Lügenkritik braucht Wahrheit

Praktische Auswirkungen theoretischer Dilemmata sind der Punkt, an dem man sie bemerken kann und sie kein Mindfuck bleiben. Das theoretische Dilemma läßt sich wie folgt umreißen:

Caroline Sommerfeld

Caroline Sommerfeld ist promovierte Philosophin und dreifache Mutter.

Die einen fürch­te­ten die Wie­der­kehr des brau­nen Gespens­tes, die ande­ren die fort­ge­setz­te Zer­stö­rung unse­res Lan­des durch Isla­mi­sie­rung, unge­brems­te Zuwan­de­rung aus der Drit­ten Welt und demo­kra­tie­feind­li­che Sou­ve­rä­ni­täts­ab­ga­be. Es sind jedoch die Befürch­tun­gen der letz­te­ren, die auf Fak­ten, Rea­lis­mus und Ver­nunft beru­hen, auch wenn ihr die Gegen­sei­te stän­dig das Gegen­teil ein­zu­re­den ver­sucht. (Mar­tin Licht­mesz)

Aber – ein gro­ßes „Aber“ – die glei­che Arbeit soll­te auch als Selbst­kri­tik geleis­tet wer­den, womit ich erneut bei einem Punkt bin, den ich hier schon mehr­fach – reso­nanz­los – anzu­spre­chen ver­such­te. Eini­ge Autoren und Foris­ten glau­ben an die Macht der Selbst­set­zung. „Hier ste­he ich und kann nicht anders.“ Das ist ehren­wert und mutig, aber sel­ten rich­tig oder bes­ser: kor­rekt. Kaum eine Dis­kus­si­on ohne gro­ßes Wun­dern über absur­des lin­kes Den­ken – den Bal­ken im eige­nen Auge sieht man meist nicht. Dabei kann nur logi­sche Strin­genz (im Ide­al­fall) gewin­nen. (Leser­kom­men­tar vom 17.12.2016)

“Wahr­heit” ist nur sinn­voll zu ver­wen­den als Erkennt­nis­ziel und als Erkennt­nis­grund, wenn sie objek­ti­ve Gel­tung hat. Es ist nur mit einem intak­ten Wahr­heits­be­griff mög­lich, Ideo­lo­gie­kri­tik zu üben – “fal­sches Bewußt­sein” kann man schließ­lich nicht sel­ber erkann­ter­ma­ßen haben, son­dern nur ande­ren zuschreiben.

Wahr­heit ist nach der alten For­mel die Adaequa­tio intellec­tus et rei, die Über­ein­stim­mung der Erkennt­nis mit der Welt. “Wahr­heit” (ich set­ze die Anfüh­rungs­stri­che nicht zwei­felnd oder iro­nisch, son­dern um die Rede von Wahr­heit, also den Wahr­heits­be­griff, von der Wahr­heit auf der Sach­ebe­ne zu unter­schei­den) ist die Vor­aus­set­zung, ohne die man nicht sehen kann, ob eine geg­ne­ri­sche Posi­ti­on falsch ist, ob wir es mit Lüge, Ver­zer­rung und Irr­tum zu tun haben.

Wahr­heit in Fra­ge zu stel­len, ist eine lan­ge phi­lo­so­phi­sche Tra­di­ti­on, man den­ke nur an Nietz­sches Wahr­heit als “beweg­li­ches Heer von Meta­phern, Met­ony­mi­en, Anthro­po­mor­phis­men”, doch spä­tes­tens der Lin­gu­i­stic turn und der ame­ri­ka­ni­sche Prag­ma­tis­mus, aller­spä­tes­tens die Post­mo­der­ne,  haben uns end­gül­tig die Unschuld gestoh­len. Wer alles zusam­men nimmt (Nietz­schea­nis­mus, Prag­ma­tis­mus, ana­ly­ti­sche Sprach­phi­lo­so­phie und Post­mo­der­nis­mus) wie Richard Ror­ty, kann nur noch iro­nisch-exis­ten­tia­lis­tisch vor der Wahr­heit warnen.

Nach Ende des 20. Jahr­hun­derts ist eine vor-kon­struk­ti­vis­ti­sche Posi­ti­on eigent­lich nicht mehr mög­lich, “Wahr­heit” wird gemacht und nicht gefun­den, und die­ses Wahr­heit­ma­chen (Nel­son Good­man sprach gut post­mo­dern von den Ways of world­ma­king) erzeugt einen blü­hen­den Relativismus.

Wahr­heit ist nim­mer zugäng­lich, eine gro­ße Erzäh­lung, die sich in plu­ra­le Kon­struk­tio­nen auf­lö­sen läßt.

Das hat aller­dings fürch­ter­li­che Kon­se­quen­zen für die Wirk­lich­keit, der Mind­fuck der ent­struk­tu­rie­ren­den Iro­ni­ker wur­de unfein auf­ge­stört. Denn irgend­wann hat­ten nicht mehr nur hoff­nungs­los rück­wärts­ge­wand­te “moder­ne” Phi­lo­so­phen mit ihrem “Ver­nunft­glau­ben” etwas dage­gen, son­dern kon­ser­va­ti­ve Den­ker, die beob­ach­te­ten, daß die­se Absa­ge an die Wahr­heit eine Fil­ter­bla­se ist, aus der her­aus sich treff­lich Welt kon­stru­ie­ren läßt, aber die auch – und jetzt kommt’s – Welt zer­stö­ren kann.

Welt zer­stö­ren durch Wahr­heits­lo­sig­keit kann zwei Wege neh­men, der eine ist Ent­struk­tu­rie­rung (Man­fred Klei­ne-Hart­la­ge hat die­sen Weg in Die libe­ra­le Gesell­schaft und ihr Ende beschrie­ben), der ande­re Weg hängt mit die­sem zusam­men, ist aber ungleich rea­ler: die One-World-Ideo­lo­gie geht davon aus, daß Men­schen über­all nur Men­schen sind und das “Men­schen­recht” hät­ten, über­all zu leben, und öff­net damit unter ande­rem den­je­ni­gen Men­schen Tür und Tor, die sehr wohl einen fes­ten fun­da­men­ta­lis­ti­schen Wahr­heits­be­griff ihr eigen nennen.

Wahr­heits­lo­se Iro­ni­ke­rin­nen (die deut­sche Über­set­zung von Ror­tys Kon­tin­genz, Iro­nie und Soli­da­ri­tät wählt tat­säch­lich die­ses gene­ri­sche Femi­ni­num!) unter­lie­gen am Ende einer sol­chen Macht.

Hier kommt die “Set­zung” ins Spiel, das Rekla­mie­ren von “Fak­ten, Rea­lis­mus und Ver­nunft” auf sei­ten der Rech­ten. Ihr Sub­stan­tia­lis­mus und Objek­ti­vis­mus schlägt alles Den­ken vom Typ “xy kann man seit z nicht mehr ver­tre­ten” in den Wind.

Rech­te schei­nen ein “Recht auf Wahr­heit” zu haben, das aber nicht so unbe­leckt und phi­lo­so­phie­ge­schichts­blind ist, wie es scheint.

Kubit­schek ant­wor­te­te Nas­sehi in Die letz­te Stun­de der Wahr­heit:

Kon­ser­va­ti­ve wie wir gehen nicht davon aus, daß sie in allem recht hät­ten – sie gehen viel­mehr von der Mul­ti­per­spek­ti­vi­tät der Welt aus, und zwar von vorn­her­ein und ohne Drang, die­se Viel­falt zu zer­stö­ren oder aus­zu­dün­nen. Kon­ser­va­ti­ve wie wir gehen aber auch davon aus, daß die Wirk­lich­keit auf ihrer Sei­te steht. Dar­über lie­ße sich strei­ten, nicht?

Wie kann man mit Recht davon aus­ge­hen, daß die Wirk­lich­keit auf der eige­nen Sei­te steht? Aus-dem-Fens­ter-Gucken reicht da wohl nicht, auch wenn das in Dis­kus­sio­nen oft ange­führt wird als Argu­ment, man brau­che z.B. ja bloß in einer Groß­stadt in die Fuß­gän­ger­zo­ne zu gehen, um den “Gro­ßen Aus­tausch” live zu erleben.

Denn die Wahr­neh­mung kann ja auch falsch sein. Es ist mög­lich, daß “die Gegen­sei­te (einem) stän­dig das Gegen­teil ein­zu­re­den ver­sucht” von dem, was man wahr­nimmt, aber es ist nicht not­wen­dig der Fall. Auch wir kön­nen uns irren, ohne irre­ge­führt wor­den zu sein. Alles ande­re ist Ideologie.

