Bis vor fünf Monaten gehörte dieser Ausdruck nicht einmal zu ihrem Wortschatz.
Sie jedenfalls ist empört, daß in letzter Zeit eine neue Art Journalismus aufgekommen ist, der nicht mehr gewissenhaft arbeitet, sondern Fakes produziert. „Man kann ja unterschiedliche Meinungen haben, aber die Tatsachen müssen eben richtig sein.“
Die Frau ist Mitte Fünfzig, was sie fordert nichts anders als das, was sie ihr ganzes Leben gewohnt ist. Man konnte in der Presse unterschiedliche Meinungen lesen, aber die Tatsachen … über die Tatsachen waren sich alle einig! Einig, das ist der Punkt. Falsche Berichterstattung, offizielle und halboffiziell Lügen gab es natürlich auch damals schon.
Es war auch nicht so, daß solcherlei nie an die Öffentlichkeit gelangt wäre. Es gab Fälle, in denen die offizielle Version später einhellig der Lüge geziehen wurde. Die Brutkastenlüge, als die Tochter des kuweitischen Botschafters vor dem US-Kongreß als Krankenschwester auftrat und erzählte, wie Saddam Husseins Soldaten kuweitische Frühgeborene aus den Brutkästen gezerrt hätten, oder, der berühmteste Fall, die irakischen Massenvernichtungswaffen ein Jahrzehnt später.
Diese Lügen wurden enttarnt und sind jetzt als Lügen im öffentlichen Bewußtsein verankert. Fallen nur die zwei Worte „irakische Massenvernichtungswaffen“ hat inzwischen jeder sofort die Kriegslüge der Regierung Bush im Kopf. Inzwischen jeder, auf diese beiden Worte kommt es an. Für den Medienkonsumenten ist es ohne weiteres verschmerzbar zu erfahren, daß er angelogen wurde.
Das ist dann eine Skandal, er empört sich und dann richtet er sich in dem neuen Narrativ ein, in dem das was er gestern noch für eine Tatsache hielt, heute eine Lüge ist. „Wir waren immer schon im Krieg mit Eurasien!“ Solange er zu jeder beliebigen Zeit nur mit einer Garnitur angeblicher Tatsachen auf einmal konfrontiert wird, weiß der Medienkonsument was er glauben soll. Da können diese Tatsachen im Zeitverlauf auch wechseln. Nur mit zwei sich widersprechenden Tatsachenbehauptungen auf einmal kommt er nicht zurecht.
Bis vor kurzem gab es nur zwei Arten von Lügen. Da waren die für die Öffentlichkeit enttarnten Lügen, wie die von den irakischen Massenvernichtungswaffen oder die Brutkastengeschichte. Das waren diejenigen die, nachdem sie von den Medien eine Weile als Tatsachen behandelt worden waren, nun als Lügen für jedermann kenntlich gemacht worden waren.
‘Daneben gab es die nicht enttarnten Lügen, die einfach in der Berichterstattung und damit im öffentlichen Bewußtsein weiterschwammen. „Milosevic wollte die Kosovoalbaner ausrotten“, oder: „Die FDP ist die Partei der Besserverdiener.“ Solche Lügen waren technisch betrachtet auch enttarnt. Wer wollte konnte sich ein Buch kaufen, oder der tausendunderste Abonnent einer randständigen Zeitschrift werden und die Widerlegungen solcher Behauptungen nachlesen. Dann stand er mit seinem Wissen meistens allein da. Wenn doch nicht, dann war er Teil eines irrelevanten politischen Gettos, dessen Ansichten die Öffentlichkeit nicht interessierte.
Das hat sich jetzt geändert. Nicht nur die Meinungslandschaft, auch die Nachrichtenlandschaft ist pluralistisch geworden. Das klingt erstaunlich, ist es aber nicht. Die Lüge, der Fake hat zur Berichterstattung immer dazugehört, mal mehr mal weniger, meistens haben es die Medienkonsumenten gar nicht bemerkt und die Journalisten selber vielfach auch nicht. Vor allen Dingen: Was ist eine Lüge? Die meisten gerade der alltäglichen Medienlügen beruhen im mehr oder minder kunstvollen Weglassen.
Das kann absichtlich passieren, meistens ist das aber gar nicht der Fall. Kein Journalist sieht sich selbst als als Teil der Lügenpresse. Aber jeder der einmal zu irgendeinem Ereignis recherchiert und dann darüber geschrieben hat weiß, daß er eine verwirrende Vielfalt von Informationen in seinen Artikel quetschen muß, auch nur begrenzt Zeit und deshalb nach irgendeinem Kriterium auszuwählen hat.
Dieses Kriterium ist fast immer seine politische Einstellung. Nun, auf diese Weise dichtet man niemandem aus Versehen Massenvernichtungswaffen an. Aber schon für die unterschiedlichen Geschichten, die erzählt werden wann immer in Syrien wieder Giftgas entfleucht ist, spielt dieser Faktor eine ganz wichtige Rolle.
