Zeit, sich auch im Westen mit diesem aufregenden Denker zu befassen. Das Geschichtsdenken der Identitären (aktuell: der Beitrag Martin Sellners) kann aus philosophisch-christlicher Sicht ergänzt und verlebendigt werden.
Die folgenden Ausführungen stützen sich auf einen Aufsatz des russischen Philosophen Nikolai Berdjajew (1874–1948), der vor dem Zweiten Weltkrieg erschienen ist und den Titel „Verführung und Knechtung durch den Nationalismus“ trägt. Im Hinterkopf sollte man vielleicht behalten, daß Wladimir Putin Berdjajews Schriften gern Freunden und Kollegen zum Geschenk macht.
Als christlicher Denker befaßt sich Berdjajew im hier behandelten Text mit dem Begriff der Nation. Eine Auseinandersetzung mit dem Aufsatz erscheint auch heute aktuell angesichts einer Kritik an der christlichen Religion seitens der „Neuen Rechten“ Frankreichs, deren geistiger Kopf Alain de Benoist ist. Das Christentum, so ihr Vorwurf, habe zu einem egalitären Menschenbild geführt, welches die Grundlage sowohl für den bürgerlichen Liberalismus als auch für den Kommunismus bildete.
Gegen diese beiden „Ideologien“ fordert die „Neue Rechte“ eine Weltanschauung, die der Vielfalt der Völker und Kulturen gerecht wird. Im Namen der verschiedenen Kulturen lehnt Alain de Benoist das Persönliche und das Universale ab, zwischen Individuum und Menschheit bevorzugt er das „mittlere Maß der jeweiligen Kultur“. Gegen die Theoretiker der „Neuen Rechten“ soll hier Berdjajews Artikel auszugsweise zur Diskussion gestellt werden.
Berdjajew geht von der Überlegung aus, daß der Mensch zugleich Individuum und Gemeinschaftswesen ist und fragt, wo der existentielle Mittelpunkt des Menschen liege. Sein personalistisches Denken verneint, daß der „existentielle Mittelpunkt, der Mittelpunkt des Bewußtseins in der Nation oder sonst in irgendeiner kollektiven, nicht menschlichen Realität wurzelt“. Er schreibt:
Die Persönlichkeit ist nicht ein Teil der Nation, Nationalität ist ein Teil der Persönlichkeit und befindet sich in ihr als einer ihrer qualitativen Gehalte.
Nationalität-Nationalismus
Berdjajew unterscheidet die Nationalität im Sinne der Volkszughörigkeit vom Nationalismus als einem Produkt der Rationalisierung. Während die Nationalität die nährende Umwelt der Persönlichkeit ist und die Liebe zum eigenen Volk von Berdjajew als ein natürliches und gutes Gefühl bezeichnet wird, betrachtet er den Nationalismus als eine Form von Götzendienst und Geknechtetsein, gekennzeichnet durch Feindschaft und Haß gegenüber anderen Völkern.
Berdjajew wendet sich also u. a. gegen nationalsozialistische und faschistische Bewegungen, die einen starken Staat fordern, der über die Persönlichkeit herrscht. Insofern sich der Nationalismus nicht für den Menschen, sondern für objektivierte, kollektive Realitäten interessiert, ist er für Berdjajew heidnischen Ursprungs.
Nationalismus-Patriotismus
Berdjajew trennt zwischen Nationalismus und Patriotismus:
Patriotismus ist Liebe zur Heimat, zum eigenen Land, zum eigenen Volk. Nationalismus hingegen ist nicht so sehr Liebe als kollektiver Egozentrismus, Eigendünkel, Wille zur Macht und Vergewaltigung anderer. Nationalismus ist schon etwas Erdachtes, ist Ideologie, die es im Patriotismus nicht gibt.
Sozialisten, Christen, Liberale, Konservative etc. können also durchaus Patrioten sein, ohne daß sie eine nationale Ideologie zu beanspruchen brauchen.