Das Schlim­me ist, daß das hier kei­ne theo­re­ti­schen Spitz­fin­dig­kei­ten à la Ber­ke­ley sind, son­dern damit die kom­plet­te rech­te Ideo­lo­gie­kri­tik an der Lin­ken steht und fällt. “Lügen­pres­se” funk­tio­niert nur, wenn man Wahr­heit als Kri­tik­fo­lie auf­span­nen kann und nicht die lin­ke und die rech­te “Wahr­heit” ver­schie­de­ne Per­spek­ti­ven sind, unent­scheid­bar und halt multipel.

Das Dilem­ma geht noch wei­ter. Rechts zu wer­den, pas­siert nur all­zu­oft aus radi­ka­lem Zwei­fel an der Wahr­heit. Ich will gar nicht wis­sen, wie vie­le schlaue Köp­fe – ein­sam hin­ter ihrem Rech­ner sit­zend – sich You­Tube-Vide­os rein­zie­hen, die die Welt, wie wir sie ken­nen und wie sie ihnen in der Schu­le und in den Medi­en bei­gebracht wor­den ist, in Zwei­fel ziehen.

Ein typi­sches Pro­dukt die­ser quä­len­den Wahr­heits­su­che für hoch­be­gab­te jun­ge Män­ner ist zum Bei­spiel der You­Tube-Kanal “Die dunk­le Wahr­heit. Recher­chier­te Bei­trä­ge für selbst­den­ken­de Men­schen”. “Ver­schwö­rungs­theo­rie” ist nur ein dif­fa­ma­to­ri­scher Aus­druck für die­ses Genre.

Das “Post­fak­ti­sche” habe ich hier, hier, hierund hier the­ma­ti­siert. Es reicht langsam.

Es ist das Erbe der Post­mo­der­ne, mei­net­hal­ben auch ihre “Dia­lek­tik”, daß sie ange­tre­ten ist, den Wahr­heits­be­griff gründ­lich zu zer­stö­ren, doch her­aus kam kei­ne fried­li­che Belie­big­keit der plu­ra­len Per­spek­ti­ven, son­dern die wis­sen­schafts- und erkennt­nis­theo­re­tisch längst über­holt geglaub­te Mög­lich­keit, daß “wis­sen­schaft­li­che Bewei­se” auch ein­fach nicht mehr geglaubt wer­den können.

Kli­ma­wan­del, Schul­me­di­zin, Kriegs­grün­de, sogar der Holo­caust, Behaup­tun­gen, Zah­len und Fak­ten über poli­ti­sche Geg­ner – alles eine Fra­ge des “Glau­bens” an “gemach­te” Wahr­hei­ten. Davon sind lin­ke und rech­te Bewei­se glei­cher­ma­ßen betroffen.

Mit wel­chen Kri­te­ri­en ent­schei­den wir dann noch? Unmit­tel­ba­re Wahr­neh­mung (“Raus­ge­hen und gucken”) ist ope­ra­tiv geschlos­sen (gebraucht ihre eige­ne Unter­schei­dung und legt sie auf die Welt drauf) und kommt nicht ran an die Wirklichkeit.

“Logi­sche Strin­genz”, wie oben zitiert, also imma­nen­te Kri­te­ri­en der Über­prü­fung (Sind die Argu­men­te plau­si­bel oder wider­sprüch­lich?), setzt sel­ber wie­der wis­sen­schaft­li­che Stan­dards und Unhin­ter­geh­bar­kei­ten vor­aus, wir kri­ti­sie­ren ja nicht bloß auf der Ebe­ne der Aussagenlogik.

Just die­je­ni­gen, die die post­mo­der­ne Wahr­heits­ver­nich­tung am meis­ten kri­ti­sie­ren, näm­lich wir Rech­ten, pro­fi­tie­ren am meis­ten von ihr. Denn ohne die rie­si­ge skep­ti­sche Bre­sche, die die Post­mo­der­ne geschla­gen hat, wäre der inzwi­schen wirk­lich brei­te Zwei­fel an der Wahr­heit der Main­stream­m­e­di­en undenkbar.

Nur auf die­sem gelich­te­ten Boden kann Wahr­heit erneut rekla­miert wer­den. Dies aber weder auf der Erkennt­nis­ebe­ne durch nai­ve “Set­zung” (“Hier sind die Fak­ten, dort die Lügen!”), noch auf der prag­ma­ti­schen Ebe­ne durch ehren­wer­ten Trotz (“Ich las­se mir die Wahr­heit nicht nehmen!”).

Son­dern durch etwas, das im rech­ten Lager mach­mal gar nicht so gut ankommt (defai­tis­tisch! theo­re­tisch! anti­ak­tio­nis­tisch! spal­tend!), näm­lich: refle­xiv wer­den. Mit Luh­mann – der wun­der­ba­rer­wei­se sowohl kon­ser­va­tiv als auch post­mo­dern ist – ist Refle­xi­on das “Re‑entry der Form in die Form”: nicht nur Unter­schei­dun­gen benut­zen, son­dern die Benut­zung noch­mal benut­zen. Wir kön­nen uns auf “Wahr­heit” beru­fen, die weder belie­big  – und damit sinn­los – ist, noch objek­tiv – und damit kon­text­frei – ist.

Refle­xiv wer­den heißt also, immer und immer wie­der mit­be­to­nen, erwäh­nen, erklä­ren, wozu wir Wahr­heit brau­chen. Das heißt nicht, nun jedes­mal län­ge­re phi­lo­so­phi­sche Erklä­run­gen min­des­tens der Län­ge die­ses Bei­trags zu brin­gen, son­dern schlicht zu sagen, daß Wahr­heit einen poli­ti­schen Sinn hat.

Daß wir ohne sie nicht wei­ter­kom­men im Kampf. Daß wir wis­sen, wie unglaub­lich fra­gil sie ist. Daß sie ihre Grün­de offen­le­gen muß, um nicht ein­fach das “Spiel­chen­spie­len­dür­fen der Guten” (Licht­mesz) bei gleich­zei­ti­ger Ideo­lo­gie­kri­tik an den Bösen zu legitimieren.

Daß wir stän­dig den eige­nen Wahr­heits­ge­brauch dekla­rie­ren. Nicht: stän­dig anzweifeln.

Caroline Sommerfeld

Caroline Sommerfeld ist promovierte Philosophin und dreifache Mutter.

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Kommentare (35)

Ein gebürtiger Hesse

15. Dezember 2016 10:30

Hochinteressanter Beitrag. Danke dafür. Aber können Sie es noch etwas anschaulicher machen, vielleicht mit einem Beispiel? "Nicht nur Unterscheidungen benutzen, sondern die Benutzung nochmal benutzen" - wie kann das an welcher Stelle aussehen? Und was heißt am Ende "deklarieren" - kundtun, apostrophieren, affirmieren? In was für einer Situation sähen Sie dafür Bedarf?

der Gehenkte

15. Dezember 2016 12:42

"Daß wir ständig den eigenen Wahrheitsgebrauch deklarieren. Nicht: ständig anzweifeln."

Schönes und brauchbares Paradox - denn die permanente Einforderung an sich selbst, der Wahrheit treu zu bleiben und sie von sich selbst zu fordern, verlangt natürlich ebenfalls den Dauerzweifel (auch uns/mir selbst gegenüber).

Umstürzend - gerade aufgrund seiner Offensichtlichkeit der Gedanke: "Just diejenigen, die die postmoderne Wahrheitsvernichtung am meisten kritisieren, nämlich wir Rechten, profitieren am meisten von ihr. Denn ohne die riesige skeptische Bresche, die die Postmoderne geschlagen hat, wäre der inzwischen wirklich breite Zweifel an der Wahrheit der Mainstreammedien undenkbar."

Den schreibe ich mir in mein Poesie-Album. Ein schönes Bsp. dafür, daß das Einfache oft am schwersten zu erkennen ist.

Ich interpretiere es so: Es gibt Zeiten der Setzung und es gibt Zeiten der (selbst)kritischen Reflexion. Die Schwierigkeit besteht darin, zu begreifen, wann was an der Zeit ist.

Bedenklich stimmend die Beschreibung: "daß "wissenschaftliche Beweise" auch einfach nicht mehr geglaubt werden können." Quo Vadis?

Winston Smith 78699

15. Dezember 2016 12:56

@ Ein gebürtiger Hesse

Vielleicht könnte das so aussehen, dass man (möglichst knapp und effizient) immer mitsagt: ich behaupte dies-und-das (etwa: "Die Invasion ist geplant und gewollt.") als Gegenthese zu einer Behauptung ("Die Bahnhofsklatscher und gar nicht die Kanzlerin selbst haben die sogenannten Flüchtlinge eingeladen. Wir wurden überrascht."), weil die von mir angegriffene Behauptung nachweislich manipulativ und verfälschend getätigt worden ist, weil sie anderen Aussagen auf eine bestimmte Weise widerspricht: den vorherigen Aussagen, als noch aufgerufen wurde. Das Wahrheits-System der anderen ist also hier inkonsistent - und ich folgere hieraus explizit unter Benennung der Regel (etwa per tertium non datur oder reductio ad absurdum) etwas. (Das wird mit Übung auch weniger umständlich klingen.)