Die Vorstellung verschiedene journalistische Lager würden bei einem Minimum an sauberer Arbeit in den Tatsachenbehauptungen übereinstimmen ist absurd. Wo solche Lager in der Medienlandschaft vorhanden sind, werden sie natürlich unterschiedliche Informationen verbreiten. Nur eine gleichgeschaltete Presse veröffentlicht die gleichen Informationen.
Das heißt nicht, das kein Mindestmaß an journalistischem Ethos zu fordern wäre. Und ja, die Lügenpresse trägt diesen Namen zurecht. Aber das verschärft nur ein Problem, das in einer pluralistischen Medienlandschaft gar nicht zu vermeiden ist: Die Überforderung des Medienkonsumenten durch die Vielfalt der einander widersprechenden Tatsachenbehauptungen.
Der Medienkonsument hat nämlich weder Zeit noch Lust noch überhaupt die Mittel das alles selber nachzurecherchieren. Gerade deshalb konsumiert er Medien. Und bevor wir uns mißverstehen: Wenn ich hier vom Medienkonsumenten schreibe, dann sind Sie, der Sie das jetzt gerade lesen und ich selber mitgemeint. Für uns gilt das genauso, allenfalls in einem etwas abgeschwächtem Maße.
Um sich aus dieser Überflutung widersprüchlicher Informationen zu retten, bleiben dem Medienkonsumenten nur zwei Möglichkeiten. Die eine heißt Abschalten. Nicht mehr am öffentlichen Leben teilnehmen. Die andere besteht darin, sich einem Lager anzuschließen und sein Urteil daran auszurichten. Da die anderen nicht nur andere Meinungen haben, sondern an andere Tatsachen glauben, sind sie dann nicht nur im Unrecht, sondern sie sind Lügner.
Wenn früher der FAZ-Abonnent die Süddeutsche las, dann fragte er sich höchstens, was das denn für Schwachköpfe oder Schweine oder beides seien. Das konnte emotional hoch aufgeladen werden. Vielleicht hatte der Kolumnist in der Süddeutschen Willy Brandts Kniefall in Warschau als längst überfällige Anerkennung deutscher Schuld und wichtigen Schritt zur Völkerversöhnung gepriesen und unser FAZ-Abonnent war ein Vertriebener aus Danzig. Aber für den PI-Newsleser ist Spiegel-Online die Lügenpresse und für den Spiegelleser ist PI Fake News. Das ist etwas anderes. Mit Lügnern ist ein Verständigung nicht möglich.
Eine plurale Medienlandschaft ist nicht nur das Produkt politischer Polarisierung, sie erzeugt selber welche. In jedem stabilen System ist die Presse deshalb auf irgendeine Weise gleichgeschaltet und die Frage lautet immer: Auf welche Weise und vor allem von wem? Ein Propagandaministerium ist leicht eingerichtet, hat aber den Nachteil, daß seine Handlungsweise für jeden offensichtlich ist. Der Medienkonsument möchte sich zwar nicht mit unterschiedlichen Erzählungen auseinandersetzen müssen, aber er schätzt doch die Illusion seiner Mündigkeit.
Er will glauben, daß er aus einer unabhängigen Presse alles Wichtige erfährt. Die dezentrale Gleichschaltung, wie sie in westlichen Demokratien erfolgt, erfordert ein stark einheitliches journalistisches Milieu. Das muß sich mit all seinen institutionellen und personalen Verbindungen erst einmal entwickeln Eine richtige Lügenpresse kann man nicht per Dekret in die Welt setzen.
Ist sie einmal da, dann ist sie aber auch sehr effektiv darin, die Öffentlichkeit in den gewünschten Bahnen zu halten. Solange keine echte Konkurrenz aufkommt. Dann aber hat man ein Problem. Da wurden ein halbes Jahrhundert in strenger Einheitlichkeit die Segnungen des Pluralismus beschworen.
Jetzt bekommen wir diesen Pluralismus tatsächlich und die dazugehörenden weimarer Verhältnisse werden Stück für Stück nachgeliefert. Der Humor der Götter.
Fritz
https://antaios.de/detail/index/sArticle/40953
Möchte dazu dieses Buch empfehlen. Meyer sieht die Entwicklung vom Journalisten alter Schule zum Volkserzieher und Propagandisten auch als Konsequenz der ökonomischen Entwicklung der Medien in den letzten Jahrzehnten. Den Journalisten, der die Linie seine Blattes vertrat und davon ausgehen konnte, dass dieses im Zweifel hinter ihm stand, gibt es so nicht mehr. Es gibt ein Geflecht an Eigentümern, die Medien kaufen und verkaufen und Journalisten einstellen. Einen Stefan Aust, der erst der RAF nahe stand, dann Chefredakteur beim Spiegel wurde und jetzt Herausgeber der Welt ist, hätte es vor 30 Jahren nicht gegeben.