Erst kürzlich beklagte ich in einem Gespräch mit H, daß ich notorisch unfähig wäre, mir Fakten, Statistiken, Studien und Zahlen zu merken. H warf mir ahistorisches Denken vor, das dazu führe, daß ich Theorien aus ihrem historischen Kontext herausrisse und für meine Zwecke hernähme. Und natürlich brachte er den Klassiker unter den Vorwürfen gegen rechts: Irrationalismus, also eine Bedrohung zu sehen, wo doch keine da wäre, und den “Großen Austausch” bloß “gefühlt” als Dystopie zu entwerfen, wo dem doch keine Fakten entsprächen. Wahrscheinlich ist der Grund, daß Fakten mir einfach zu unpatriotisch sind.
In der ZEIT überlegt Thomas Assheuer, ob die Rechte sich nun auf diese Weise manipulativ durchsetze: nicht mehr Fakten zählen, sondern nur noch große Gefühle.
Wenn dann alle glauben, es gebe keine Realität mehr, nur noch eine gefühlte Wirklichkeit, dann hat die Rechte freies Feld, und das Spiel läuft nach ihren Regeln
Davon daß „alle“ glauben, es gäbe keine Realität mehr, sind wir gottlob weit entfernt. Assheuers Angt vor Realitätsverlust sollte man nicht für Realität, sondern für ein unaufgearbeitetes Postmoderneproblem der Linken halten. Die Idee der “Postmoderne” war in den 80er und 90er Jahren sehr verführerisch, denn sie ließ die 68er-Generation getrost weiter Kritik an der Moderne üben, diagnostizierte “das Ende der großen Erzählungen” (vom autonomen Subjekt, Freiheit, Gott, Fortschritt), bespiegelte sich heiter in “Kulturtrümmern” und ließ vor allem eines zu: sich völlig wegzubewegen von der Wirklichkeit, die man zusehends für “das freie Spiel der Signifikantenketten” und “endlose Präzession der Simulakra” zu halten begann. Den Ästheten (Literaturwissenschaftlern, Philosophen, Architekten, Künstlern) war die Welt zur Kunst geworden, eigentlich etwas, das sie nie gewollt hatten, damals, als alte Materialisten.
Die meisten intellektuellen Linken stehen heute noch genau da, wo sie die Geschichte in den 80er Jahren, spätestens frühen 90er Jahren, abgesetzt hat (und die Jüngeren werden von den Älteren entsprechend sozialisiert). Linkes Denken spannt sich auf zwischen Sozialkritik (gegen “Ausgrenzung”), Hypermoralismus (für das “Menschliche”), Konstruktivismus (“Dekonstruktion sozialer Konstruktionen”) und Utopismus (“Traum vom friedlichen Zusammenleben”). Dieses weitgespannte geistig-moralische Tätigkeitsfeld ist allerdings in sich ganz furchtbar widersprüchlich. Linke Intellektuelle setzen die Nicht-mehr-Existenz der Realität (“alteuropäisches Denken”, Verdikt gegen “modernes Substanzdenken”, “Simulation der Simulation”) voraus.
Sie brauchen Realität allerdings ganz dringend, um moralische Klagen anstimmen zu können:“gegen rechte Lügen” und die beschworene “gefährliche Filterblase” der Populisten muß man eine Wirklichkeit aufbieten, mit der verglichen die anderen lügen und manipulieren und verführen. Hätte man die nicht, wäre eh alles egal, ein postmodernes Anything goes der Realitätskonstruktionen von Links und Rechts – das können die Linken nicht zulassen!
1986 erschien im Verlag Matthes & Seitz ein Büchlein, das erstmal definitiv reiner Zeitkolorit ist: In Essays der Jahre 1977–1984 plagt sich der Autor, Jean Baudrillard, ob nun die kommunistischen und sozialistischen Perteien Frankreichs die Wahlen gewinnen und wenn nicht, woran das liegt. Irgendwann hat’s ihm wohl gereicht, dies alles esoterisch mit Lenin, Lacan, Althusser und Marx über die Rolle der Partei zu erklären.
Die Linke selber hat ein Problem, stellt er fest, und zwar ein politisches Problem!
Sie glauben an die ‘Realität’ des Sozialen, der Kämpfe, der Klassen, und von wer weiß, was sonst noch. Sie glauben an alles, sie wollen an alles glauben, das macht ihre tiefe Moralität aus – und das nimmt ihnen jegliche politische Fähigkeit. (…) Ihnen entgeht vollkommen die Maßlosigkeit, die Immoralität, die Simulation und die Verführung, welche Bestandteil des Politischen sind. Eben das macht sie dumm, so abgrundtief dumm.
