Begrün­dung. Ansons­ten feh­len sol­che Erwä­gun­gen weit­ge­hend. Ein Grund dafür war Mül­lers Aver­si­on gegen jede abge­zo­ge­ne Begriff­lich­keit, oder das, was sei­ne Geg­ner als „Irra­tio­na­lis­mus” bezeichneten.

Mül­ler hat die­sen Vor­wurf immer mit Genug­tu­ung auf­ge­nom­men. Der zitier­te Auf­satz für Elia­de trug den bezeich­nen­den Titel „Die Wahr­heit der fünf Sin­ne oder Wes­halb wir Kants Grab ent­beh­ren kön­nen”. Hier, wie auch sonst kri­ti­sier­te er, daß der abend­län­di­sche Ratio­na­lis­mus zwar die Welt­be­mäch­ti­gung in einer Wei­se geför­dert habe, die lan­ge unvor­stell­bar war, aber gleich­zei­tig zu einer „gedank­li­chen Ver­damp­fung führ­te”: „die lau­te, bun­te, war­me Welt zer­fließt ins Nichts”. Mül­ler war ein beken­nen­der Gegen-Auf­klä­rer, ein Roman­ti­ker, der die Wahr­heit des Gefühls ver­tei­dig­te, der davon aus­ging, daß kein „Fort­schritt” von der archai­schen zur moder­nen Geis­tig­keit füh­re und daß der Mythos wah­rer sei als das, was die Aus­wer­tung von Quel­len und Über­res­ten erge­be. Sein Pes­si­mis­mus war radi­ka­ler als der Elia­des, und vie­les in sei­ner Argu­men­ta­ti­on erin­nert an die Klas­si­ker die­ser Denk­tra­di­ti­on in Deutsch­land – von Hamann über Bacho­fen bis zu Kla­ges – aber die Men­ge der Ver­wei­se blieb doch gering.
Das hängt auch damit zusam­men, daß Mül­ler wie Elia­de einen Teil sei­ner Bio­gra­phie ver­schlei­ert hat. Er ver­wies zwar auf die Her­kunft aus einem Pfarr­haus in der rhei­ni­schen Dia­spo­ra, auf das Stu­di­um der Evan­ge­li­schen Reli­gi­ons­leh­re, Geschich­te, Geo­gra­phie und Reli­gi­ons­wis­sen­schaft, auch auf die wach­sen­de Aver­si­on gegen „pro­tes­tan­ti­sche Geis­tes­kahl­heit”, die Staats­examen und Über­tritt in den Biblio­theks­dienst als „unbe­ach­te­te Ecke”, aber dann fehl­te jedes Stich­wort zu sei­nem Lebens­weg zwi­schen 1933 und 1954. Das Haupt­mo­tiv dafür war, daß Mül­ler durch sei­ne Mit­glied­schaft in der SS und deren Wis­sen­schafts­or­ga­ni­sa­ti­on „Ahnen­er­be” nach dem Ende des Krie­ges dar­an gehin­dert wur­de, eine aka­de­mi­sche Lauf­bahn fort­zu­set­zen, und spä­ter ver­such­te, die­sen Teil sei­nes Lebens­laufs zu ver­schwei­gen oder ganz in den Hin­ter­grund tre­ten zu las­sen. Ver­ständ­lich erscheint das inso­fern, als er kaum Aus­sicht dar­auf gehabt hät­te, Gehör für sei­ne Moti­ve zu finden.