Raskolnikow

15. Dezember 2016 12:58

Nach einer kleinen,
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Schmollperiode, die aufgrund des neuen SiN-Dessins für angemessen zu halten, ich mir erlaubte, gestatte ich mir, itzund wieder laut zu werden. Jedweder Neuerung per se abhold, musste ich streng an mich halten, nicht unflätig zu medisieren. Die Mühen, die es mich zum Beispiel im letzten Monat kostete, nach der Neuerwerbung eines Crayons dessen Mechanismus´ inne zu werden, sind schon kaum beschreibbar und nun dieses remontierte Netztagebuch ...
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Liebe Frau Sommerfeld, ich war versucht, einfach auszurufen: Was Sie schreiben, ist nicht wahr!, nur um des Effektes willen versteht sich. Aber wir wollen uns bemühen, die magnifike, neue Oberfläche mit Gehaltvollem zu bestellen. Nun denn hier mein armseliger Versuch:
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In diesem Artikel schreiben Sie von der Wahrheit, als sei sie eine recht simple Sache. Beide Seiten (Wir und Die) beschauten ein Ding und kämen aufgrund institutionalisierter Mechanismen (neuro-optische Voreinstellungen) zu verschiedenen Beschreibungen des gemeinsam betrachteten Objekts. Schaut also ein Linker auf einen Apfel, sieht er einen grünen Apfel. Ein Rechter konstatiert dagegen, die Frucht sei rot. Es ist nun, so Ihr Einwand, durchaus möglich, der Apfel wäre gelb oder, wie jenes legendäre Exemplar Schneewittchens, rot und grün. Es ist also entweder eine Aussage wahr, alle Aussagen wahr oder es ist keine Aussage wahr.
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Ich persönlich tendiere zu der Annahme, alle Aussagen wären wahr, wenn sie nur formuliert werden können. Aber, um nicht in die Mathematik abzuschweifen, und wie gerne würde ich dieses Thema mathematisch exemplifizieren, um eben nicht abzuschweifen, seien meine Einwände genannt.
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Es gibt unterschiedliche Komplexitäts- und Determiniertheitsgrade. Zwei plus Zwei gleich Vier, ist eine wahre Aussage. Es sind sehr wenige anderslautende Sätze denkbar. Wer hier mit Hugh Everett und Co. zweifelt, sei auf ewig ohne Handtuch und Erdnußflips in die Studierstube verbannt. Die Motivation der Caroline Sommerfeld x oder y zu tun, ist weitaus weniger determiniert; zahllose Aussagen sind denkbar. Bis zu einem nicht bestimmbaren Punkt auf dem Determiniertheitsgradienten ist Wahrheit eben durchaus sagbar.
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Sie nehmen den Faktor Zeit aus. Die Zeit ermöglicht zum Beispiel Geständnisse oder Resultate. (Massenvernichtungswaffen im Irak, Silvesterrandale in Köln) Zum Zeitpunkt A sind zahlreiche Sätze sagbar, also möglicherweise wahr. Zum Zeitpunkt B (postkonfessionell) deutlich weniger oder nur einer.
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Und der letzte, vielleicht gewichtigste, Einwand ist der unpassende Bezugsraum. Nicht allein, daß dieses Gerede von Fakten und das Daranklammern, als seien sie Schwimmhilfen, vollkommen kindisch ist, sondern, diesen Satz wollte ich schon immer mal schreiben, sie suggerieren den Menschen einfache Lösungen zu komplexen Sachverhalten.
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Ein Beispiel: Die Vergewaltigung einer Frau durch einen Mann, kann vermittels zahlreicher Fakten technisch und juristisch zweifelsfrei bewertet werden. Ein Richter sollte daraufhin kühl und emotionslos die Wahrheit ermitteln und in Folge sein Urteil über das Täterindividuum fällen. So weit, so gut.
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Links und Rechts sind aber politische Begriffe, wir befinden uns also im politischen Raum. Wenn für den Richter die Tatsache, daß das Täterindividuum Peter Altmaier ist, keine Rolle spielen darf, ist diese Personalie im politischen (und journalistischen) Umfeld selbstverständlich relevant, formulierbar, wahr. Und das ist nicht gefühlt, diffus oder postfaktisch relevant, weil die Mehrzahl der Vergewaltiger nicht CDU-Generalsekretäre sind, sondern es ist ein gewichtiges Momentum. Genauso wird der Vater des Opfers, zu dem Fall andere Aussagen treffen als wir und der Richter. Fakten bilden eben nur einen Teil der Wahrheit ab. Die Setzungen (GK) sind unleugbar.
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Conclusio: Rechts sein bedeutet, entsetzt sein, wenn der Richter die Personalie Altmaier straferschwerend in Rechnung stellt und der Vater für mildernde Umstände plädiert. Links sein, bedeutet, entzückt sein, wenn der Richter die Personalie Altmaier straferschwerend in Rechnung stellt und der Vater für mildernde Umstände plädiert. Was davon nun der Wahrheit entspricht oder ihr näher kommt, ist mir eigentlich egal.
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Natürlich macht es das am Ende nicht einfacher. Auch der Harmonie des Weltalls kommen wir damit nicht näher, sondern nur seiner unvermeidlichen Zerstörung, wie Sie sinnreich anmerken. Lügenkritik braucht Wahrheit? Das ist mir eine Nummer zu groß! Deshalb breche ich meine Rodomontade hier ab und schweige. Das Maul halten, ist sicher nicht der schlechteste Rat unter all den Beflissenen. Was sollte man sonst auch tun?
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Vielleicht schmuggeln wir für den Vater ein Beil in den Gerichtssaal ...
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Ich honoriere später,
R.

der Dachs

15. Dezember 2016 13:47

Natürlich bedarf es der Reflexion als sozusagen eines Reinigungsinstrumentes vom eventuellen Irrtum.
Ein wesentlicher Aspekt dabei ist die Konsistenz des Gedankens, die Verbindbarkeit aller offenbar (offenbar!) zusammengehörigen Elemente.
Aber ganz am letzten Ende läuft es bei Wahrheit immer auf einen Akt des Glaubens hinaus. Für wahr kann ich nur halten, was für mich unmittelbar evident, offenbar, nicht weiter bezweifelbar ist.
Das freilich mit einem zeitlichen Moment - zu einem späteren Zeitpunkt können neue Zweifel kommen.
Das vernichtende Moment des konstruktivistischen, postmodernen Denkens ist, daß es sich dabei um eine neue Variante des Skeptizismus handelt. Und der scheitert bekanntlich seit 2000 Jahren an der Tatsache, daß er alles in Zweifel zieht - aber nicht sich selbst. Daß er behauptet, es sei absolut wahr, daß es keine absolute Wahrheit geben könne.
Oder anders: Man kann nicht davon ausgehen, daß eine jetzt als wahr taxierte Erklärung immer als wahr taxiert bleiben wird. Aber man kann mit Sicherheit davon ausgehen, daß das konstruktivistisch-postmoderne Denken höchstens zufällig wahre Erklärungen liefern kann - weil es schon programmatisch inkonsistent ist.

quarz

15. Dezember 2016 14:47

@Dachs

"letzten Ende läuft es bei Wahrheit immer auf einen Akt des Glaubens hinaus".

Die Verschmelzung von Semantik und Episteme halte ich für die intellektuelle Ursünde schlechthin, den Drachen, der zu allen Zeiten von den jeweis zeitgenössischen Georgsritter bekämpft werden musste: Platon gegen Protagras, Frege gegen Kant, Husserl gegen Husserl, Putnam gegen Dummett, Putnam gegen Putnam ...

Für den Wandkalender:
"A writer who says that there are no truths, or that all truth is ‘merely relative,’ is asking you not to believe him. So don’t.” (Roger Scruton)

15. Dezember 2016 15:19

@ Winston Smith:

Danke für die Anschaulichmachung. Ich sehe Land ...

 

Der_Jürgen

15. Dezember 2016 16:08

Ich würde "Wahrheit" pragmatisch als das bezeichen, was empirisch nachweisbar ist. Wie @Raskolnikow schreibt, gibt es gegen die Aussage "Zwei und zwei sind vier" keine rational begründbare Widerrede. Selbst die verbohrtesten linken Traumtänzer anerkennen dies im täglichen Leben.