Donald Trump ist real, auch wenn seine Rede maßlos, moralfrei, verführerisch ist. Die Differenz ist nicht etwa die, daß er als physischer Sprecher real, und seine Rede bloße Sprache sei, das ist so banal wie wahr. Es ist allerdings unmöglich, seine Redeinhalte auf mehr oder weniger Realitätsgehalt hin zu prüfen. Ist Trump daher selber ein Simulacrum?
Wir könnten verführt sein, dies so zu sehen – all die ganze linke Anti-Trump-Hysterie wäre dann ein großer Irrtum von Leuten, die einfach nicht checken, daß das Phänomen Trump freidrehende Medienrealität ist ohne Realitätsbezug, und insofern die Überprüfung mithilfe von “Faktenchecks” sinnlos ist, does not apply. Die manipulationstheoretische linke Fragestellung “Darf Trump ungestraft lügen und damit Stimmung machen, darf er ein ‘Populist’ sein?” könnten wir beantworten mit: Trump darf alles. “Darf” ist nicht mehr die Frage in der Sphäre der Simulacra. Aber befinden wir uns wirklich darin?
Ein ganz kurzes Anti-Hillary-Video führt vor: eine junge schwarze Schauspielerin tritt vor die Kamera und bekennt, daß sie für Clinton wäre, diese sei einfach “honest and trustworthy … cut. Give me a cut, please.” Erste Ebene der Realität: Promibekenntnis, ganz authentisch. Dann bekennt sie, daß sie einfach nicht weitersprechen kann, diese Worte kommen ihr nicht über die Lippen, denn sie glaubt nicht daran! Zweite Ebene der Realität: persönliches Bekenntnis vor laufender Kamera, Unterbrechung, ganz authentisch. Aus dem Off tönt jetzt: “Come on, you’re an actress!” Ihre Reaktion: “But I’m not that good of an actress!” – eine so gute Schauspielerin sei sie nun doch nicht. Sie ist aber eine Schauspielerin, die eine Schauspielerin spielt, die (angesichts Hillary) nicht mehr schauspielern kann. Dritte Ebene der Realität: selbst Schauspieler können dieses Bekenntnis nimmer dissimulieren. Hier dreht sich, um Baudrillards Lieblingsmetapher hervorzuziehen, das “Möbiusband” scheinbar nur noch in sich, Simulation und Dissimulation perpetuieren sich, keine authentische Wirklichkeit mehr in Sicht.
Der Mensch ist von Natur aus künstlich. Ist das so schwer? Wenn man das einmal weiß, kann man mit dem ganzen linken Authentizitäts‑, Gefühls- und Simulationsmaterial trefflich spielen, und zwar ohne dadurch den großen Realitätsverlust kritisch zu beklagen.
Und wenn unsere Gesellschaften Simulationsgesellschaften sind, ist es dann nicht im Grunde besser, daß die Herrschenden große Simulanten und Simulationsprofis sind? (Baudrillard, Euphorie am Tropf, 1984, in: Göttliche Linke)
Die Frage nach Manipulation und Gefühlen versuchte man in der letzten Ausgabe der ZEIT wieder einmal mit dem Begriff der “postfaktischen” Gesellschaft zu fassen. Die ZEIT hat einen Narren an Robert Keyes’ Post-Truth Era gefressen. Der deutsche Wikipediaartikel verbindet diese Theorie geradezu eindimensional mit der ZEIT. Der englischsprachige läßt mich herausfinden, daß Assheuer die knalligsten Sätze irgendwo her hat: Michael Deacon schrieb am 9.7.2016 im Daily Telegraph über Trumps Stil: Facts are negative. Facts are pessimistic. Facts are unpatriotic.
Die Journalisten der ZEIT glauben, die erkenntnistheoretische Grundlage der Demokratie sei eben die Wahrheit der Fakten und des rationalen herrschaftsfreien Diskurses, und daß dieses Paket ganz ohne Reflexionsprobleme wieder erhältlich sei, dabei hatten sie es doch in den 80er Jahren selber gründlich dekonstruiert.
Auf dieser erkenntnistheoretischen Grundlage kann einem Assheuer nur übel werden, wenn da – wo er doch die Postmoderne so schön verabschiedet hatte – plötzlich mit Trump und Konsorten ein neues Begriffsrepertoire auftaucht, das Simulacra und Gefühle, Mythos und Pathos, performance und psychodelia entfaltet.
