Darin stellt Ulrich Ladurner zwei meiner persönlichen Hausgötter gegenüber, wie sie ungleicher nicht sein könnten: Jean Raspail und Pier Paolo Pasolini (wahrscheinlich bin ich der einzige Mensch auf der Welt, der beider Werk gleichermaßen gut kennt).
Unter dem Titel “Unser Blick übers Meer” fragt Ladurner:
Wenn wir dieser Tage über Migration reden, suchen wir mit dem inneren Auge unwillkürlich die Horizontlinie des Mittelmeeres ab. Welche Vorstellung machen wir uns von denen, die kommen? Welchen Blick werfen wir auf sie? Wie wird dieser Blick geformt?
Als Schaustück Nr. 1 zitiert Ladurner drei Stellen aus “Heerlager der Heiligen”, natürlich noch aus der alten Ausgabe aus dem Hohenrain-Verlag; besonders scheint ihn jene Stelle zu empören, die in der Neuübersetzung so lautet:
All die erstickenden Häfen der Dritten Welt, von Manila über Jakarta und Karatschi bis Conakry und erneut Kalkutta, machten sich Luft, indem sie weitere Armaden nach Australien, Neuseeland und Europa entließen. Die große Völkerwanderung entrollte ihren Teppich. Nicht gerade zum ersten Mal, wie uns die Vergangenheit der Menschheit zeigt. Andere, penibel erforschte Kulturen, deren Überreste man in unseren Museen studieren kann, haben das gleiche Schicksal erlitten. Aber der Mensch hört nur selten auf die Lehren der Geschichte …
Ladurners Kommentar:
Raspails Buch ist ein übles Machwerk. Es bedient sich der Ängste der Europäer auf grobschlächtige Weise, um eine brachiale Untergangsvision zu rechtfertigen. (…) Die Helden in Raspails Buch sind diejenigen, die sich mit aller Gewalt gegen den Untergang stemmen und versuchen, die “Menschenflut” zurückzudrängen, um das vermeintlich bedrohte Abendland zu retten.
Ladurner kontrastiert die Zitate aus dem “Heerlager der Heiligen” mit einem späten Gedicht von Pasolini aus ungefähr derselben Zeit (1975), das einige motivische Parallelen aufweist, die Invasion aus dem Morgenland allerdings gänzlich anders zeichnet:
Alì mit den blauen Augen,
einer der vielen Söhne der Söhne,
wird von Algier kommen, auf Schiffen
mit Segeln und mit Rudern. Es werden
mit ihm tausende Männer sein
mit den schmächtigen Körpern und den Augen
der armen Hunde der Väter.
Auf den Booten, die in den Reichen des Hungers vom Stapel gingen,
werden sie Kinder mit sich bringen, und das Brot und den Käse,
in den gelben Papieren des Ostermontags.
Sie werden die Frauen und die Esel bringen, auf den Schiffen, die sie in den Kolonialhäfen gestohlen haben.
Sie werden in Crotone an Land gehen und in Palmi,
zu Millionen, in asiatischen Lumpen gekleidet, und in amerikanischen Hemden.
Die tausenden Männer in Lumpen, die Schiffe, “die sie in den Kolonialhäfen gestohlen haben”, die Landung an der Mittelmeerküste (in diesem Fall Italien), die “Reiche des Hungers”… das alles hat verblüffende Anklänge an Raspail. Der Clou ist natürlich, daß die Einwanderer bei Pasolini kommen, um den verkommenen Westlern “die Freude am Leben zu lehren (…), um zu lehren, wie man frei ist”, und sich dabei prompt mit dem armen Volk von Kalabrien verbrüdern:
Sofort werden die Kalabresen sagen,
wie die Straßenräuber zu den Straßenräubern:
‘Hier sind die alten Brüder,
mit den Kindern und dem Brot und dem Käse!’
Ich verehre Pasolini über alles, aber dieses Gedicht ist natürlich grausiger Kitsch, der auf fatale Weise an das unsterbliche Diktum von Maria Böhmer erinnert:
Diese Menschen mit ihrer vielfältigen Kultur, ihrer Herzlichkeit und ihrer Lebensfreude sind eine Bereicherung für uns alle.
