Wo ist das Phänomen zuerst aufgetreten?
Gottfried: Ich glaube, daß das Phänomen bei uns in den Vereinigten Staaten auch zu finden war, schon in der Nachkriegszeit. Damals waren die Amerikaner sich schon im klaren darüber, daß ein Rassenproblem in den Südstaaten und anderswo existiert und man meinte, daß die Regierung einschreiten müsse, um dem Rassismus entgegenzutreten. In den siebziger Jahren kam die zweite Phase, als es darum ging, auch der Frauenbewegung und den Homosexuellen gegenüber soziale Gerechtigkeit zu gewährleisten, inklusive Sonderbehandlung für diese Gruppen. Gleichzeitig haben auch die Deutschen – sozusagen auf eigene Faust – die zweite Phase des „Umerziehungsprozesses” eingeleitet, wie Caspar von Schrenck-Notzing in der Neuauflage seines Buches schön zu zeigen vermag. Die Deutschen haben also dieselbe Zeitmode, allerdings mit besonderem Nachdruck besonders zugespitzt, mitgemacht. Sie haben sich in denselben Geschichtsprozeß eingeordnet.
Worin sehen Sie die tieferen Ursachen der Schuldpolitik in den westlichen Staaten?
Gottfried: Ich muß Ihnen gestehen, daß ich stark von Nietzsche beeinflußt worden bin. Ich glaube, daß andere Zivilisationen wegen ihres Mangels an Nächstenliebe ein solches Phänomen nicht hervorgebracht hätten. Man kann sagen, daß dies ein allein der westlichen Zivilisation innewohnendes Problem darstellt. Heute verfällt die christliche Orthodoxie und es hat sich eine Nachfolgereligion herausgebildet, die sich die christliche mentale Hinterlassenschaft zu eigen gemacht hat und noch weiter verwendet.
Ist das eine Krankheit der westlichen Zivilisation?
Gottfried: Ja, aber da wäre vielleicht zu unchristlich, das so zu sagen. Ich glaube, am Christentum ist viel Gutes zu finden. Und eine westliche Zivilisation ohne Christenheit wäre unvorstellbar. Das Christentum hat, was an unserer Zivilisation am besten ist, mitgeprägt und mitgestaltet. Es ist ein Grundpfeiler unserer gesamten Zivilisation. Aber wenn die christliche Zivilisation zugrunde geht, so bleibt dieser mentale Überrest, von dem sich die Politik der Schuld im allgemeinen und der Multikulturalismus im besonderen weiter nähren kann.
Aber in Vereinigten Staaten gibt es doch starke christliche Bewegungen?
Gottfried: Die fundamentalistischen Christen in den Vereinigten Staaten lassen sich ausnutzen. Wenn man etwa für die Israelis im Nahost-Zusammenhang eintreten will, dann kann man sie leicht begeistern. Ich glaube, daß die Neokonservativen den Christen gegenüber eine ganz skeptische, nüchterne und auch zynische Haltung beziehen. Sie glauben, daß sie das Christentum so umgestalten können, daß es für ihren Zweck zu vereinnahmen ist. Und das haben sie in den Vereinigten Staaten ganz erfolgreich gemacht. Die meisten christlichen Fundamentalisten traten begeistert und engagiert für den Krieg im Irak ein. Sie glaubten, daß die amerikanischen Soldaten im Irak für die Christenheit kämpfen. Sie sind ganz blödsinnig, meiner Ansicht nach. Der Krieg wird doch geführt im Zeichen der Moderne, der Frauenbewegung, nicht zuletzt der Säkularisierung. Man versucht den theokratischen Staaten den Garaus zu machen und alles nach dem amerikanischen, säkularen Vorbild umzugestalten. Ich halte die Neokonservativen für Träger der Spätmoderne beziehungsweise der massendemokratischen Postmoderne – in Abgrenzung zur bürgerlichen Moderne und der bürgerlichen Denkweise, wovon mein schon verstorbener Freund Panajotis Kondylis ausführlich geschrieben hat.
