eines wirklich guten Buches führt zumeist an einen Punkt, der das noch intensivere Einsteigen, das geradezu manische Vertiefen in Thema und Umgebung der Lektüre unweigerlich nach sich zieht. Literaturempfehlungen werden angeschafft, einführende Aufsätze gelesen und schlußendlich beschäftigt man sich über Monate, vielleicht Jahre mit den bleibenden Einflüssen und Nachwehen jener einstigen Lektüre.
Viele Themen, die so leidenschaftlich beackert wurden, kehren nach einer Zeit der Vergessenheit wieder in das eigene Bewußtsein und Leben zurück, tauchen wie ein altbekannter musikalischer Ohrwurm wieder auf und sind plötzlich allgegenwärtig. Es ist ein thematisch-literarisches Déjà-vu, das sich auf diese Weise ereignet. Bei mir ereignet sich derzeit ein solches, ein europäisches Déjà-vu – angestoßen durch die dringende Notwendigkeit und den Wahnsinn dieser Tage.
Im Sommer 2013 veröffentlichte ich zusammen mit Felix Menzel die kurze, 100seitige Schrift Junges Europa. Szenarien des Umbruchs, die in Deutschland sowohl rechts als auch links für Unbehagen sorgte. Die andere Feldpostnummer witterte „faschistische“ und „völkische“ Europakonzeptionen, das eigene Milieu hält den von uns kritisierten Nationalstaat weiterhin für die einzig denkbare Heimat und wehrhafte Bastion eines Volkes. Angesichts der nahezu endlos erscheinenden Ameisenstraße, die tagtäglich junge Afrikaner an unsere Grenzen befördert, klammert sich die deutsche Rechte mit aller geistigen Vehemenz und Überzeugung an den Traum eines souveränen und wehrhaften Nationalstaates.
Vom „Europa der Vaterländer“ ist dann oft die Rede, von notwendigen Volksabstimmungen im Rahmen der demokratischen Selbstbestimmung. Nach zwei Jahren, in denen mich unser „Junges Europa“ durch verschiedene Staaten hat reisen lassen, kann ich felsenfest konstatieren: Die europäische Rechte ist uns – mindestens – einen Schritt voraus. Denn in ihrem Denken ist bei der französischen, spanischen und italienischen Rechten bereits seit Jahren ein Licht aufgegangen, das in vielen Deutschen – wenn überhaupt – nur als kleine Flamme lodert.
Allenfalls die Identitäre Bewegung (IB) hat diesen Gedanken verinnerlicht („Europa – Jugend – Reconquista“). Gemeint ist hier insbesondere die selbstbewußte und vor allem selbstverständliche kulturelle Bewahrung und wehrhafte Verteidigung eines gemeinsamen europäischen Erbes, das von der griechischen Antike über Karl den Großen, Rembrandt, Goethe, Hölderlin, Heidegger bis in unsere heutige Postmoderne ausstrahlt. Ganz klar ist: Die übrigen Splitter unserer europäischen Vergangenheit verschwinden mit jeder verstreichenden Stunde mehr und mehr im Orbit des großen westlichen Konsum- und Gleichheitsstrudels.
Der Unterschied zwischen uns und denen, also der erwähnten europäischen Rechten, wird dann deutlich, wenn es um die Konsequenzen geht. Während wir Deutschen das Wort „Europa“ lediglich im Mund führen, wenn es um die Europäische Union geht, nicht selten mit einem unterschwelligen Ekel und einer Verachtung von der europäischen Idee als solcher sprechen, gibt es in der europäischen Rechten tatsächlich gewichtige und erfolgreiche Kräfte, die fest und vor allem ehrlich an ein gemeinsames Europa glauben. Das ist hierbei der zentrale Punkt: Die europäische Krise wirkt zwar als mobilisierende Klammer für eine ernstliche Zusammenarbeit, doch im Kern geht es um die ehrliche, dahinterstehende Überzeugung, daß Europa als Raum gemeinsamer kultureller und intellektueller Bezugnahmen zwingend zusammengehört. Und somit auch gemeinsam verteidigt werden muß.
Europa existierte historisch nie als einheitliche Wirtschaftsgemeinschaft oder ganzheitlicher Staatenverbund. Auch obliegt es der Wahl der Definition, wie Europa geographisch überhaupt zu fassen ist. Doch Europa existierte zweifellos stets als Entwicklungs- und Konservierungsraum gemeinsamer Werte und Normen, prägender Ideen, Gedankenströmungen und Philosophien. Ein Netz von gegenseitigen intellektuellen und kulturellen Bezugnahmen war es, das Europa einst ausmachte. Der französische Publizist Victor Hugo formulierte bereits 1849 in seiner Eröffnungsrede zum Pariser Friedenskongreß eine klare Vision:
Ein Tag wird kommen, wo Ihr, Frankreich, Rußland, Italien, England, Deutschland, all ihr Nationen des Kontinents ohne die besonderen Eigenheiten Eurer ruhmreichen Individualität einzubüssen, Euch eng zu einer höheren Gemeinschaft zusammenschließen und die große europäische Bruderschaft begründen werdet.