Man muß dieses Gedicht freilich im Kontext von Pasolinis Werk lesen. Auf der Suche nach Gegenwelten zur “völkermordenden”, nihilistischen Plastikkonsumzivilisation der Moderne suchte er immer wieder neue noch umkorrumpierte Milieus, Reservate und Lebensformen, die der allumfassenden “anthropologischen Mutation” Widerstand leisten könnten. Vor nunmehr zehn Jahren schrieb ich darüber in der Jungen Freiheit:
Wie sein frühes Idol Rimbaud war er stets auf der Jagd nach dem “wahren Leben”, als dessen Paradigma ihm die archaische, geschichtslose, “sakrale” Welt des Bauerntums erschien, wie er es in seiner Kindheit in Friaul kennengelernt hatte. Er glaubte später, diese Essenz in der Volkskultur Neapels, im Subproletariat der römischen Vorstadt, zuletzt in der “Dritten Welt” wiederzufinden, und sah sie stets bedroht von der Überschwemmung durch den westlichen Konsumismus.
Das ist die eigentliche Pointe seines Gedichtes über “Ali”, der seltsamerweise “blaue” Augen hat, und zwischen den Zeilen gelesen wohl auch eine homoerotische Projektionsfigur ist: die Söhne aus Algier kommen nicht wie bei Raspail, um am Konsumparadies der Ersten Welt teilzuhaben, sondern um ihr ein vormodernes, aber wahres Leben zu bringen, das sie schon lange vergessen hat, wobei sie sich mit den armen Bauern und dem Lumpenproletariat Süditaliens verbünden.
Ladurner hat common sense genug, um den Unfug dieser Vorstellung zu erkennen, verwirft sie aber vor allem als romantisches Komplementärstück zu dem apokalyptischen Raspail. Er erklärt beide Autoren zu Phantasten:
Das war freilich eine Projektion, die der Sehnsucht Pasolinis nach Befreiung entsprang, so wie Jean Raspails Untergangsvision ihren Ursprung nicht in der Realität, sondern in den tief sitzenden Ängsten Raspails hat.
Das ist natürlich ziemlich gewaltsam hingebogen; angesichts der laufenden Entwicklungen zu behaupten, Raspails Vision habe keinen Ursprung in der Realität und sei mehr oder weniger ein Problem seiner privaten Ängste, ist schon ein sehr gewagtes Unterfangen. Nahezu sämtliche Kommentatoren des Artikels geben indes Raspail recht:
Raspail beschreibt offensichtlich Menschen wie Ladurner. einen Vertreter des Europas, das sich wie z.B. Australien wehren könnte, das aber in Personen wie Ladurner, seinen Selbstbehauptungswillen zerstört in der kindlichen Erwartung das es wie bei Pasolini / Momo enden wird.
Jean Raspail kann seine Fiktion als bestätigt sehen.
Und wie kann es sein, dass Sie, Autor Ladurner, allem Anschein nach dieses Rückabwickeln von (mindestes) ein paar Jahrhunderten europäischer Geschichte allem Anschein nach sogar herbeisehnen, so wie Sie es (zu Unrecht) Pasolini unterstellen?
Das Ziel kann und darf nicht sein, durch naive Empathie ohne Blick auf die Zusammenhänge die europäischen Slums zu vervielfachen. Nach der Implosion unserer Sozialsysteme gäbe es dann den Krieg jeder gegen jeden in unseren Städten.
Man möge mir nicht versuchen weiszumachen, dass dieser Prozess letztlich ohne Gewalt abgeht, im schlimmsten Fall bis hin zum Bürgerkrieg. Selbst wenn die frei Einreisenden die friedlichsten und freundlichsten Menschen sind, die man sich vorstellen kann, und die Gewalt „nur“ von den Einheimischen ausgeht, deren Lebensperspektive hingegeben wurde.
Ein Kritiker eines kritischen Kommentators formuliert eine Frage, die ein zentrales Motiv des Buches ist:
Sagen Sie doch im Klartext was Ihr Lösungsvorschlag ist. Da warten Millionen und die sind wild entschlossen zu kommen. Wollen Sie die einfach abknallen auf See ?