In den Vereinigten Staaten werden Sie der intellektuellen Formation der „Paläokonservativen” zugeordnet – in Abgrenzung zu den „Neokonservativen”. Die amerikanischen altkonservativen Grundüberzeugungen lassen sich allerdings im deutschen Kontext kaum vortragen, ohne in den Verdacht einer zu großen Nähe zur Ideologie des Nationalsozialismus zu kommen. Sie selbst stammen aus einer Familie österreichischer Juden, die genau vor diesem Nationalsozialismus in die USA geflohen ist. Sehen Sie da einen Widerspruch?
Gottfried: Sicher, wenn jetzt in Deutschland eine Partei von Paläokonservativen, die sich allen gängigen Zeitmoden entgegenstemmte, anzutreffen wäre, dann würde sie sicher dieselben Beschimpfungen auf sich ziehen, wie jetzt die NPD. Die Paläokonservativen in den Vereinigten Staaten müssen allerdings vor dem Hintergrund der amerikanischen Geschichte betrachtet werden, die den alten europäischen Adelskonservatismus so nicht kannte. In Anlehnung an Panajotis Kondylis ließen sie sich auch als „Altliberale” bezeichnen.
Sie sind nicht nationalistisch ausgerichtet, sondern wollen eher eine ortsgebundene Politik. Sie standen in der Gegnerschaft zum Staatsimperialismus. Sie versuchten den amerikanischen Staatsbürgern in Stammbuch zu schreiben, daß sie sich aus imperialistischen Kriegen heraushalten sollten. Es versteht sich von selbst, daß sie sich der Erweiterung des Bundesbeamtenstaates entgegensetzten. Sie versuchen alles auf ein gemeinschaftliches Niveau zurückzubeziehen. Alles, was die Staatsbürger betrifft, das sollte am besten auf diesem Ortsniveau ausgetragen werden. Eine einzige Ausnahme gab es in der Debatte um Zollpolitik. Die Befürwortung von Zöllen war nicht ganz mit der Opposition zu einer von oben nach unten durchgreifenden Bundespolitik zu vereinbaren. Allerdings stammen die Finanzquellen der Altrechten großenteils aus dem Süden und dort lebt man von Textilproduktion, die gefährdet ist durch billige Importe aus der dritten Welt.
Die unvermeidliche Frage: Sehen Sie Auswege aus der gegenwärtigen Krise der westlichen Nationen?
Gottfried: Um es ganz freimütig auszusprechen, ich sehe einstweilen keinen Ausweg. Aber ich glaube, daß früher oder später dieser Geschichtsprozeß abgebrochen werden muß. Die Weiterungen des Multikulturalismus sind furchtbar. Und ich erschrecke darüber, wenn ich denke, wie unsere Zivilisation – auch die Überreste der bürgerlichen Zivilisation, die ich als Kind noch miterlebte, schon zuschanden geworden sind. Ich glaube, eine neue Regierungsform muß man sich ausdenken. Ich bin deshalb auch mit Karlheinz Weißmann im Ganzen einverstanden. Die vereinzelten Individuen in der modernen Gesellschaft, die ohne Verwurzelung in einer Gemeinschaft fortzuexistieren versuchen, sind nur eine Ausnahme in der menschlichen Geschichte.
Was können Intellektuelle wie wir in dieser Situation tun?
Gottfried: Man muß weitermachen, als Konservativer, als Liberaler. Den schon angesagten Kampf muß man natürlich ausfechten. Und ich muß sagen, ich bedauere es nicht, daß ich meine eigene Laufbahn zugunsten meiner Ideale aufgeopfert habe. Ich würde es nochmals tun. Was mich allerdings stört, ist der Versuch mancher Konservativer – etwa bei meinen katholischen Kollegen, gesellschaftliche Werte aufzustellen und sich alles rein denkerisch herauszuarbeiten, ohne auf die veränderlichen soziologischen Grundlagen zu achten. Das ist ein ganz abstraktes, abgehobenes Unterfangen einen Konservatismus sich auszudenken – oder wie mein Freund Hans-Hermann Hoppe von einem ganz phantasierten Einzelwesen in der Urzeit auszugehen, das schon mit einem ganz modernen Bewußtsein ausstaffiert war, Eigentum erwerben wollte und so weiter. Ich glaube, daß man keine guten politischen Konzepte hervorbringen kann, ohne auch dem sozialen Zusammenhang gebührende Beachtung zu schenken.
Worüber wird der massendemokratische, multikulturelle Managerstaat letztlich stolpern?