Nation-Volk
Berdjajew unterscheidet weiterhin Nation und Volk, Nationales und Volkhaftes:
Volk ist eine viel urtümlichere und naturgebundenere Realität als die Nation, im Volk steckt etwas Vorrationales. Die Nation hingegen ist das komplizierte Produkt von Geschichte und Zivilisation, sie ist schon das Ergebnis einer Rationalisierung. Das wichtigste ist jedoch, daß das Volk eine menschlichere Realität darstellt als die Nation. Volk ist soviel wie Menschen, eine gewaltige Anzahl von Menschen, die zur Einheit verschmolzen sind, die sich geformt haben und damit zugleich bestimmte Eigenschaften erworben haben. Nation hingegen ein Prinzip, das über Menschen herrscht; es ist eine lenkende Idee.
Berdjajew kritisiert die Abstraktheit der Idee „Nation“.
Nation-Staat
Berdjajew weist darauf hin, daß die Nation stärker mit dem Staat verwachsen ist als das Volk. Während das Gesamtvolk oft antistaatlichen und anarchischen Charakter hat, ist der Nationalismus staatsgebunden; er wünscht einen mächtigen Staat, der Staat ist für ihn im Grunde ein größerer Wert als die Kultur. Während das Volk sich sein eigenes Brauchtum und seinen Stil erschafft, sucht die Nation in staatlicher Machtfülle ihren Ausdruck zu finden. Für Berdjajew bedeutet Nationalismus vom faschistischen Typ deshalb Verlust an nationaler Eigenart.
Er schreibt:
Der Nationalismus schätzt geistige Kultur am geringsten, und er bedrängt stets die eigentlichen Schöpfernaturen.
Berdjajew bezeichnet deshalb die Idee der „Souveränität“ der Nation, bzw. des Staates als Lüge.
Volkstum
Aber auch gegenüber dem Volkstum ist Berdjajew kritisch. Für ihn gehört Volkstum zu „jenen Versuchungen, sie sehr leicht mystische Formen annehmen“. Er sieht im Volkstümlerischen ein Überbleibsel eines primitiven Urkollektivismus, welcher die geistige Persönlichkeit nicht achtet.
Denn
die Persönlichkeit, als existentieller Mittelpunkt, als Mittelpunkt des Gewissens und des Bewußtseins, kann dem Volke Widerstand leisten.
Deshalb sucht Berdjajew des „Gewissens Mittelpunkt nicht im Volke“. Und schreibt:
Im Volkhaften birgt sich eine eigene Wahrheit, aber auch eine große Lüge; diese kommt in der Demütigung der Persönlichkeit vor dem Kollektiv zum Ausdruck. Die Wahrheit ist stets in der Persönlichkeit, in der Qualität, in der Minderheit zu finden. Diese Wahrheit muß aber, wenn sie lebendiger Ausdruck sein soll, mit dem Volksleben verbunden sein; sie darf nicht in Isolation und Abgeschlossenheit beharren. Nationaler Messianismus ist eine Versuchung; er ist mit christlichem Universalismus nicht vereinbar. Aber der Glaube an die Berufung seines Volkes ist für die historische Existenz unerläßlich.
Fazit
Berdjajew sieht die Gefahr, daß die Nation, bzw. das Volk leicht zu einem Idol werden kann, da sich das Nationale und das Volkhafte auf das kollektive Unterbewußte und auf starke Emotionen stützt. Trotzdem gesteht er beiden Begriffen ihre Berechtigung zu. Und meint:
Der Mensch bedarf eines Hinaustretens aus seinem Alleinsein, er bedarf der Überwindung der vereisenden Fremdheit der Welt. Dieses erfolgt in der Familie, es erfolgt in der Nationalität, in der nationalen Gemeinschaft. Der individuelle Mensch kann sich nicht unmittelbar als der Menschheit zugehörig betrachten. Er bedarf der Zugehörigkeit zu einem näheren, konkreteren Kreise. Mittels des nationalen Lebens fühlt der Mensch den Zusammenhang der Generationen, den Zusammenhang von Vergangenem und Künftigen.