Nicht nur diese Frage wird bei Raspail gestellt, er karikiert auch genau jenen Typus von xenophilem Einwanderungsenthusiast, der glaubt, seine Welt würde durch die willkommen geheißenen Fremden “bunter” und “lebensfroher” werden.
Pasolini hat übrigens sogar einen Gastauftritt im “Heerlager der Heiligen”. Der Kapitän eines Torpedobootes berichtet in einer Szene dem französischen Präsidenten, was er auf hoher See gesehen hat:
“Was wir gesehen haben, war schlichtweg unbeschreiblich. Sowohl im Ganzen als auch im Detail. Wo soll ich anfangen? Zuerst mit dem Zählen. Mein Erster Offizier zum Beispiel hat unaufhörlich die Köpfe gezählt. Bei jedem Tausender hat er auf einem Zettel einen Strich gemacht. Nach einer Stunde war er fast verrückt: neunhundert Striche. Dann die Details. Wie in den alten Filmen von Pasolini. Ausgezehrte Gesichter, nur noch Haut und Knochen, mit glasigen oder apathischen Blicken…”
Aber zurück zu Ladurner: auffallend ist, daß seine Grundhaltung zu sein scheint, daß es keinen Grund zur Besorgnis gäbe, daß das Abendland nur “vermeintlich” bedroht sei, usw. Wir sind hier also wieder an dem ermüdenden Punkt angelangt, in dem einer die Wahrnehmungen des anderen schlichtweg leugnet, und den ich das “Ich-seh-etwas-was-du-nicht-siehst”-Spiel nenne.
In meinem Essay-Bändchen “Die Verteidigung des Eigenen” beschrieb ich diese Disposition:
Wenn wir uns als Volk unser Eigenes als ein Schiff auf hoher See vorstellen, dann sind wir trüben und unentschlossenen Passagiere heute in eine fruchtlose Diskussion verstrickt. Die einen behaupten, daß das Wasser schon durch riesige Lecks am Eindringen sei, … andere hingegen, daß es diese Lecks gar nicht gebe, und daß es diejenigen seien, die ständig über Lecks sprechen, die das Schiff versenken wollen. Andere wiederum leugnen die Existenz des Wassers, andere gar die des Schiffes. Und wieder andere halten das Wasser für eine segensreiche Sache.
Ladurner wäre also etwa auf Stufe eins der Apperzeptionsverweigerung anzusiedeln. Dazu gehört auch die handelsübliche Neutralisierungsstrahlenkanone der Anführungsstriche, die einen Sachverhalt wundersam zum Verschwinden bringen soll. Aber wer in all den täglichen Bildern der überfüllten Boote und der aus allen Nähten platzenden Auffanglager und Unterkünfte keine “Menschenflut” zu erkennen vermag, dem ist wohl nicht zu helfen – er will einfach nicht sehen, was vor seiner Nase ist. Es liegt auf der Hand, daß ein solches Verhalten seinen Ursprung in der Realität und in den tief sitzenden Ängsten hat, die ihr Anblick auslöst.
Auch das ist ein Leitmotiv bei Raspail – wo eine gesunde und begründete Angst verdrängt und der Kopf in den Sand gesteckt wird, wo man feige ausweicht und sich stattdessen lieber ins Lala-Land schwätzt, da wird in der entscheidenden Stunde die Rechnung für das Verdrängungsverhalten präsentiert:
Auf dem Bildschirm erschien der glückliche Gewinner des Wettbewerbs, Herr Stéphane-Patrice Poupas, ein Frisör aus Saint-Tropez. Der preisgekrönte Satz lautete: »Es gibt keine Hindus mehr, es gibt keine Franzosen mehr, es gibt nur noch den Menschen, und er allein zählt!« Bravo! Genial!