Pierre Drieu la Rochelle, einer der bekanntesten Vertreter des gesamteuropäischen Gedankens im „Zeitalter der Extreme“ (Eric Hobsbawm), vereinte als radikaler Befürworter des europäischen Bundesstaates seiner Zeit viele kritische Stimmen auf sich. Er formulierte folgende Zeilen in seinem Werk Die Unzulänglichen:
Was war Europa, wie sollte es werden? Verschiedene Mächte müssen miteinander verbunden werden, ohne dabei eine zu verletzen, jede muß respektiert und ihr Eigenleben muß erhalten bleiben. […] Die Nationen müssen sich zusammentun unter einem umfassenden Begriff, einem Zeichen, das die Autonomie aller Quellen – der jeweils besonderen und universellen – garantiert.
Für Drieu war als „Eurofaschist“ die „Sehnsucht nach einem Europa, das die einzelnen unfruchtbaren Nationalismen überstieg“ einer der zentralen Punkte, um Europa zukünftig vor den Gefahren von außen und innen zu schützen.
Diese Überzeugung hat überlebt und manifestiert sich heute etwa in einem europäisch ausgerichteten Institut aus Paris – dem „Institut Iliade“. Zuletzt haben dort Vertreter aus verschiedenen europäischen Nationen vor einem beeindruckenden Publikum von rund 900 Personen über die gemeinsame europäische Tradition und Geistesgeschichte diskutiert. Mit dem Titel „Das ästhetische Universum der Europäer“ hatten die Veranstalter den Rahmen bewußt kulturell angelegt.
Doch das Signal der Veranstaltung war fernab der kulturellen Prägung ganz deutlich: unkontrollierte Masseneinwanderung, der daraus resultierende „Große Austausch“, der Verfall jedweder natürlicher Sitten und Normen, ja schlußendlich die unumkehrbare kulturelle und ethnische Vernichtung der Völker betreffen alle Europäer gleichermaßen. Denn wer eine gemeinsame Kultur erhalten und schützen will, muß sich wehrhaft gegen jene wenden, die sie zu zerstören ersuchen.
Dominique Venner, zu dessen Andenken das „Institut Iliade“ gegründet wurde, hat diese Zusammengehörigkeit einst so formuliert:
Europa ist nicht das Produkt der Verträge des späten zwanzigsten Jahrhunderts. Es stammt vielmehr von jenen Brüdervölkern her, welche zwischen der Ostsee und der Ägäis im Verlauf von mehreren tausend Jahren eine einzigartige gemeinsame Kultur hervorgebracht haben. Europa kann daher als eine sehr alte Kulturtradition definiert werden, welche ihren Reichtum und ihre Einzigartigkeit den hier lebenden Völkern und deren geistigem Erbe verdankt.
Frankreich ist hierbei das geistige und immer mehr auch organisatorische Zentrum der europäischen Bewegung. Bereits im November steht mit dem eher nationalrevolutionär ausgerichteten „Congrès Européen“ (Titel: „Europe. La Cause des peuples“) eine weitere, explizit europäisch ausgerichtete Veranstaltung auf dem Programm. Veranstalter ist der aktivistische Bund Groupe Union Défense (GUD) um Logan Djian. Zusammen mit Arnaud de Robert vom französischen Mouvement d’Action Sociale (MAS) und der CasaPound Italia (CPI) organisieren verschiedene rechte europäische Gruppen und Institute regelmäßig hervorragend besuchte und weltweit vernetzte Veranstaltungen. Eine Trennung zwischen „Konservativen“, „Rechten“ und vermeintlich „Extremen“ gibt es hier nicht. Die aus Deutschland bekannten Distanzierungen spielen keine Rolle. Das Ziel ist Europa. Wer mitreden kann jenseits von Nostalgie und ideologischem Wahn, der ist willkommen.