 

Eine Professorin für Gender Studies kann im Hörsaal noch so närrischen Unsinn verzapfen und noch so oft darauf beharren, dass Knaben und Mädchen nicht als solche geboren, sondern durch die Gesellschaft dazu gemacht werden (was intellektuell auf der Stufe der Behauptung "zwei und zwei sind fünf" liegt) - wenn sie sich ans Steuer ihres Autos setzt, MUSS sie rational handeln, um unerfreuliche Folgen zu vermeiden. Will sie bremsen, so MUSS sie auf die Bremse treten und nicht aufs Gaspedal; will sie nach rechts abbiegen, MUSS sie das Steuerrad nach rechts drehen und nicht nach links, sonst baut sie bald einen Unfall. Überfährt sie dabei einen Menschen und kommt dafür vor den Richter, so wird sich dieser schwerlich durch ihre Aussage "Links und rechts sind keine objektiven Realitäten, sondern soziale Konstrukte" beeindrucken lassen.

 

Hier zwei Beispiele heutzutage als "wahr" geltender Thesen, die sich mühelos als Lügen demaskieren lassen. 1) Die offizielle These der Anschläge vom 11. September 2001 ist zwangsläufig eine Lüge, weil sie den Naturgesetzen widerspricht. Dies zeigt sich insbesondere an dem dritten, am späten Nachmittag jenes Tages eingestürzten Wolkenkratzer, Building 7, der "infolge von Bürobränden" innerhalb von siebeneinhalb Sekunden annähernd im freien Fall einstürzte, obgleich kein Flugzeug ihn getroffen hatte.  2) Die von der Schwulenlobby und ihren Werbetrommlern propagierte These, Homosexualität unter Männern sei natürlich und unschädlich, lässt sich durch Statistiken widerlegen, die erhärten, dass sie im Schnitt fast zwei Jahrzehnte weniger lang leben, um das Vielfache öfter an gewissen Krankheiten leiden und vier- bis sechsmal öfter Selbstmord begehen als Heterosexuelle. (Jeffrey Satinover, "Homosexuality and the Politics of Truth", 1996. Für lesbische Frauen kenne ich keine Statistiken, was nicht heisst, dass es sie nicht gibt.)

 

Als Lügen sind auch Aussagen einzustufen, die zwar physikalisch und logisch im Prinzip möglich wären, jedoch nicht durch Belege untermauert werden. Wenn die "freien Medien der freien Welt" die russische Luftwaffe beschuldigen, in Aleppo Krankenhäuser zu bombardieren, müssen sie erstens die Namen und die Lage der betreffenden Krankenhäuser nennen und, falls diese wirklich bombardiert wurden, nachweisen, dass die Russen die Schuldigen sind. Da die Medien dies nicht können, ist davon auszugehen, dass ihre Meldungen poltisch motivierte Lügen sind. 

Th Wawerka

15. Dezember 2016 16:40

Die Rede vom Ende der großen Erzählungen ist selbst eine Erzählung, und die Rede davon, dass es keine Wahrheit gebe, stellt sich selbst als Wahrheit dar.

So viel als Vorspruch.

Wahrheit im philosophischen Sinne ist reflexive oder meinethalben auch "konstruierte" Wahrheit, jedenfalls ist sie etwas Sekundäres. Davor liegt die lebensweltliche, die primäre, die "erfahrene" Wahrheit. Man hat ja ein Gefühl dafür, ob etwas wahr ist oder nicht; viel schwieriger ist es freilich, das Gefühlte auch so zu formulieren, dass Andere damit übereinstimmen.

Mit der Behauptung, es gebe keine Wahrheit, scheint es sich mir ein bisschen so zu verhalten wie mit Englands Seenahme: der Anspruch, die Meere gehörten keinem oder allen ist einfacher durchzusetzen als der Anspruch, sie gehörten England - praktisch gehören sie aber dem, der sie befahren und durch seine Flotte beherrschen kann, also England. Und die Behauptung, es gebe keine Wahrheit, ist sehr förderlich für den, der die herkömmliche lebensweltliche Wahrheit ersetzen will durch seine eigene Wahrheit.

Die herkömmliche lebensweltliche Wahrheit ist, dass der Mensch sterblich ist und sich daher um sein Leben bemühen muss, dass er Glied einer Generationenkette ist und daher den Alten und den Jungen gegenüber verantwortlich ist, dass es kein Schlaraffia gibt und er seine Existenz gründen muss, also für Wohnraum, Nahrung und Wärme sorgen muss, dass er aber gleichwohl Nutznießer des Gewachsenen, Gegebenen und vor ihm Geschaffenen ist, dass er der Anderen bedarf, um selbst zu sein, und dass er vor wieder Anderen auf der Hut sein muss, weil Geben zwar seliger als Nehmen, Nehmen aber nun mal einfacher als Geben ist. Und dass sich an diesen Kontinuitäten auch nie etwas ändern wird. Diese Wahrheit ist lebensweltlich und zugleich metaphysisch, insofern sie vom Menschen als sinnvoll angesehen wird. 

Wer derlei bestreiten will, weil er die Folgen nicht gutheißt (nämlich die Orientierung an dieser Wahrheit und Anpassung an diese, was man also gemeinhin "Konservatismus" nennt), ist schlauer, wenn er sagt, es gebe keine Wahrheit, Wahrheit sei immer konstruiert (was sie auf der sekundären, reflexiven Ebene ja tatsächlich ist), als wenn er sagte: "Diese Wahrheit stimmt nicht, meine Wahrheit stimmt." Damit nimmt er dem großen "Aber" erst mal schön den Wind aus den Segeln ... um mal bei den maritimen Metaphern zu bleiben.

Denn es ist ja in der Tat nicht so, dass wir seit der Erklärung vom Ende der Wahrheit nun in einem wahrheitsfreien Raum lebten - Wahrheit nimmt nunmehr der Egalitarismus für sich in Anspruch, aber er formuliert diesen Anspruch eben nicht als Anspruch, sondern er kommt im Schafspelz und versichert vielmehr, dass es gar keine Wahrheit gebe. Für den westlich sozialisierten "modernen Menschen" ist es auf der primären, vorreflexiven Ebene schlicht und einfach wahr, dass alle Menschen gleich sind (auch wenn er gar nicht recht formulieren kann, was das denn nun genau bedeuten soll). Unsereins stellt mit seinem Zweifel an dieser Behauptung und mit unserer Kritik an ihren Folgen einen tief treffenden Angriff auf das Wahrheitsempfinden des westlich sozialisierten Menschen dar, und ebenso tief trifft es seine Moral. Daher der Hass und die Abscheu: instinktive Reflexe auf die Verletzung des Wahrheits- und des Moralgefühls. Soll man ihm das zum Vorwurf machen?

Daher auch die uns unbegreifliche Tatsache, dass man Vergewaltigern und Mördern lieber einen psychischen Defekt attestiert wie unlängst wieder im Fall der Maria Ladenburger, denn wenn alle gleich sind, muss dieser Verbrecher so sein wie wir, im Grunde ein guter Mensch, nur eben seelisch deformiert. Ein Kranker. Foucault hätte seine Freude an unseren Tagen.

 

       

 

Monika

15. Dezember 2016 16:48

Nach Ende des 20. Jahrhunderts ist eine vor-konstruktivistische Position eigentlich nicht mehr möglich, "Wahrheit" wird gemacht und nicht gefunden, und dieses Wahrheitmachen (Nelson Goodman sprach gut postmodern von den Ways of worldmaking) erzeugt einen blühenden Relativismus.

Ich bin der Weg die Wahrheit und das Leben

Joh 14,16

Da eine vor-konstruktivistische Position eigentlich nicht mehr möglich ist, erhebe ich meinen christlichen Glauben zu einem Konstrukt. Mit diesem Konstrukt bin ich bis jetzt allerdings am besten durch das Leben gekommen.

In den besten Momenten schien es mir gar, mein Glaube sei kein Konstrukt, sondern ziele direkt in die Wahrheit des Lebens. Deshalb verneinenich den blühenden Relativismus. 

Ich werde in meinem Leben kein Buddhist mehr und auch kein Moslem.

Und Paul Coelho kann mir erst recht gestohlen bleiben mit seiner Wellnessreligion, jawoll!

Heinrich Brück

15. Dezember 2016 16:50

An wessen Händen klebt das Blut von Maria L.? Lügenkritik aus dieser Perspektive.

Meine Wahrheit gefällt mir nicht. Jedenfalls nachdem ich die Traueranzeige las; denn wer so einen Vater hatte, braucht sich über seinen Vergewaltiger und Mörder nicht mehr beschweren. Lügenkritik durch Lügenleben geht nicht; man lese die Traueranzeige.

Das Lügenleben macht dem Mörder die Tür auf, kann mit der Wahrheit der offenen Grenze überführt werden. Lügenkritik braucht den Tod.