Mül­ler war wie vie­le ande­re und eher aus Oppor­tu­ni­täts­er­wä­gun­gen im Früh­jahr 1933 in die NSDAP ein­ge­tre­ten und hat­te bald dar­auf begon­nen, für das „Ahnen­er­be” Gele­gen­heits­ar­bei­ten anzu­fer­ti­gen, die sich mit bestimm­ten Aspek­ten der ger­ma­ni­schen Reli­gi­ons­ge­schich­te beschäf­tig­ten. 1938 erschien in des­sen Schrif­ten­rei­he die Mono­gra­phie Kreis und Kreuz. Unter­su­chun­gen zur sakra­len Sied­lung bei Ita­li­kern und Ger­ma­nen, in der schon eini­ges von dem vor­weg­ge­nom­men war, was spä­ter in Die hei­li­ge Stadt wei­ter aus­ge­führt wer­den soll­te. Die von ihm ange­streb­te Fest­an­stel­lung erhielt Mül­ler aber nicht, nur pro for­ma über­gab man ihm die Lei­tung der „Lehr- und For­schungs­stät­te für Ortung und Land­schafts­sinn­bil­der”. Immer­hin durf­te er auf die Unter­stüt­zung des Ahnen­er­bes rech­nen, als es ihm gelang, 1942 an der Uni­ver­si­tät Straß­burg sei­ne Habi­li­ta­ti­on – wie­der zur india­ni­schen Reli­gi­ons­ge­schich­te – abzu­schlie­ßen und 1944 die Ernen­nung zum Dozen­ten zu errei­chen. Prak­ti­sche Fol­gen hat­te das aber nicht mehr, da die Hoch­schu­le wegen der anrü­cken­den alli­ier­ten Trup­pen den Lehr­be­trieb ein­stel­len mußte.

Nach kur­zem Mili­tär­dienst und ame­ri­ka­ni­scher Kriegs­ge­fan­gen­schaft ließ sich Mül­ler in Tübin­gen nie­der und trat dort spä­ter wie­der in den Biblio­theks­dienst ein. Sein Schick­sal glich in vie­lem dem ande­rer jun­ger Dozen­ten der „Reichs­uni­ver­si­tät” Straß­burg, die ihre Kar­rie­re in der Kriegs­zeit der Annah­me beson­de­rer ideo­lo­gi­scher Zuver­läs­sig­keit ver­dank­ten und die dafür nach 1945 mit dem Aus­schluß von jeder aka­de­mi­schen Lauf­bahn bezahl­ten. Zu die­ser Grup­pe darf man neben dem His­to­ri­ker Ernst Anrich auch den Reli­gi­ons­wis­sen­schaft­ler Otto Huth rech­nen, einen engen Freund Mül­lers. Bei­de waren in ihrer Vor­stel­lungs­wei­se von Lud­wig Kla­ges beein­flußt, auch wenn es unter dem NS-Regime nicht gera­ten schien, das her­vor­zu­he­ben, und folg­ten ähn­li­chen geis­ti­gen Inter­es­sen. Huth hat­te sich dem Ahnen­er­be noch stär­ker ver­bun­den, hat­te sich poli­tisch ein­deu­ti­ger fest­ge­legt und war Mül­ler in bezug auf die Kar­rie­re deut­lich vor­aus. Das alles ist für unse­ren Zusam­men­hang nicht so wich­tig wie die gemein­sa­me Welt­an­schau­ung, eine Archai­o­phi­lie, für die sie im Ahnen­er­be Unter­stüt­zung erhoff­ten, obwohl sie im Kern unpo­li­tisch war.
Man könn­te mit Elia­de von „Sehn­sucht nach dem Ursprung” spre­chen, und Mül­ler hat sei­ner­seits immer die Über­ein­stim­mung mit Elia­des anti­his­to­ri­scher, zykli­scher Auf­fas­sung aus einer gemein­sa­men geis­ti­gen Ori­en­tie­rung betont. Man kann aber noch einen Schritt wei­ter gehen und auf die intel­lek­tu­el­le Kon­stel­la­ti­on hin­wei­sen, in der sich Elia­de und Mül­ler als Män­ner des glei­chen Geburts­jahr­gangs befan­den, trotz der Ver­schie­den­heit des natio­na­len und kul­tu­rel­len Hin­ter­grunds, der Bio­gra­phie im enge­ren Sinn und der geis­ti­gen Ent­wick­lung, der sie folg­ten. Die­se intel­lek­tu­el­le Kon­stel­la­ti­on war bestimmt von den gro­ßen Erschüt­te­run­gen eines Welt­bil­des, das von der Auf­klä­rung bis zum Ende des 19. Jahr­hun­derts fast unbe­strit­ten gegol­ten hat­te: euro­zen­trisch, posi­ti­vis­tisch, opti­mis­tisch. Des­sen Infra­ge­stel­lung durch die Ent­de­ckung der außer­eu­ro­päi­schen Welt, die Phi­lo­so­phie Nietz­sches und die Wir­kun­gen des Ers­ten Welt­kriegs führ­te bei den meis­ten ihrer Zeit­ge­nos­sen zur Flucht in poli­ti­sche Ideo­lo­gien, die den Aus­weg nach vorn such­ten, wäh­rend Elia­de und Mül­ler den Aus­weg zurück such­ten. Ein­drucks­voll hat Mül­ler beschrie­ben, wie wäh­rend sei­ner Stu­di­en­jah­re all­mäh­lich das Bewußt­sein wuchs, daß es nicht nur jen­seits des Abend­lands Kul­tur und Reli­gi­on gege­ben habe, son­dern auch, daß – gegen allen Ent­wick­lungs­glau­ben – an den Anfän­gen, im „Pri­mi­ti­ven”, eine Spi­ri­tua­li­tät auf­ge­wie­sen wer­den konn­te, die man dort nie­mals ver­mu­tet hatte.