Armer Depp. Am Morgen des Ostermontags werden die Hände des Herrn Stéphane-Patrice Poupas derart heftig vor Angst zittern, daß er nicht einmal imstande sein wird, den Zündschlüssel in sein Auto zu stecken. Er wird zu Fuß aus Saint-Tropez flüchten und nach zwanzig Kilometern auf der Straße nach Norden zusammenbrechen, während Tausende von Kraftwagen achtlos über seinen Körper hinwegrollen werden, gesteuert von Tausenden Franzosen in heller Panik, für die es zwei Wochen vorher nur noch »den« Menschen gab, der allein zählt … (…) Panik ist keine heilsame Form der Furcht. Panik ist destruktiv. Sie löst auf, vernichtet.
Ähnliche Abwehrmechanismen finden sich bei dieser Bloggerin, die sich “Dame.von.Welt” nennt und offenbar Besuch von einer Krypto-Sezessionistin erhalten hat:
… ich schreibe zunächst von meiner Nachbarin, einer kultivierten und klugen Psychotherapeutin, die ich ewig nicht gesehen und vor einigen Tagen zum Essen eingeladen hatte. Mache ich nicht nochmal, sie saß an meinem Küchentisch, atmete Wein und Essen ein und sabbelte ohne Pause von “Gutmenschen”, Houellebecqs trauriger Unterwerfung, von Szenarien à la “Das Heerlager der Heiligen” (neu übersetzt und frisch erschienen im rechtsextremen Verlag Antaios), von ganz Afrika, das nach Europa wolle, von Muslimen, die am Rollback gegen Frauen schuld seien, von Zäunen, die höher gezogen und militärisch verteidigt werden müssen und vor allem von sich selbst.
Das Reden “von sich selbst” ist dann auch der Punkt, an dem sie die kultivierte und kluge Nachbarin erwischen will, indem sie sie als egoistisch, wohlstandsverdorben und empathielos zeichnet:
Sie: privilegiert geboren und aufgewachsen, privilegiert wohnend, lebend und arbeitend, sie ist verheiratet, kinderlos, mit nicht unter zwei Fernreisen/Jahr, Zweitwohnsitz in einer westdeutschen Idylle und gewillt, ihre Privilegien mit Klauen und Zähnen zu verteidigen. Wogegen ja noch nicht allzuviel einzuwenden wäre, würde sie sich nicht als Opfer gerieren, eine sie unmittelbar bedrohende Gefahr heraufbeschwören, Menschen entmenschlichen und einen vorauseilenden Abgesang auf Europa anstimmen.
Dieselbe Grundannahme wie bei Ladurner: es gibt gar keine Gefahr, die uns bedroht, und wir haben doch genug Ressourcen, um all den armen Menschen zu helfen… wobei ich gespannt wäre, wieviele von ihren eigenen “Privilegien” die “Dame von Welt” der Nächstenliebe zu opfern bereit wäre.
Als ich ihr von einem der vielen unbegleiteten Flüchtlingskinder in Deutschland erzählte – einer mittlerweile 19jährigen jungen Frau aus dem Südsudan, die als kleines Mädchen die Ermordung ihrer Eltern mitansehen mußte, vielfach gefoltert und vergewaltigt wurde, mit 12 auf verschlungenen Wegen nach Deutschland kam und von Freunden als Pflegetochter angenommen und vollfinanziert wurde, die letztes Jahr einen Superschulabschluß hingelegt hat, Krankenpflegerin werden will und eben ihre Probezeit erfolgreich absolviert hat und die immer wieder zur Nigerianerin gemacht und abgeschoben werden soll – da war die Nachbarin plötzlich sehr müde und ging mitten im Satz.
Tjo, meine Sympathie und mein vollstes Verständnis für die Nachbarin. Ich wäre an dieser Stelle auch furchtbar müde geworden, und hätte eingesehen, daß keine Verständigung möglich ist. Die Nachbarin hatte ein umfassenderes Bild im Kopf als die “Dame von Welt”, die versuchte, auf ein einzelnes Rührstück abzulenken, das im größeren Rahmen betrachtet völlig irrelevant ist, das weder Houellebecq noch Raspail widerlegen kann.
Darauf könnte man nun mit Leichtigkeit mit zig negativen Gegenbeispielen antworten. Die einen füttern sich mit meist sentimentalisierten und kalkuliert ausgewählten Flüchtlingsgeschichten, die sie in der ZEIT und überall sonst lesen, die anderen fressen täglich fünf Meldungen auf pi-news über Rechtsbruch, Gewalt, Raub, Vandalismus und Vergewaltigung, von Landnahme und Überfremdung ganz zu schweigen.