Jede Strafe des Mörders ist Hohn der Wahrheit. Wer die Strafe fällt, hat sie auch verbrochen. Der Mörder ist das sichtbarste Zeichen der Vertuschung der geplanten Mordabsichten.

Mörder und Unschuldige in einer Zelle, einem Nichtstaat ohne Grenzen. Wer ist der Mörder, wer der Unschuldige? Und wer ist das Opfer?

Die Rechnung ist in diesem Fall nicht aufgegangen. Geplant war eine andere Rechnung.

Die Wahrheit ist eine Pickelhaube an der Grenze... Die Lüge ist zu diesem Plan nicht bereit.

herbstlicht

15. Dezember 2016 19:24

Der_Jürgen schrieb

``Ich würde "Wahrheit" pragmatisch als das bezeichen, was empirisch nachweisbar ist.''

Viele Glück dabei!

``Wie @Raskolnikow schreibt, gibt es gegen die Aussage "Zwei und zwei sind vier" keine rational begründbare Widerrede.''

Doch! Stellen Sie auf eine "extrem" empfindliche Waage eine große Wanne mit zwei Zentner Kartoffeln darin. Schütten Sie nochmals zwei genauestens abgewogene Zentner Kartoffel dazu. Dann zeigt Ihnen die Waage etwas weniger als vier Zentner an! (Massendefekt).

``Selbst die verbohrtesten linken Traumtänzer anerkennen dies im täglichen Leben.''

Die Gewißheit der Arithmetik ist eine Konsequenz des axiomatischen Aufbaues der Zahlensysteme. Siehe hierzu

Edmund Landau, Grundlagen der Analysis

Ein Fremder aus Elea

15. Dezember 2016 20:42

Vernünftig zu sein ist nicht dasselbe wie allwissend.

Eine Einsicht besteht darin zu erkennen, daß eine bestimmte Beschreibung auf eine bestimmte Lage zutrifft. Wer seine Begriffe geklärt hat, weiß, was er weiß, und unter der Voraussetzung einer Welt, welche wir als Menschen teilen, und der Voraussetzung, daß wir als Menschen erkenntnismäßig gleich gebaut sind, was natürlich so nicht stimmt, Beispiel Farbenblinde, ist dieses Wissen allgemein verbindlich.

Nur eben auch sehr bruchstückhaft.

Aber Bruchstücke genügen oftmals, um sich einen Reim zu machen.

Wenn Hillary Clinton die erste Pfählung seit Vlad Tepes mit den Worten: "We came, we saw, he died. Ka-ha-ha-ha-ha." kommentiert, weiß ich, daß die Leute, welche sie um alle Kosten ins Amt hieven wollen, keine Menschenfreunde sind.

Die Sache ist die: Alles was wahr ist, stimmt mit allem anderen, was wahr ist, überein, aber für eine Lüge ist es sehr schwierig den Schein völliger Übereinstimmung mit dem Offenbaren zu erreichen, irgendwo lugt sie immer hervor, irgendwo zeigt sie sich.

Sven Jacobsen

15. Dezember 2016 21:44

Ärgerlicherweise ist die „Wahrheit“ eine ziemlich untreue Begleiterin, wenn man sie als die Übereinstimmung von Vorstellung und Wahrnehmung begreift. Untreu insofern, da die „Wahrheit“ bei der Interpretation von Ereignissen beispielsweise Rotgrünen auf der einen Seite und Rechtskonservativen auf der anderen Seite treu die Hände reicht. Beide fühlen sich vorzüglich verheiratet. Da es leider (oder doch zum Glück?) bis heute nicht gelang, die absolute Wahrheit zu definieren, müssen wir uns Auswege suchen. Auch auf die Gefahr hin, von Caroline Sommerfeld belächelt zu werden, würde ich es vorziehen, „Wahrheit“ getreu dem Motto von Pippi Langstrumpf zu verstehen: „Ich mache mir die Welt, wie sie mir gefällt.“ Mir scheint, dass wir alle das so halten. Man sollte übrigens den Reflexionsprozess hinter dieser naiv wirkenden Formulierung nicht unterschätzen. Individuelle Prägungen, Kenntnisse und Erfahrungen sorgen dafür, dass wir die Wirklichkeit so verstehen WOLLEN, wie es uns zureicht. Anders kann ich mir die Gegensätze im Alltag nicht erklären.

Waldgänger aus Schwaben

15. Dezember 2016 22:24

Die Frau Sommerfeld nähert sich von oben meinen Verständnis-möglichkeiten. Deshalb gestatte ich mir hier einen kleinen Beitrag. Das Feld in dem konstruierte Wahrheit und Wirklichkeit aufeinander treffen ist die Ökonomie.

Dort scheitern für gewöhnlich linke Hirngespinste.

Unsere Neubürger kosten uns 20 Milliarden pro Jahr, wie heute der focus erstaunt feststellte. Selbst wenn die Seehofer'sche Obergrenze je käme, kämen noch 5 Milliarden pro Jahr obendrauf- jedes Jahr.  Wohlgemerkt das sind die direkten Kosten. Da kommen noch indirekte volkswirtschaftliche Kosten dazu, wie höhere Krnakenkassebeiträge, mehr Polizei etc.

Solange Steuereinnahmen sprudeln und Zinsen für neue Schulden bei Null liegen, wäre diese stetige wachsende Belastung noch einige Jahre zu stemmen. Aber schon seit biblischen Zeiten ist bekannt, dass die Ökonomie in Zyklen verläuft. In der nächsten Rezession werden Steuern zurückgehen und die  Staatsausgaben steigen. Und die Zinsen, die werden stiegen müssen, um ene importierte Inflation abzuwehren.

Und dann? Woher sollen die Milliarden für die Neubürger kommen. Der größte Ausgabe-Posten sind jene, die nicht mehr lange hier leben (Merkel-Sprech für Renter). Mit den treusten CDU-Wählern wird es wenigstens die richtigen treffen.

Scheitern linken Utopien an ökonomischen Fakten wird es hässlich. Dann werden Schuldige gesucht. Es gibt ja schon einen: Trump, also die die Rechtspopulisten, also die AfD, also wir. Trump, also wir Rechtspopulisten, wir werden die Schuldigen sein, wir werden die Wirtschaftskrise angerichtet haben.

Caroline Sommerfeld

16. Dezember 2016 00:40

@ Monika: Ihren Glauben brauchen Sie beileibe nicht "als Konstrukt zu setzen" - der Punkt ist ja gerade, daß dieser Schmäh "Wir dürfen nach der vollständigen Durchrelativierung und Konstruktivierung xy nimmer behaupten" eben von rechts komplett infrage gestellt wird. Natürlich dürfen wir! Substantialismus ist eine Tugend!

Leider haben Tugenden es aber schwer, sind sie mit Kant doch ein beständiger Kampf gegen das Böse im Menschen. Der pragmatische Sinn des Glaubens an Wahrheit ist der, daß  wir sie verdammt noch mal brauchen. Das ist erkenntnistheoretisch ein ganz anderes Thema als die ewige Frage nach der möglichen Wirklichkeitserkenntnis durch Geist oder der Beweisbarkeit mathematischer Sätze.

Beispiele fürs re-entry? Das fällt doch uns allen sehr leicht, machen wir ständig, komm gerade vom IB-Stammtisch, da rennt das Gespräch über weite Strecken so. Von Fakten zu sprechen und im gleichen Satz einen ironischen Kommentar zum "Postfaktischen" drin zu haben, oder das Sichbeziehen auf bspw. Trump oder Putin oder sonstwen, der gerade so richtig dämonisiert wird, und die eigene Positivsetzung mit der "Dämonisierung" in einem Satz zu äußern. Oder Sätze zu beginnen mit "Ich als alter Verschwörungstheoretiker ...". Das hat genau den postmodernen Dreh, wie Umberto Eco in der "Nachschrift zum Namen der Rose" schrieb, man könne heute unmöglich mehr sagen "Ich liebe dich", sondern: "Wie der Held soundso in xy sagt:'Ich liebe dich!'.

Ich liebe die Wahrheit.

Monika

16. Dezember 2016 09:55

@Thomas Wawerka

Danke für die klaren und klärenden Worte.

Liebe Frau Sommerfeld. Mit der Setzung des Glaubens als " Konstrukt" wollte ich natürlich provozieren. Und zeigen, dass Wahrheit unter verschiedenen Aspekten betrachtet werden kann: Lebenswahrheit, philosophischer und theologischer Wahrheitsbegriff, Wahrheit im wissenschaftlichen Sinn etc.Eine wissenschaftliche Theorie ist weder wahr noch falsch, allerfalls brauchbar. Umso verrückter, dass sich so viele Menschen ganz ernsthaft mit der Gendertheorie befassen. Als wenn das die Wahrheit wäre.

