Die einen fürchteten die Wiederkehr des braunen Gespenstes, die anderen die fortgesetzte Zerstörung unseres Landes durch Islamisierung, ungebremste Zuwanderung aus der Dritten Welt und demokratiefeindliche Souveränitätsabgabe. Es sind jedoch die Befürchtungen der letzteren, die auf Fakten, Realismus und Vernunft beruhen, auch wenn ihr die Gegenseite ständig das Gegenteil einzureden versucht. (Martin Lichtmesz)
Aber – ein großes „Aber“ – die gleiche Arbeit sollte auch als Selbstkritik geleistet werden, womit ich erneut bei einem Punkt bin, den ich hier schon mehrfach – resonanzlos – anzusprechen versuchte. Einige Autoren und Foristen glauben an die Macht der Selbstsetzung. „Hier stehe ich und kann nicht anders.“ Das ist ehrenwert und mutig, aber selten richtig oder besser: korrekt. Kaum eine Diskussion ohne großes Wundern über absurdes linkes Denken – den Balken im eigenen Auge sieht man meist nicht. Dabei kann nur logische Stringenz (im Idealfall) gewinnen. (Leserkommentar vom 17.12.2016)
“Wahrheit” ist nur sinnvoll zu verwenden als Erkenntnisziel und als Erkenntnisgrund, wenn sie objektive Geltung hat. Es ist nur mit einem intakten Wahrheitsbegriff möglich, Ideologiekritik zu üben – “falsches Bewußtsein” kann man schließlich nicht selber erkanntermaßen haben, sondern nur anderen zuschreiben.
Wahrheit ist nach der alten Formel die Adaequatio intellectus et rei, die Übereinstimmung der Erkenntnis mit der Welt. “Wahrheit” (ich setze die Anführungsstriche nicht zweifelnd oder ironisch, sondern um die Rede von Wahrheit, also den Wahrheitsbegriff, von der Wahrheit auf der Sachebene zu unterscheiden) ist die Voraussetzung, ohne die man nicht sehen kann, ob eine gegnerische Position falsch ist, ob wir es mit Lüge, Verzerrung und Irrtum zu tun haben.
Wahrheit in Frage zu stellen, ist eine lange philosophische Tradition, man denke nur an Nietzsches Wahrheit als “bewegliches Heer von Metaphern, Metonymien, Anthropomorphismen”, doch spätestens der Linguistic turn und der amerikanische Pragmatismus, allerspätestens die Postmoderne, haben uns endgültig die Unschuld gestohlen. Wer alles zusammen nimmt (Nietzscheanismus, Pragmatismus, analytische Sprachphilosophie und Postmodernismus) wie Richard Rorty, kann nur noch ironisch-existentialistisch vor der Wahrheit warnen.
Nach Ende des 20. Jahrhunderts ist eine vor-konstruktivistische Position eigentlich nicht mehr möglich, “Wahrheit” wird gemacht und nicht gefunden, und dieses Wahrheitmachen (Nelson Goodman sprach gut postmodern von den Ways of worldmaking) erzeugt einen blühenden Relativismus.
Wahrheit ist nimmer zugänglich, eine große Erzählung, die sich in plurale Konstruktionen auflösen läßt.
Das hat allerdings fürchterliche Konsequenzen für die Wirklichkeit, der Mindfuck der entstrukturierenden Ironiker wurde unfein aufgestört. Denn irgendwann hatten nicht mehr nur hoffnungslos rückwärtsgewandte “moderne” Philosophen mit ihrem “Vernunftglauben” etwas dagegen, sondern konservative Denker, die beobachteten, daß diese Absage an die Wahrheit eine Filterblase ist, aus der heraus sich trefflich Welt konstruieren läßt, aber die auch – und jetzt kommt’s – Welt zerstören kann.
Welt zerstören durch Wahrheitslosigkeit kann zwei Wege nehmen, der eine ist Entstrukturierung (Manfred Kleine-Hartlage hat diesen Weg in Die liberale Gesellschaft und ihr Ende beschrieben), der andere Weg hängt mit diesem zusammen, ist aber ungleich realer: die One-World-Ideologie geht davon aus, daß Menschen überall nur Menschen sind und das “Menschenrecht” hätten, überall zu leben, und öffnet damit unter anderem denjenigen Menschen Tür und Tor, die sehr wohl einen festen fundamentalistischen Wahrheitsbegriff ihr eigen nennen.
Wahrheitslose Ironikerinnen (die deutsche Übersetzung von Rortys Kontingenz, Ironie und Solidarität wählt tatsächlich dieses generische Femininum!) unterliegen am Ende einer solchen Macht.
Hier kommt die “Setzung” ins Spiel, das Reklamieren von “Fakten, Realismus und Vernunft” auf seiten der Rechten. Ihr Substantialismus und Objektivismus schlägt alles Denken vom Typ “xy kann man seit z nicht mehr vertreten” in den Wind.
Rechte scheinen ein “Recht auf Wahrheit” zu haben, das aber nicht so unbeleckt und philosophiegeschichtsblind ist, wie es scheint.
Kubitschek antwortete Nassehi in Die letzte Stunde der Wahrheit:
Konservative wie wir gehen nicht davon aus, daß sie in allem recht hätten – sie gehen vielmehr von der Multiperspektivität der Welt aus, und zwar von vornherein und ohne Drang, diese Vielfalt zu zerstören oder auszudünnen. Konservative wie wir gehen aber auch davon aus, daß die Wirklichkeit auf ihrer Seite steht. Darüber ließe sich streiten, nicht?
Wie kann man mit Recht davon ausgehen, daß die Wirklichkeit auf der eigenen Seite steht? Aus-dem-Fenster-Gucken reicht da wohl nicht, auch wenn das in Diskussionen oft angeführt wird als Argument, man brauche z.B. ja bloß in einer Großstadt in die Fußgängerzone zu gehen, um den “Großen Austausch” live zu erleben.