Wir sind in einem Stadium der Krise angelangt, wo angesichts der schieren Masse der Einwanderer Einzelschicksale allein als Argumente nicht ausreichen. Die Fakten über den alles überwölbenden Vorgang des “großen Austausches” werden dem Massenpublikum systematisch vorenthalten (siehe die Serie von Thomas Schmidt hier, hier und hier).
Auch sonst ist die “Dame von Welt” einigen typischen Märchen aufgesessen. Sie verlinkt etwa auf eine Seite, die die “Festung Europa” anprangert, die es natürlich nicht gibt, denn sonst wäre kaum erklärlich, wieso in diesen Tagen die europäischen Länder bis in die kleinsten Käffer hinein überschwemmt sind von Einwanderern (ob man sie nun als “Flüchtlinge” oder “Asylanten” sehen will) und manche Städte wie Paris, Rotterdam, London, Birmingham oder Frankfurt bereits an der demographischen Kippe stehen.
Zitat aus einem Artikel:
A few arms and technology companies have reaped windfalls from the Europe’s immigration policy. The Migrants’ Files team ran the data, which means, in the first place, finding the data. The team analyzed 39 R&D projects financed by the EU or by ESA, the European Space Agency from 2002 to 2013 with a total funding of 225 million euro. All spent to protect Europe’s borders.
Na, wenn das der Fall ist, dann war das rausgeschmissenes Geld, denn diese Agenturen und EU-Projekte haben offensichtlich auf voller Linie versagt!
Nun gut, wie weit die Gehirnwäsche im Fall der Dame fortgeschritten ist, zeigt dieser Schnipsel, den man nicht weiter zu kommentieren braucht:
Wußten Sie, daß der 20. Juni auch der Gedenktag für die deutschen Flüchtlinge und Vertriebenen ist? Das zerstörte Nachkriegsdeutschland nahm mindestens 12 Millionen heimatlos gewordene Menschen auf, feindselig, widerwillig und unter Bereitung einer möglichst Kalten Heimat. Ist ja nicht so, daß wir nicht wüßten, was Empathie ist und wie Integration geht.^^
Das ist erschütternd naiv und historisch ahnungslos, aber inzwischen ein derart weitverbreitetes “Mem”, daß dagegen kaum ein Kraut gewachsen ist. Auch dieses verquere Denken ist eine Folge der zweiten Art von Flut, der wir ausgesetzt sind: der Dauerbeschallung der Massenmedien, die die Köpfe unablässig bearbeiten und konditionieren. Raspail schreibt:
Die große Hure der Massenmedien liefert uns die globalen Events direkt ins Haus, aber all das bunte Getöse soll lediglich über ein gähnendes Nichts hinwegtäuschen. Darauf könnten wir spucken, aber wir würden den Schleim um uns herum nur noch vermehren. Das Publikum beginnt zu sabbern wie Pawlow’sche Hunde, wenn es die Nachrichtensendungen sieht oder die Zeitungen aufschlägt, und verwechselt dabei seinen Speichelfluß mit Hirnregungen. Die öffentliche Meinung fördert gezielt die Trägheit des Denkens. Das ist ja auch ihre Aufgabe. (…)
Dreitausendzweihundertsiebenundsechzig Pfarrer kritzeln in diesem Moment fieberhaft eine Predigt für den nächsten Sonntag, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, welches Evangelium an diesem Tag vorgesehen ist. Wen interessiert das schon? Mit solchen Kleinigkeiten hält man sich doch schon lange nicht mehr auf. (…)
In der gleichen Minute entdecken zweiunddreißigtausendsiebenhundertzweiundvierzig Lehrer das Aufsatzthema für den nächsten Tag. »Beschreibt das Leben an Bord der Schiffe der unglücklichen Armada. Schreibt, was für Gefühle ihr für die Flüchtlinge hegt, wobei ihr zum Beispiel davon ausgeht, daß euch eine dieser verzweifelten Familien um Gastfreundschaft bittet.« (…)
Zur gleichen Zeit beschließen siebentausendzweihundertzwölf Oberschullehrer, den Unterricht am folgenden Tag mit einer Ansprache gegen Rassismus zu beginnen. Ob sie Englisch, Chemie, Geographie, Mathematik oder Latein unterrichten, tut nichts zur Sache. Ist es nicht unabhängig vom Fach Aufgabe eines Lehrers, kritische Gedanken anzuregen? Da man nun so einen ausgezeichneten Anlaß zur Verfügung hat, wird man also über den kathartischen Einmarsch der Flotte in den kapitalistischen Westen sprechen! Ein süffiges Thema, zu dem jeder etwas Schlaues sagen kann.