Die Verwirrungen sind zahlreich. Gut gefällt mir von Dostojewskij:

Wenn irgendjemand mir bewiese, daß Christus außerhalb der Wahrheit stand, und es w i r k l i c h so war, daß die Wahrheit außerhalb von Christus war, so würde ich lieber bei Christus bleiben als bei der Wahrheit.

In theologische Sprache übersetzt:

Man glaubt nicht an eine Lehre, sondern an einen Menschen.

Da Sie Umberto Eco erwähnen, der alles zu einer Erzähling ( neudeutsch: Narrativ) macht, noch folgendes  Zitat von ihm, dem Agnostiker:

Selbst wenn Christus nur das Subjekt einer großen Erzählung wäre - die Tatsache, daß diese Erzählung von ungefiederten Zweibeinern, die nur wissen, daß sie nichts wissen, erdacht und gewollt werden konnte, wäre ebenso wunderbar ( wunderbar geheimnisvoll), wie daß der Sohn eines wirklichen  Gottes  wahrhaftig Mensch geworden sein soll .

Das finde ich nun eben gerade nicht so wunderbar geheimnisvoll. Ich liebe das wunderbar Geheimnisvolle...

Irrlicht

16. Dezember 2016 10:02

Auf die Gefahr hin, fortan als griesgrämiger Kritiker Ihrer philosophischen Traktate aus postmoderner Sicht zu gelten: Die Aussage "nach Ende des 20. Jahrhunderts ist eine vor-konstruktivistische Position eigentlich nicht mehr möglich." ist ein postmoderner Mythos und eine Trivialisierung der Diskussionen um den Wahrheitsbegriff. Selbst extreme Formen der Formel von der adaequatio intellectus et rei werden vertreten, z.B. von John Searle, ein amerikanischer Philosoph und zusammen mit John Austin Begründer der Sprechakttheorie, nach dem ein Satz s genau dann wahr ist, wenn er mit der Tatsache, dass s, übereinstimmt. Umgekehrt ist Heidegger, der in SZ die Charakterisierung des Wahrheitsbegriffs über die adaequatio ablehnt, Welten von einer postmodernen/konstruktivistischen Position entfernt.

Der postmoderne Rorty in diesen Fragen kein guter Gewährsmann, zumal ich nicht denke, dass Sie sich auf Ihn für eine konstruktivistische Position überhaupt beziehen können. In einem seiner Texte (müßte ich aus dem Gedächtnis kramen) erklärt er den Wahrheitsbegriff für undefinierbar und lehnt sowohl "metaphysische" Begriffsbestimmungen wie die adaequatio als auch instrumentalistische/konstruktivistische ab. Rorty ist radikaler Anti-Metaphysiker (und Anti-Semantiker, etc.), aber kein Konstruktivist.

Typisch für (radikale) Konstruktivisten ist auch die systematische Nicht-Unterscheidung zwischen der semantischen Frage nach der Bedeutung von "Wahrheit" und der erkenntnistheoretischen nach der Rechtfertigung von Meinungen/Überzeugungen/Sätzen/Propositionen, die dann zu eigenartigen Hervorbringungen wie 'Unmittelbare Wahrnehmung ("Rausgehen und gucken") ist operativ geschlossen (gebraucht ihre eigene Unterscheidung und legt sie auf die Welt drauf) und kommt nicht ran an die Wirklichkeit.' samt implizierter Selbstanwendungsparadoxa führt. Können Sie den genauen erkenntnistheoretischen Status dieses Satzes erläutern?

Um zum Schluss zum pragmatischen Aspekt: Die postmoderne Explikation "Wahrheit hat einen politischen Sinn", der Sie anhängen, ist in Deutschland nicht anschlussfähig. Selbst Linksliberale geben sich einen (allerdings leicht abblätternden) vernunftbetonten Anstrich, z.B. läßt sich Habermas "Theorie des kommunikativen Handelns" als Versuch der Begründung der Vernunft auf sprechaktheoretischer Grundlage lesen. Manche Linksliberale reagieren auf postmoderne Anwürfe überaus allergisch.

Ein Fremder aus Elea

16. Dezember 2016 11:18

Sven Jacobsen,

das Bild, welches wir uns von der Welt machen, folgt unserem Wesen, und in unserem Wesen liegt auch unser Wille, d'accord.

Es macht aber einen grundlegenden Unterschied, ob ich eine subjektive Weltsicht habe, oder ob ich mich der Verantwortung entledige, unliebsame Betrachtungen anzuhören und zu bedenken.

Letzteres ist, wenn Sie es einmal kurz bedenken, notwendigerweise das Gegenteil von ersterem, denn nur wenn ich eine überindividuelle Weltsicht mit anderen teile, habe ich Macht und Motivation unliebsame Betrachtungen nicht anzuhören und zu bedenken. Auf meine eigene individuelle Weltsicht gestellt, passe ich mich lieber den Gegebenheiten an, als blind an den Felsen des Wirklichen zu zerschellen.

Aber wenn ich Teil einer Gruppe bin, deren Einigkeit auf einer geteilten Weltsicht beruht, werde ich den Verlust der Einigkeit gegen die fehlerhafte Behandlung der Wirklichkeit abwägen, was nebenbei gesagt ja auch der Grund ist, warum es immer heißt, daß Glauben und Wissenschaft sich nie ins Gehege kommen.

Bran

16. Dezember 2016 11:48

Wie alle Texte von C. Sommerfeld ist auch dieser sehr interessant.

Als eher einfaches Gemüt, kann ich aber aus anekdotischer Erfahrung sagen, dass Zweifel bei meinem Rechts-Werden durchaus ihren Platz hatten, aber real erlebbare Tatsachen gaben den letztlichen Ausschlag. Wenn man nämlich links ist und im Strassenkampf in der vordersten Reihe steht, dann einen Haufen nicht so Linker auf sich zurennen sieht, muss man früher oder später erkennen, dass die Wahrheit nicht ausdiskutierbar, nicht relativ und kein schwammiger Begriff ist. Wenn ich stehen bleibe muss ich kämpfen und dann werde entweder ich oder ein Anderer fallen. Dazwischen gibt es gar nichts und die harte Wahrheit des Strassenpflasters und der geballten Faust ist unausweichlich. Ganz gleich verhält es sich in den meisten Vollkontakt-Kampfsportarten.

Ich will mich nicht auf das dünne Eis des Nur-der-Stärkste-überlebt hinauswagen, aber Recht wird nun einmal durch Stärke gesetzt. Und hier sehen wir dann letztlich durch das ganze Dickicht der Philosophie auch eine der grossen, grundlegenden Wahrheiten sowohl der Politik als auch des Lebens im Allgemeinen: Macht, Kraft und Stärke sind unleugbar wahr und schaffen Tatsachen, die niemand einfach abstreiten kann. Ein Meteoreinschlag, ein Vulkanausbruch oder ein Tsunami sind nicht relativ in ihrer Auswirkung für den Menschen. Sie sind zerstörerisch und als solches nicht sehr relativ.

All die hier hochgeschätzten Philosophen in Ehren, aber als das eben schon erwähnte einfache Gemüt bleibe ich doch meistens bei Machiavelli hängen. Die meisten anderen Überlegungen sind zwar als intellektuelle Übungen reizvoll, erscheinen mir aber doch reichlich unpraktisch.

Fritz

16. Dezember 2016 12:02

 Haben sie sich mal mit EvolutionärerErkenntnistheorie beschäftigt. Es gibt da ein gutes Buch von Konrad Lorenz: Die Rückseite des Spiegels, in dem er darlegt, dass sich das menschliche Erkenntnisvermögen aqäquat nur im Zusammenhang von natürlicher Auslese erklären lässt. Wer die Wahrheit nicht so erkennt, wie sie wirklich ist, wird bald durch Fressfeinde aus dem Genpool entfernt. So einfach kann das sein.

Die ganze philosophischen Spekulationen von Platon bis Rorty sind an sich ziemlich überflüssig.

quarz

16. Dezember 2016 13:32

"Wer die Wahrheit nicht so erkennt, wie sie wirklich ist, wird bald durch Fressfeinde aus dem Genpool entfernt."

Das ist gar nicht so selbstverständlich wie es auf den ersten Blick erscheinen mag. Evolution setzt nämlich ihren Hebel an den "four F's" an, wie es Patricia Churchland scherzhaft formuliert hat: "feeding, fleeing, fighting, and reproducing." Etwas entscheidungstheoretischer formuliert: das Verhalten, das im überlebensnachteiligen Fall evolutionär ausgemerzt wird, ist keine Funktion des Wahrheitswertes des Glaubens. der Evolutionäre Effekt wirkt also nicht auf diesen zurück. Alvin Plantinga hat diesbezüglich ein inzwischen viel diskutiertes Argument formuliert, das "evolutionary argument against naturalism".