Über den letztgenannten Akteur, CasaPound Italia, wurde im Umfeld der Sezession bereits vielfach berichtet. Das größte Verdienst dieser nonkonformen Organisation ist vermutlich ihre Wirkungs- und Strahlkraft, also die motivierende Vorbildfunktion, die seit Jahren spürbar von ihr in ganz Europa ausgeht. Nachdem in Rom durch CPI eine eigenständige und jugendliche Kontrakultur geschaffen werden konnte, sind mittlerweile auch in Paris, Madrid und vielen anderen europäischen Städten eigene Subkulturen entstanden, die sowohl rechte Kunst, Musik, Literatur, Magazine, Fernseh- und Radiosender, Kneipen, Cafés, besetzte Häuser als auch politische Aktionen und Demonstrationen umfassen. Eine Realisierung und Etablierung dieser erfolgreichen Kontrakulturen ist nur vor dem gemeinsamen europäischen Hintergrund denkbar.
Das bedeutet in aller Deutlichkeit: Eine europäische Zusammenarbeit kann fruchtbar wirken. Viele rechte europäische Organisationen und Gruppen arbeiten bereits zusammen. Den Traum von einem starken Nationalstaat als Bollwerk gegen den westlichen Liberalismus und seine überall spürbaren Auswirkungen haben sie längst ad acta gelegt. Denn auf demokratische Gesellschaften ist kein Verlaß mehr.
Ich, für meinen Teil, glaube an die Möglichkeit eines Bundes der nationalen Völker Europas auf republikanischen Grundlagen – ergo an einen europäischen Bundesstaat, sofern er denn lediglich dafür Sorge trüge, daß wir Europäer als kulturelle Einheit überleben und darüber hinaus als eigenständige Völker eine Zukunft haben. Die Zeit der Nationalstaaten mag wiederkehren, doch die aktuellen, einzigartigen und stürmischen Zeiten verlangen nach einer neuen, einer anderen Lösung. Abertausende aus Afrika klopfen jeden Tag an unsere Tore. Wo können sie abgewehrt werden, wenn nicht an den Grenzen einer gesamteuropäischen Festung?
Ein gemeinsames Europa, ein wahrhaftiger europäischer Bundesstaat, steht dabei keinesfalls synonym für eine Aufweichung der ethnischen Homogenität oder den Verlust der nationalen Traditionen und Werte. Er bildet lediglich den nötigen staatlichen Rahmen, um den Verfall Europas zu stoppen und die inhärenten Völker zu schützen. Über eine Ausgestaltung dieser europäischen Idee – etwa demokratisch oder autoritär – muß an dieser Stelle aus Platzgründen geschwiegen werden.
Oswald Mosley hat unter anderem in seinen Werken Ich glaube an Europa und Die Alternative bereits interessante – aufgrund der damals herrschenden, zeitspezifischen Verhältnisse: autoritäre – Denkanstöße geliefert. In der bereits erwähnten Schrift Junges Europa finden sich überdies demokratische Varianten. Erscheint eine Synthese denkbar?
Der Berliner Professor Norbert Bolz bemüht jedenfalls Carl Schmitt und einen an ihn angelehnten „Katechon Europa“, um diese europäische Hoffnung zu formulieren:
Für Schmitt war klar, daß nur noch ein Katechon Europa retten kann. Ein verzweifelter Gedanke, den man aber durch eine kleine Wendung sehr fruchtbar machen kann – indem man nämlich Europa als katechontischen Begriff faßt. Die wahren Grenzen Europas, heißt das, werden gegen die Evolution der Weltgesellschaft erfragt.
Wer diese europäische Vision von Herzen ablehnt, der soll dieser Tage weiterhin auf den Alleingang des Nationalen hoffen. Doch die Zeit für Kaiser-Romantik ist vorbei. Thomas Schmidt hat uns die drohende Alternative aufgezeigt.
Und Pierre Drieu la Rochelle formulierte bereits 1922 in einem Essay:
[…] Europa wird einen Staatenverband bilden, oder es wird sich selbst verschlingen, oder es wird verschlungen werden.
Ein Fremder aus Elea
Die Form der historischen Einheit Europas heißt Christentum, vertieft Katholische Kirche.
Seit der französischen Revolution gibt es Bestrebungen diese Einheit in laizistischer Form wiederherzustellen, und in der heutigen Lage ist der Gedanke eines europäischen Bundes in einer zunehmend durch Großmächte bestimmten Welt durchaus naheliegend, indes gerade ahistorisch und akulturell, denn er negiert die koloniale Phase und die in ihr erfolgten Besiedelungen anderer Kontinente.
Warum sollte sich das Vereinigte Königreich, beispielsweise, Frankreich näher fühlen als Kanada, Australien und Neuseeland?
Warum sollten sich Spanien und Portugal von Lateinamerika lossagen?
Und Frankreich betrachtet den afrikanischen Kontinent quasi als sein Eigentum.
All das steht der Idee eines europäischen Bundes im Wege.