Die Fas­zi­na­ti­on durch die – wirk­li­che oder ver­meint­li­che – Rein­heit des Anfangs führ­te dazu, daß die­se Män­ner es viel erns­ter mein­ten, als alle Erfin­der und Nut­zer von Abstam­mungs­my­then. Das min­der­te ihre Brauch­bar­keit für den Welt­bür­ger­krieg ent­schei­dend, wenn­gleich sie zeit­wei­se glau­ben konn­ten, daß sie ihre Vor­stel­lun­gen mit poli­ti­scher Hil­fe der Ver­wirk­li­chung näher brin­gen wür­den. Die­se beson­de­re Art des Irr­tums war ver­brei­te­ter, als man anneh­men möch­te. Neben Mül­ler, Huth und Elia­de könn­te man in der Reli­gi­ons­wis­sen­schaft und den benach­bar­ten Dis­zi­pli­nen noch ande­re Bei­spie­le nen­nen, die Deut­schen Franz Alt­heim und Otto Höf­ler eben­so wie den Fran­zo­sen Geor­ges Dumé­zil oder den Ame­ri­ka­ner Joseph Camp­bell; C. G. Jung ist der Ver­su­chung viel­leicht nur wegen sei­ner schwei­ze­ri­schen Her­kunft leich­ter ent­gan­gen, Jakob Wil­helm Hau­er ihr wegen der deut­schen voll­stän­di­ger erlegen.
Wenn es mög­lich wäre, die Bio­gra­phien der genann­ten ver­glei­chend zu unter­su­chen, ohne sie zu skan­da­li­sie­ren, käme man wahr­schein­lich zu dem Ergeb­nis, daß sie alle in einer gewis­sen – ihnen beson­ders nahe­lie­gen­den – Nai­vi­tät glaub­ten, die reak­tio­nä­ren, faschis­ti­schen, natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Bewe­gun­gen umlei­ten zu kön­nen, sie Kraft ihrer Kennt­nis von der Macht des Ursprungs dazu zu zwin­gen, mythi­sche Bil­der nicht unter dem Aspekt der Mobi­li­sie­rungs­kraft zu betrach­ten, son­dern als abso­lu­te Bezugs­punk­te. Ihren Irr­tum haben sie alle ein­ge­se­hen, wenn auch auf ver­schie­de­ne Wei­sen ver­ar­bei­tet. Die Grund­über­zeu­gung ist dabei nicht ver­lo­ren­ge­gan­gen. Die Sym­pa­thie, die Mül­ler eben­so wie Elia­de in ihren spä­te­ren Lebens­pha­sen für poli­tisch ganz anders ori­en­tier­te Strö­mun­gen ent­deck­ten, war auch kei­ne Anbie­de­rung – Elia­de ver­blieb unter den Schirm­herrn der „neu­rech­ten” Nou­vel­le Eco­le, Mül­ler ver­öf­fent­lich­te wei­ter in kon­ser­va­ti­ven Zeit­schrif­ten wie Schei­de­we­ge oder der Her­der­bü­che­rei Initia­ti­ve -, eher Hoff­nung wider alle Hoff­nung, daß es mög­lich sei, doch eine Grund­la­ge für das zu schaf­fen, was Elia­de den „neu­en Huma­nis­mus” genannt hat.

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