Berdjajew gibt dem Volkhaften den Vorzug vor dem Nationalen, aber auch das Nationale erfaßt er jenseits der Frage nach einer souveränen Nationalstaatlichkeit. Er wendet sich gegen eine Position, die das Volk oder die Nation als einen Wert an sich betrachtet. Und gibt der personalen Freiheit, dem persönlichen Gewissen, sowie den konkreten Menschen anderer Völker und Nationen den Vorzug vor dem abstrakten nationalen Menschen.
Er lehnt den „Nationalismus im Namen des Persönlichen und im Namen des Universalen ab“. Das bedeutet für Berdjajew nicht,
daß es überhaupt keine Zwischenstufe zwischen Persönlichem und Universalem gäbe, aber es besagt, daß die betreffende Stufe des Nationalen weder das Persönliche noch das Universale aufsaugen darf, sondern es muß dem einen wie dem anderen untergeordnet bleiben.
Die Verteidigung des nationalen Menschen ist für Berdjajew die Verteidigung abstrakter menschlicher Eigenschaften. Ihm geht es dagegen um die Verteidigung des Menschen in seiner Menschlichkeit, um die Verteidigung des konkreten Wesens als einer Persönlichkeit.
Schlußbetrachtung
Die „Neue Rechte“ Frankreichs aber auch ihre rezenten Auswüchse sind von Berdjajews christlichem Standpunkt aus kritisch zu hinterfragen. Alain de Benoist löst das Personale und das Universale in das Volk (bzw. das Ethnische) auf. Vermittlungsinstanz zwischen Individuum und Gesamtmenschheit ist für ihn ausschließlich das Volk.
Benoist ordnet theoretisch die Personalität des Menschen dem Kollektiv Volk/Ethnie unter. Zugleich fordert er den starken, souveränen Staat, sowie eine eigenständige politische Theorie, die keinen ethischen Kriterien unterliegt, sondern von reinen Machtinteressen bestimmt wird. Aus christlicher Sicht kann dieses Welt- und Menschenbild deshalb nur abgelehnt werden.
Mit Benoist teilen wir allerdings eine Position, die einen dritten Weg Europas jenseits der Konfrontation der beiden Supermächte sucht. Wie ein solcher Weg aussehen könnte, ist heute noch weitgehend unklar. Angesichts der politischen Realitäten scheint er gar utopisch zu sein. Auf kultureller, metapolitischer Ebene zeigt sich aber die Notwendigkeit, die Überwindung der Spaltung Europas zu denken. Wir erleben eine tiefe Krise der Ideologien, die Europa im 18. und 19. Jahrhundert bestimmt haben. Sowohl die technischen als auch die sozialen Fortschrittsideologien sind an ihr Ende gelangt.
Mit der Kritik an diesen Ideologien erfolgt gleichzeitig eine Besinnung auf Themen wie Ökologie, kulturelle Identität, Heimat, Regionalität, Authentizität, Sprache, Tradition, Geschichte, Religion, Transzendenz usw. Verständlich ist auch, daß die Frage nach nationaler Kultur und Identität an Bedeutung gewinnt.
Die nationale Frage wird aber zu oberflächlich betrachtet, wenn man sie nur als politische oder gar ideologische Frage versteht. Die Unzulänglichkeiten einer solchen Betrachtungsweise hat Berdjajew aufgezeigt. Wesentlich interessanter erscheint es, diese Frage auf kultureller, metapolitischer Ebene zu stellen. Hierbei kann die Auseinandersetzung mit den Oppositionellen Ost- und Mitteleuropas interessante Perspektiven für ein zukünftiges Europa der Völker und Vaterländer eröffnen.
Gotlandfahrer
Gott ist die Basta-Lösung. Kommt also drauf an, wer sie anwenden darf. Als Rechter, der sein Volk schützen will, würde ich mich dieser Lösung nur bedienen, wenn ich sicher sein kann sie in diesem Sinne verwenden zu können.