Übrigens hatte schon Darwin diesbezüglich bohrende Zweifel:

"But then with me the horrid doubt always arises wether the convictions of man's mind, which has been developed from the mind of lower animals, are of any value or at all trustworthy. Would anyone trust in the convictions of a monkey's mind, if there are any convictions in such a mind?"

 

Winston Smith 78699

16. Dezember 2016 14:54

@ Caroline Sommerfeld

Ihre Beispiele für "Re-Entries" verkomplizieren durch Brechung und Selbstironie. Damit bedient man sich zwar des Tricks des Hofnarren zur Immunisierung, kann aber ebenso wie dieser auch einfach übergangen werden, hat ja selbst damit angefangen, nicht ernstgenommen werden zu wollen. Kann es nicht eine Art schlagender Evidenz geben? - Das ist keine rhetorische Frage. Mit einem Professor saß ich mal über der Besprechung von schwierigen Lösungen zu einer Logikklausur. Jemand behauptete, daß ein Ding durch Bewegung seinen Ort ändern müsse und der Professor sah nicht, welches Problem ich damit hatte. Zu faul zum Erklären mit Worten griff ich nach dem Tintenfaß und drehte es am Ort um die vertikale Achse. Was besseres als das Beispiel fällt mir gerade nicht ein. Die kleinen Buddhamönche in Tibet legen so einen Ausfallschritt hin und klatschen lachend in die Hände, wenn sie ein Argument im Übungsdisput besonders gut finden - endgültig, keine Erwiderung von einer Labertasche mehr zulassend. Da knallt die Wahrheit.

t.gygax

16. Dezember 2016 17:25

Jesus antwortete:" Du sagst es. Ich bin ein König. Ich bin dazu geboren und in die Welt gekommen, dass ich für die Wahrheit zeugen soll. Wer aus der Wahrheit ist, hört meine Stimme.

Da sprach Pilatus zu ihm: "Was ist Wahrheit?"

Johannesevangelium, 18, 37f.

An Eingang der Freiburger Universität war einmal ein Schriftzug zu lesen: "Die Wahrheit wird euch frei machen".

Das hat man in Freiburg -und nicht nur dort- gründlich vergessen.

Bran

16. Dezember 2016 19:51

Gygax: Ich fand Pilatus' Entgegnung immer hochspannend. Aber letztlich war sie auch nur Sophisterei. Am Ende war die Wahrheit, dass Jesus bis heute unsterblich blieb, dass Pilatus aber die Macht hatte, seine Kreuzigung zu veranlassen und sein Blut fliessen zu lassen, weil er den Pharisäern nicht ans Bein pinkeln wollte.

Am Ende jedes Philosophenkränzchens ist Wahrheit Blut, Schweiss, Tränen, Kampf und Überleben. Manchmal auch Freude und Liebe und Ewigkeit.

Bran

16. Dezember 2016 19:57

Gygax: Ich fand Pilatus' Entgegnung immer hochspannend. Aber letztlich war sie auch nur Sophisterei. Am Ende war die Wahrheit, dass Jesus bis heute unsterblich blieb, dass Pilatus aber die Macht hatte, seine Kreuzigung zu veranlassen und sein Blut fliessen zu lassen, weil er den Pharisäern nicht ans Bein pinkeln wollte.

Am Ende jedes Philosophenkränzchens ist Wahrheit Blut, Schweiss, Tränen, Kampf und Überleben. Manchmal auch Freude und Liebe und Ewigkeit.

quarz

16. Dezember 2016 22:34

"Kann es nicht eine Art schlagender Evidenz geben ... Die kleinen Buddhamönche in Tibet ... "

Das gibt's auch im Westen. G. E. Moore pflegte die Existenz der Außenwelt zu beweisen, indem er seine Fäuste in die Luft streckte: "Hier sind zwei Fäuste" und darauf verwies, dass es also mindestens zwei Objekte in der Außenwelt und folglich die Außenwelt gab.

Winston Smith 78700

17. Dezember 2016 02:28

@ quarz

Interessant für mich: Sie haben (wie damals der fachlich hervorragende und eigentlich etwas rechthaberische Professor auch) beim Tintenfaß nicht nachgehakt, obwohl das doch zunächst ein Leichtes wäre, mit Teilchen außerhalb er Mitte, die sich ja doch bewegen, oder so. Darauf wollte ich hinaus (und deswegen wohl habe ich mir die Szene gemerkt: weil ich ich ihrer schäme): Sie ahnen natürlich, dass man das Spiel mit dieser Denkweise von der Rotation dann weitertreiben kann und man irgendwann z. B. bei Quanten landet, wo die Begriffe versagen. So scheint es Argumente oder Äußerungen zu geben, wo man sich die Verlängerung des Streits wie eine Schachpartie ausrechnet und diesen am Ende gar nur aus Klugheit sein läßt wie eine freudlose, kunstfreie Abnutzungsschlacht.

Eine andere Erklärung: Letztlich hatte ich mit der Rotation wohl theoretisch eher unrecht, aber die sinnliche Ausführung wirkte überrumpelnd - schlagend evident eben, gespeist aus einer andern Quelle von "Wahrheit". Die (hier delikat doppelsinnig erwähnten) Fäuste von Moore oder Samuel Johnsons schmerzhafter Fußtritt zur Widerlegung von Berkeley könnten dazugehören, und natürlich die Aktionen von dem Hündischen aus der Tonne. Das ist natürlich einerseits weder die allerfeinste Art, noch sind es aber andererseits lediglich eristische Tricks. Und es darf nicht albern werden, ist auch nur als Denkanstoß gemeint, wie Argumente bildlich und "narrativ" gemacht werden könnten. Vielleicht Sommerfeld letztlich doch recht mit ihren entwaffnenden "Twists", die mit Sprachtricks von Verkäufern verwandt sein konnten.

Vielleicht ist ja mittlerweile auch @ Dem gebürtigen Hessen noch was eingefallen. Dem gegenüber wollte ich noch die sogenannte "dialogische Logik" erwähnen, mittels der man Beweise richtiger Sätze in überzeugende Gesprächsführungen übertragen kann (anders nochmal als mit sokratischer Methode). Damit läßt man den (dialogfähigen und dialogbereiten) Gesprächspartner an der Überzeugungskraft der eigenen Position sogar noch mitarbeiten, guten Willen vorausgesetzt. Sklavisch muß man sich an so ein Schema ja nicht halten, sollte sich aber in die Methode schon hineingedacht haben für ein erübtes Gefühl, wo und wie man jeder Stelle fragen könnte (nicht muß). Angesichts der allgemein üblichen Phrasendrescherei ist man damit wohl den meisten Gegnern schon technisch überlegen. Gestern bei Maischberger war übrigens der als Dünnbrettbohrer bekannte Precht für mein Gefühl doch der einzige, der überhaupt argumentiert hat, zumindest fiel er mir damit auf.

Dietrich Stahl

17. Dezember 2016 11:38

Eine Beitrag, der tiefer geht, liebe Caroline Sommerfeld, Sie sprechen Wichtiges an.

Für jeden, der sich geistig entfalten möchte, ist Wahrheit ein grundlegendes Thema. Einiges, was es so schwierig macht, über Wahrheit zu sprechen:

Es gibt eine/die absolute Wahrheit; und unendlich viele relative Wahrheiten.

Jede Wahrheit ist notwendig und hat ihre Berechtigung.

Wahrheit ist nicht dasselbe wie wahr sein. Damit verknüpft ist, dass Wahrheit und Richtigkeit nicht dasselbe sind; aber gern verwechselt werden.

Einige Ideen zur Wahrheit:

Platon deutet mit der Idee der Wahrheit in Richtung der absoluten Wahrheit.

Aristoteles geht einen Schritt vor und einen zurück. Er bringt Wahrheit in Bezug zur Realität und entfernt sich von der absoluten Wahrheit. Nach einem Sprung von zweieinhalb Jahrtausenden landen wir bei Wahrheitsphilosophien, die nicht einmal mehr Fussnoten zu Platon sind.

Ketzerisch möchte ich behaupten, dass Kohärenztheorie, Pragmatische Theorie, Konsenstheorie und ähnliche keine Wahrheits- sondern Richtigkeitstheorien sind. Grob gesagt geht es um die Richtigkeit von Aussagen.

Der deutsche Idealismus ist wiederum als eigenständige Annäherung an die Wahrheit weit mehr als eine Fussnote.

Schliesslich Heidegger.

Soweit eine sehr verkürzte und subjektive Darstellung der Wahrheitsreflexion.

Sie beschreiben, wie die Wahrheit dekonstruiert wurde, und stellen die 1.000.000 $ Frage:

"Mit welchen Kriterien unterscheiden wir noch."

