Den Soziologen Wolfgang Sofsky hat Erik Lehnert in Sezession 29 (2009) porträtiert. Sofsky, Jahrgang 1952, war 1993 für sein Werk Die Ordnung des Terrors. Das Konzentrationslager preisgekrönt worden. 1996 legte er sein kontrovers diskutiertes Traktat über die Gewalt vor, es folgten Bücher zu den Themen Freiheit, Sicherheit, Krieg, Folter, Privatheit.
Mit seinen Prosaskizzen Einzelgänger (2013) hat sich Sofsky unter die Literaten begeben. Daß er selbst unter jene titelgebende Spezies sich rechnet, wird auch in seinem Roman Weisenfels (über)deutlich – selbst wenn man die beiden hier auftretenden Figuren von ihrem Schöpfer zu trennen bemüht ist.
Graf Detloff (in Kindertagen: »der Depp«) von Weisenfels hat seinen Jugendfreund, den Ich-Erzähler, auf sein Schloß in dem verfallenen Städtchen geladen. Das Weisenfels des Romans erinnert an das anhaltische Weißenfels (in dessen Landkreis sich der Geburts- und Sterbeort Nietzsches befindet) der Jetztzeit, aber Indizien deuten darauf hin, daß wir uns in einer Sphäre der nahen Zukunft befinden. Detloff, darauf beschränkt sich die Handlung, führt den früheren Vertrauten durch die Gemächer des Herrensitzes.
Dabei wird die Lebensgeschichte des lebensmüden Grafen aufgerufen, der fehlende Vater, die kalte Mutter, die dürftige Kindheit, die früh eingenommene Außenseiterposition, die resultierende Misanthropie. Detloff ist ein Sonderling, ein »Narr aus überlebter Zeit«. Sein Schloß hat er seit dem Tod seiner Eltern angefüllt mit Hunderten Gipsfiguren, Masken, glasierten Terrakottaköpfen und Photographien gesichtsloser Kriegstoten. »Verdächtig, so viel Abendland!« heißt es.
Detloff, mit einer »Weltsicht fern der Gegenwart« begabt, philosophiert über das Gesicht, die Physiognomik, den Schädel – einen ganzen Roman entlang! Das Antlitz, so Sofskys Detloff, habe – anders als Worte – ein unmittelbares Verhältnis zur Wahrheit. Hübsche Sentenzen sind hier zu pflücken: Daß die »Unverkennbaren« stets »Menschen am Rande« seien, die sich fern der Mitte hielten. Daß der Individualitätskult der Kunstbeflissenen und Kunstblinden »eine Banalität, eine Barbarei!« sei. Daß der »Propaganda des Verbots« und mithin den »Toleranzprüfern, Zensoren und Diätmeistern«, nicht zu trauen sei, weil sie eine »Allianz der Machtgläubigen mit den Gutgläubigen« befördere. Ja, kluge Gedanken!
Sofsky unterbricht den sparsamen Fortgang seines Romans – Zimmer für Zimmer – durch kursiv gesetzte Einsprengsel: Märchen, Mythen, Erinnerungen. Dieser Roman erfordert einen geduldigen Leser. Und selbst der scharrt bald mit den Hufen: Die gräflichen Monologe über Whisky, Zigarren, Musik, Bilder und Pflanzen erscheinen prätentiös und connaisseurhaft, man zweifelt daran, wie ein derart menschenscheuer Eremit »einige Affairen« an Land gezogen haben soll, kurz: man findet inmitten dieser schwermütigen Innen- und Gesichterschau eine Geschwätzigkeit, die die Lektüre hemmt und stolpern läßt. Des Eigenbrötlers Brot schmeckt etwas sauer.