Denn die Wahrnehmung kann ja auch falsch sein. Es ist möglich, daß “die Gegenseite (einem) ständig das Gegenteil einzureden versucht” von dem, was man wahrnimmt, aber es ist nicht notwendig der Fall. Auch wir können uns irren, ohne irregeführt worden zu sein. Alles andere ist Ideologie.
Das Schlimme ist, daß das hier keine theoretischen Spitzfindigkeiten à la Berkeley sind, sondern damit die komplette rechte Ideologiekritik an der Linken steht und fällt. “Lügenpresse” funktioniert nur, wenn man Wahrheit als Kritikfolie aufspannen kann und nicht die linke und die rechte “Wahrheit” verschiedene Perspektiven sind, unentscheidbar und halt multipel.
Das Dilemma geht noch weiter. Rechts zu werden, passiert nur allzuoft aus radikalem Zweifel an der Wahrheit. Ich will gar nicht wissen, wie viele schlaue Köpfe – einsam hinter ihrem Rechner sitzend – sich YouTube-Videos reinziehen, die die Welt, wie wir sie kennen und wie sie ihnen in der Schule und in den Medien beigebracht worden ist, in Zweifel ziehen.
Ein typisches Produkt dieser quälenden Wahrheitssuche für hochbegabte junge Männer ist zum Beispiel der YouTube-Kanal “Die dunkle Wahrheit. Recherchierte Beiträge für selbstdenkende Menschen”. “Verschwörungstheorie” ist nur ein diffamatorischer Ausdruck für dieses Genre.
Das “Postfaktische” habe ich hier, hier, hierund hier thematisiert. Es reicht langsam.
Es ist das Erbe der Postmoderne, meinethalben auch ihre “Dialektik”, daß sie angetreten ist, den Wahrheitsbegriff gründlich zu zerstören, doch heraus kam keine friedliche Beliebigkeit der pluralen Perspektiven, sondern die wissenschafts- und erkenntnistheoretisch längst überholt geglaubte Möglichkeit, daß “wissenschaftliche Beweise” auch einfach nicht mehr geglaubt werden können.
Klimawandel, Schulmedizin, Kriegsgründe, sogar der Holocaust, Behauptungen, Zahlen und Fakten über politische Gegner – alles eine Frage des “Glaubens” an “gemachte” Wahrheiten. Davon sind linke und rechte Beweise gleichermaßen betroffen.
Mit welchen Kriterien entscheiden wir dann noch? Unmittelbare Wahrnehmung (“Rausgehen und gucken”) ist operativ geschlossen (gebraucht ihre eigene Unterscheidung und legt sie auf die Welt drauf) und kommt nicht ran an die Wirklichkeit.
“Logische Stringenz”, wie oben zitiert, also immanente Kriterien der Überprüfung (Sind die Argumente plausibel oder widersprüchlich?), setzt selber wieder wissenschaftliche Standards und Unhintergehbarkeiten voraus, wir kritisieren ja nicht bloß auf der Ebene der Aussagenlogik.
Just diejenigen, die die postmoderne Wahrheitsvernichtung am meisten kritisieren, nämlich wir Rechten, profitieren am meisten von ihr. Denn ohne die riesige skeptische Bresche, die die Postmoderne geschlagen hat, wäre der inzwischen wirklich breite Zweifel an der Wahrheit der Mainstreammedien undenkbar.
Nur auf diesem gelichteten Boden kann Wahrheit erneut reklamiert werden. Dies aber weder auf der Erkenntnisebene durch naive “Setzung” (“Hier sind die Fakten, dort die Lügen!”), noch auf der pragmatischen Ebene durch ehrenwerten Trotz (“Ich lasse mir die Wahrheit nicht nehmen!”).
Sondern durch etwas, das im rechten Lager machmal gar nicht so gut ankommt (defaitistisch! theoretisch! antiaktionistisch! spaltend!), nämlich: reflexiv werden. Mit Luhmann – der wunderbarerweise sowohl konservativ als auch postmodern ist – ist Reflexion das “Re‑entry der Form in die Form”: nicht nur Unterscheidungen benutzen, sondern die Benutzung nochmal benutzen. Wir können uns auf “Wahrheit” berufen, die weder beliebig – und damit sinnlos – ist, noch objektiv – und damit kontextfrei – ist.
Reflexiv werden heißt also, immer und immer wieder mitbetonen, erwähnen, erklären, wozu wir Wahrheit brauchen. Das heißt nicht, nun jedesmal längere philosophische Erklärungen mindestens der Länge dieses Beitrags zu bringen, sondern schlicht zu sagen, daß Wahrheit einen politischen Sinn hat.
Daß wir ohne sie nicht weiterkommen im Kampf. Daß wir wissen, wie unglaublich fragil sie ist. Daß sie ihre Gründe offenlegen muß, um nicht einfach das “Spielchenspielendürfen der Guten” (Lichtmesz) bei gleichzeitiger Ideologiekritik an den Bösen zu legitimieren.
Daß wir ständig den eigenen Wahrheitsgebrauch deklarieren. Nicht: ständig anzweifeln.
Ein gebürtiger Hesse
Hochinteressanter Beitrag. Danke dafür. Aber können Sie es noch etwas anschaulicher machen, vielleicht mit einem Beispiel? "Nicht nur Unterscheidungen benutzen, sondern die Benutzung nochmal benutzen" - wie kann das an welcher Stelle aussehen? Und was heißt am Ende "deklarieren" - kundtun, apostrophieren, affirmieren? In was für einer Situation sähen Sie dafür Bedarf?