Gut, daß ihm in der drauffolgenden ZEIT-Ausgabe (No. 40) ein amerikanischer Kommunikationsprofessor sekundiert mit der These, Trump sei ein Faschist:
Ganz wie Hitler und Mussolini zelebriert Trump den Mythos der Größe. Trump hat die rassistische und fremdenfeindliche Weltsicht des Faschismus und dessen Fixierung auf den charismatischen Führer mit den Idealen und medialen Mechanismen des amerikanischen Individualismus verbunden.
Siegt Trump, dann siegt der Mythos über die Aufklärung, befürchtet Assheuer im Zeichen triumphalen Unheils: das kann nur ein Sieg des „Archaischen, die Normalisierung von Krieg und Gewalt“ werden, in dem nur mehr eine Wahrheit zurückbleibe, „der Wille zur Macht“, und Bernhard Pörksen, gleiche Ausgabe, pflichtet ihm bei, Trumps Drama sei geeignet, „das Rationalitätsprinzip des Diskurses auszuhebeln“. Genau dieses Denken hat Baudrillard 1986 titelgebend “Die göttliche Linke” genannt.
Und der Haupteinwand gegen die Linke liegt in dieser Göttlichkeit – in dieser treuherzigen, durchsichtigen, tugendhaften und moralischen Art und Weise, sich für die Grundwerte und die endgültigen Werte der Geschichte repräsentativ zu halten.
Die Rechte hat demgegenüber einen prinzipiellen Vorteil. Sie hat kein Postmoderneproblem (das ist im übrigen exakt das, was Houellebecq mit “Freiheit” gemeint hat). Daß Armin Mohler im “Interregnum” gewisse Kontinuitäten begrüßt hat (Kulturkritik, Antimodernismus, Irrationalismus, Gleichgültigkeit) zwischen konservativem und postmodernem Habitus, macht noch kein Postmoderneproblem. Denn nie haben Konservative die Realität verloren, weder utopistisch, noch “göttlich”, noch dekonstruktivistisch. Substanzdenken, große Erzählungen, anthropologische Ernüchterung, das Archaische und sogar bisweilen Faktenchecks und Mit-dem-Finger-Draufzeigen auf die Wirklichkeit – mit diesen Beständen kann die Rechte rechnen.
Boris Groys (der nicht rechts ist, sondern Russe) hat eines von drei Nachworten (die zwei anderen sind von Günter Maschke und Hans-Dietrich Sander) zu Baudrillard verfaßt, und stellt als Kunsttheoretiker lapidar fest:
Das ist auch der Grund für das von Baudrillard konstatierte Übergewicht der “Rechten”: sie nämlich kennen den künstlichen und künstlerischen Charakter dessen, was die Sozialisten für die Realität nehmen.
Die natürliche Künstlichkeit des Menschen, den Formwillen, den Stil des Politischen kann man nur kapieren, wenn man am Boden der Realität steht. Die amerikanische Alt-Right sieht das ganz klar:
The reality is that Trump understands that disseminating truths and half truths with a dose of emotion embedded is far more effective.
“Dissemination” ist ein postmodernes Schlagwort aus dem litaturtheoretischen Strickkorb, Derrida verstand darunter so etwas wie “Bedeutungszerfaserung”, die natürlich in sich endlos und weltlos und subjektlos verliefe – daß da ein massives Subjekt daherkommt und sich dieses Strickzeugs einfach bedient, war bei Derrida eher nicht vorgesehen.
Trump ist zweifelsohne ein Mythos, nur: so what? Politik ist Mythos, nicht Aufklärung. Panik vor Trump braucht nur zu schieben, wer sich für die “demokratischen” und “aufklärerischen” endgültigen Werte der Geschichte für repräsentativ hält, aber untergründig Muffensausen vor seiner eigenen restpostmodernen Wirklichkeitstauglichkeit bekommen hat. Mit Baudrillard wären wir eigentlich durch mit dem Thema – die “Agonie des Realen” ist beendet: seit 9/11 wird zurückgeschossen. Die Realität ist da.
Corvusacerbus
Yep, die Realität, diese verdammte und schrecklich komplexe Voraussetzung, unter deren Regime wir unsere Geschichte selber machen, ist da. Gut so! Und mir scheint - jedenfalls geht es mir so - der Rechte muß sich einigermaßen zügig entscheiden, welche der gnostisch-innerweltlichen Entgleisungen, dem westlich-libertären Amerikanismus oder dem orientalisch-despotischen Islamismus er hauptsächlich widerstreiten will. Und, um eine weitere schrecklich komplex verschränkte Thematik unterzukomplexen, er muß sich fragen, kämpfe ich mit dem Gott des Abendlandes, dem Erlöser Jesus Messias/Christus, gegen den libertären oder den muselmanischen Antichristen. Oder ist das Rechte selber der Antichrist, weil er den Gott des Evangeliums als universalistischen
Zerstörer