Gottfried: Ein Zuviel an Minoritäten. Ei Zuviel an Aufträgen, diese Minoritäten zu integrieren. Man kann das nicht leisten. Man versucht, den Minoritäten Sonderbehandlung zuzuweisen und achtet nicht darauf, wenn sie ihre eigenen Frauen unterdrücken, Straftaten verüben und andere Dinge tun, die der Mehrheitsbevölkerung in dieser Form nicht erlaubt sind. Wenn man versucht, diese Minoritäten soweit einzubinden, daß eine Angleichung der Gruppen geschafft werden könnte, dann muß man sich überanstrengen. Damit hat man sich übernommen, und ich glaube, daß an diesem Anliegen der therapeutische Staat notwendigerweise scheitern muß – allerdings nicht unbedingt auch der sozialdemokratische Wohlfahrtsstaat. Diese Unterscheidung muß ich hervorheben. Wohlfahrtsregierung gibt es seit Bismarck in Deutschland. Man muß mit dem Gegebenen rechnen, und ich glaube, daß die Bevölkerung immer mehr auf den Staat angewiesen ist und sein wird, daran ist wohl nicht zu rütteln. Leider. Die Regierung versorgt den deutschen Staatsbürger mit allerlei Leistungen, Pensionen und so weiter. Das wird sich nicht so leicht verändern. Ich weiß, daß es eine Unausgeglichenheit zwischen den Erwerbstätigen und den Rentnern gibt. Ich versteh das ganz gut. Aber was ich mir nicht vorstellen kann, ist ein grundsätzlicher Abbruch, oder eine Ablösung dieser Staatsform. Das ist jetzt nicht vorstellbar. Was scheitern muß, oder was ich hoffe, daß es scheitert, betrifft die therapeutischen Aspekte dieser Staatsform.
Aber glauben Sie nicht, daß die Noch-Mehrheitsbevölkerung in den westlichen Nationen bald selbst eine Minderheit ist? Und wenn die jetzigen Minderheiten in der Mehrheit sind, wer hat dann noch ein Interesse daran, die Situation zu ändern?
Gottfried: Aber daran müssen doch die Streitigkeiten entbrennen. Ich hoffe, daß die weiße Mehrheit zu einem gewissen Punkt diesem ganzen Unterfangen den Garaus machen wird. Und daß man darauf dringen wird, die Minoritäten baldigst abzuschieben, die ohne Recht gekommen sind. Das muß auch in den Vereinigten Staaten passieren. Die beiden großen Parteien tragen Sorge, sich mit diesen heiklen Problemen nicht zu befassen, aber sie müssen es tun. Bei uns ist das jetzt die dringende Streitfrage in der amerikanischen Politik. Ich hoffe, in absehbarer Zukunft werden die Illegalen, die Verbrechen begehen oder schwarzarbeiten, rigoros abgeschoben werden. Und anschließend auch die anderen Illegalen. Letztendlich gilt es, aus der Immigration herauszukommen.
Was passiert, wenn das doch nicht geschieht?
Gottfried: Dann geht alles zugrunde. Und das kann passieren! Ich versuche, Ihnen ein optimistisches Bild zu geben. Aber ich befürchte, daß man die Weichen nicht rechtzeitig umstellen wird. Offenbar bin ich dem Pessimismus mehr zugeneigt. Das hängt mit meiner deutsch-jüdischen Natur zusammen.
Unter welcher Fahne sollte sich die Mehrheitsbevölkerung im Zweifelsfall zusammenfinden?
Gottfried: Ich weiß, daß viele Menschen aus Ostdeutschland für die Linkspartei stimmen, und zwar weil sie überzeugt sind, daß diese Partei sie gut versogen und sie mit Leistungen überschütten wird. Andererseits sind sie mit dem Migrantenproblem unzufrieden und sie werden immer mehr erbost und erzürnt. Was mich erstaunt, ist die Unfähigkeit der Mehrheitsbevölkerung, eine Beziehung herzustellen zwischen ihrem Einsatz als Stimmgeber für die Linke und der Verschärfung des Immigrationsproblems. Dieser Zusammenhang muß ins öffentliche Bewußtsein dringen. Darum stimmen jetzt viele für eine rechtslastige, mit dem Ruch des „Faschismus” behaftete Partei, die wirklich Partei ergreift.