Dass ist der Punkt und der Weg. Es gibt keine sicheren Kriterien mehr. Heute ist der Einzelne auf sich selbst zurückgeworfen. Das ist der Sinn der Sache. In Ihrem Text geben Sie eine Antwort, die die Richtung weißt: "Reflexiv werden."

Das Eigene!

Mancher mag einwenden, es gäbe da noch die Logik. Die hat sicher ihren Platz, hat aber sehr begrenzten Erkenntniswert.

Wie schätzt der Einzelne Wahrheit ab? Mit Hilfe von Gefühl, Erfahrung (in Form von Erfahrungswissen) und Intuition.

Die Kraft und den Mut zu finden sich dem Eigenen zuzuwenden, ist der einzige gangbare Weg geblieben. Die Entdeckung des "Ich bin", der Intuition, Kreativität, der inneren Stimme ... Wenn man möchte, kann man es auch das Lauschen auf das Flüstern der absoluten Wahrheit nennen.

 

 

Winston Smith 78700

17. Dezember 2016 17:41

@ Dietrich Stahl

Aber auch für die innere Stimme brauchen Sie ein Kriterium. Wann lügt sie nicht? Wie lerne ich sie kennen, um das sagen zu können? Vorschlag: Gestern las ich die hervorragenden SiN-Artikel zu Mircea Eliade und mir fiel ein, dass ich die vielen Asthmaanfälle (manchmal durch ganze Fußballspiele hindurch) in meiner Kindheit gewissermaßen als Hierophanien erlebt habe, als Kontakt mit etwas Unbezwingbarem und ganz Anderem - ähnlich wie später die Angst am unerbittlich harten, aber fairen Felsen (als schlechter und umso besessenerer Kletterer). Vielleicht ist das so etwas wie die Grenzsituation - zumal Jaspers selbst Asthmatiker gewesen sein soll, stimmt das? Hier geht Robert Josef Kozljanic es in Vorträgen von Rousseau her an und man findet auch eine Liste von Teilkriterien nach Kurt Weis.

@Winston

17. Dezember 2016 20:20

Auf die Frage der Bewegung bin ich deshab nicht eingegangen, weil mir der Begriff des Ortes in diesem Zusammenhang nicht hinreichend definiert erschien, um die Beurteilung eines Gegenbeispieles zu ermöglichen. In der klassischen Punktmechanik ist der Ort eine Charakteristk eines ausdehnungslos gedachten Teilches, die mit einem n-Tupel von Koordinaten quantifiziert wird. Bewegung lässt sich dann als Änderungsrate dieses Tupels in Abhängigkeit von der Zeit bestimmen. All dies scheitert daran, dass das Tintenfass auch nicht annähernd als Punkt durchgehen kann und gerade seine Abweichung von dieser Idealisierung die Ortsveränderung suggeriert. Man kann natürlich anstatt dem Tintenfass als ganzem seinen Eckpunkten Orte zuschreiben, die sich verändern. Der paradoxe Eindruck entsteht dann dadurch, dass zwei verschiedene Träger örtlicher Bestimmung (einmal das Fass als Ganzes, dann wieder dessen Ecken) auftreten und deren zweifache Örtlichkeit in sprachlicher Zweideutigkeit einer einzigen Entität zugeordnet erscheint.

Gewundert habe ich mich nur darüber, wie sich diese Fragestellung in eine Logikklausur verirrt hat, wo doch gemeinhin in geradezu persiflierender Hervorhebung der inhaltlichen Neutralität dieser Disziplin die Sterblichkeit antiker Philosophen oder die Farbe von Schwänen und dergleichen thematisiert wird.

Sven Jacobsen

17. Dezember 2016 23:05

Ein Fremder aus Elea,

danke für die Anregung. Ich habe nicht nur kurz nachdenken müssen, sondern länger. Es ist schwierig festzulegen, wie sehr es Selbstbestätigung verleiht, wenn man kraft guter Argumente andere dazu bewegt, einem zuzustimmen oder man, mehr oder weniger schleichend, selbst seine Weltsicht verändert, um in den Genuss der Dynamik gemeinschaftlich empfundener Vorstellungen zu gelangen. Beides ist möglich und letzteres vermutlich häufiger anzutreffen, v.a. auch dann, wenn ansprechend argumentiert wurde. Hinzu kommt, dass man gerne Fakten je nach Bedarf ausblendet, nur um nicht zugeben zu müssen, grundlegend geirrt zu haben. Das rettet die eigenen „Wahrheiten“, sprich: Ich mache mir die Welt, wie sie mir gefällt.

Winston Smith 78700

18. Dezember 2016 00:25

@ quarz

Es war einer von denen, die ihr Leben lang von ihrer Zeit Oxford reden, und dementsprechend eine Klausur aus der Urmsonschule (oder Ayer, Austin ...), also alltagssprachlich ausgerichtet - und diese konnte daher nicht allein formal korrigiert werden. Der Fall ergab sich implizit aus einer Lösung vom Studenten, vielleicht in einem anzugebenden Beispiel, weiß nicht mehr. Das wurde auch nicht als Fehler gewertet und die Botschaft war vielmehr "meta": pass auf, was passieren kann, wenn du ein Beispiel unsauber machst.

Einverstanden mit dem Einwand übrigens. Ich hätte vielleicht gesagt: präzise muß man letzlich über Punkte reden, und die können aber nicht rotieren. Dann jedoch kommt der Oxfordianer wieder und sagt "Alltag!" und die Debatte geht weiter und geht ins Letztbegründende oder Methodische rein oder in sonstwas. Eitel Sophisterey ist immer möglich und gute (!) Gegner verstehen sich darauf. Deswegen (und leide weil schlechte Gegner die Verchleppungsmanier der guten erbärmlich nachahmen) zieht auch der obige szientistische Vorschlag mit einer Empiriebasis nicht. Wer damit kommt, dem ziehen die Frankfurter schnell die Ohren lang, auf den haben sie ja gewartet. Der breiten Bevölkerung machen Sie das nicht wirklich klar, wenn es um Zahlen und Fakten und deren Anweiflung oder der Unterstellung von Fake-News geht. Vor dieser Kulisse eines fast schon Jüngerschen Kampfes auf verlorenem Posten setzt ja Sommerfelds postmoderne Problematik erst an. Natürlich wird die Faust der Realität letztlich doch deutlich Wahrheit sprechen (wenn alles zusammenbricht), aber es geht ja darum, frühzeitig noch etwas zu retten, möglichst vorher noch was mit Worten zu richten und sich nicht fatalistisch zurückzulehnen, was ich angesichts der Lage inklusive Gramscischer Medienhegemonie jedoch irgendwie verstünde. Auch wenn dies mittlerweile wie ein Klamauk aussieht, wie Sommerfeld und Kubitschek die Obrigkeit vorführen - gehässig ist das wohl erstmal nicht gemeint und allzuviel Schadenfreude sehe ich letztlich doch nicht. Man könnte ihnen eher noch Idealismus vorwerfen.

Dietrich Stahl

18. Dezember 2016 11:38

@ Winston Smith 78700

Sie fragen nach Kriterien für die Beurteilung innerer Wahrnehmungen. Wieder ist da der Einzelne auf sich zurückgeworfen.

Etwas kompliziert machen es die anderen Stimmen, die neben der einen inneren Stimme [der Stimme des "Ich bin" oder Seele] tönen. Es gibt da einige: Die Stimme der Gier, des Ärgers, der Eitelkeit ... und ja, die Stimmen der Echos vergangener Inkarnationen.

Wie filtert man die richtige Stimme aus diesem Wellensalat heraus?

Versuch und Irrtum. Es gibt wohl keinen anderen Weg. Die Erfahrung kann der Lehrmeister sein. Der Versuch die Stimme immer besser zu hören, bedeutet Arbeit an sich selbst. Selbstbeobachtung, geistige Übungen, Beobachtung der Träume, Tagebuch ... Es gibt da viele Möglichkeiten.

Das Unternehmen ist aber machbar. Es gibt viele, die diesen Weg gegangenen sind und die ihn heute gehen.

Eine Stimme ist noch zu erwähnen: Das gute alte Gewissen. Es ist nicht dasselbe wie die innere Stimme, aber doch mit ihr verwandt. Auch das Gewissen ist Teil jedes Einzelnen. Und ein guter Wegweiser.

quarz

18. Dezember 2016 16:15

@Winston

"Auch wenn es mittlerweile wie ein Klamauk aussieht, wie Kubitschek und Sommerfeld die Obrigkeit vorführen ..."

Immerhin treibt es den Aufwand in die Höhe, mit dem die potemkischen Kulissen für die Operette "Der Geist weht links" fortlaufend ausgebaut werden (müssen). Für künftige Betrachter im historischen Rückblick wird sich daher die Genrefrage verschärft stellen: doch eher absurdes Theater?

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