Das westliche Herz ist voller Illusionen und hat weder die Kraft noch den Willen, nein zu sagen. Eine Million einfältiger Aufsätze, die von einer Million weicher Väterherzen wider besseres Wissen gutgeheißen werden, können auf die Dauer eine Gesellschaft völlig zerrütten. (…)
Wo würde Pasolini heute stehen? Trotz des “Alis mit den blauen Augen” kann ich ihn mir kaum im Rudel der Vielfalts‑, “Diversity”- und Buntheitsapostel vorstellen. Schon die hedonistisch-konformistische Linke seiner eigenen Zeit verachtete er zutiefst. Vielleicht wäre er heute in der Nähe von Köpfen wie Jean-Claude Michéa oder Costanzo Preve zu suchen.
Was er mit Raspail, der in ihm vermutlich nur einen weiteren links-subversiven Unterhöhler des “Westens” gesehen hat, gemeinsam hatte, war sein apokalyptischer Blick auf die Zukunft, und es ist vielleicht kein Zufall, daß er heute auch gerne unter identitären Revoluzzern zitiert wird. Auch in den “Freibeuterschriften” und “Lutherbriefen” finden sich verblüffend luzide, “prophetische” Stellen, die sich durchaus von “rechts” rezipieren lassen – worauf Thorsten Hinz (aka Doris Neujahr) bereits 1999 in der JF hinwies.
Das Zitat aus dem Stück von Ianva ist eine Montage aus den “Lutherbriefen” (1975):
Die Zukunft ist bedrohlich und apokalyptisch. Die Söhne gleichen ihren Vätern in nichts mehr und sind einer Zukunft ausgesetzt, die zwar die ganzen Probleme und all das Elend von heute konserviert, qualitativ aber völlig anders sein muß. Während dieses schrittweisen Zerfalls waren meine kummervollen oder hämischen Kritiker damit beschäftigt, alle mit ihren schwachsinnigen ‘Verpflichtungen’ zu belästigen: die ‘Verpflichtung’ für Fortschritt zu kämpfen, für soziale Verbesserungen, für Liberalisierung, Toleranz, kollektives Arbeiten etc. etc. Daß der allgemeine Zerfall aber erst durch die Pervertierung ihrer eigenen Werte in Gang gesetzt wurde, merkten sie gar nicht!
In seinem letzten Interview, wenige Stunden vor seiner Ermordung in der Nacht zum 2. November 1975, sagte Pasolini zu einem Journalisten: “Siamo tutti in pericolo!” – “Wir alle sind in Gefahr!” Ich reiße dies hiermit dreist aus dem Zusammenhang, und rufe es Ulrich Ladurner und der “Dame von Welt” zu: Wir alle sind in Gefahr! Auch und gerade durch die Pervertierung unserer eigenen Werte!
Ihr und alle anderen, die heute den Kopf in den Sand stecken und sich an ihren humanitären Gefühlen und guten Absichten berauschen, ihr tätet gut daran, euch eure eigene “tief sitzende Angst”, die zweifellos vorhanden ist (ja vorhanden sein muß, wenn ihr noch alle Tassen im Schrank habt) endlich einzugestehen und euch der Wirklichkeit zu stellen.
Trouver
Dreht dem Michel Rente ab -- da kann selbst die Frau v.d. Welt nicht weiter.
Liebe Brueder und Schwester, ich sage Euch - dieser buntesrepublikanische Minotauros uebernimmt sich von ganz selbst - ohne jegliche Beimache.