ist ein überschätztes Phänomen, zumal in Deutschland? Letztere Position vertritt explizit die Bertelsmann-Stiftung in ihrer neuen Studie, deren Ergebnisse die FAZ wie folgt auf den Punkt bringt:
Knapp 30 Prozent der Wahlberechtigten sind zwar populistisch eingestellt, wie eine am Dienstag von der Bertelsmann-Stiftung veröffentlichte Studie ergab. Doch jeweils mehr als ein Drittel lehnt solche Positionen ab (36,9 Prozent) oder stimmt ihnen nur teilweise zu (33,9 Prozent). Populisten vertreten laut der Studie in Deutschland zudem „eher moderate und keine radikalen Ansichten“. Sie lehnen demnach demokratische Institutionen oder die EU nicht grundsätzlich ab, sondern kritisieren ihr Funktionieren. Für etablierte Parteien lohne es sich daher nicht, „im Wahlkampf populistischen Extrempositionen hinterherzulaufen“. Stiftungsexperte Robert Vehrkamp zeigte sich überzeugt: „Von einer Stunde der Populisten ist das politische Klima vor der Bundestagswahl weit entfernt.”
Jetzt kann man trefflich darüber streiten, was den Kern des Populismus-Begriffs eigentlich ausmacht. Und es wenn es, weiter im Text, schulterklopfend heißt, »die Partei mit den unpopulistischsten Wählern ist demnach die CDU«, dann sagt das wenig darüber aus, ob das jetzt im politischen Sinne »gut« ist (weil man sich nicht dem sogenannten Stammtisch andient) oder einer Volkspartei »schlecht« zu Gesicht steht, weil das Wort »Volk« ja immerhin vom lateinischen populus abstammt. Der beim Terminus »Populismus« sich hier anschließende Suffix »-ismus« zeigt eine weltanschauliche Fokussierung auf das vorangegangene Wort an; Populismus ist also – etymologisch betrachtet – letztendlich nichts anderes als die weltanschauliche, ideologische oder doktrinäre Fokussierung auf das Volk, wobei ebendiese Kategorie unterschiedlich mit Inhalt gekoppelt wird.
Gewiß: Diese Definition ist kaum verbreitet. Populismus gilt landläufig als Verhalten, das auf eine Herabwürdigung (etwa von »Eliten«) sowie Ausgrenzung (etwa von Minderheiten) besteht. Der Politikwissenschaftler Florian Hartleb meint in seinem kurzen Lehrgang der Populismusforschung gar, mit dem Populismus »scheint sich das Vulgäre in die Politik hineinzufressen«. Schon auf den ersten Blick ist dieser Vorwurf, der sich im folgenden freilich primär gegen rechtsorientierte Populisten richtet, doppelbödig. Denn um was anderes als Vulgär-Gepolter handelt es sich, wenn etablierte Alt-Politiker in Richtung der jungen rechtspopulistischen Konkurrenz in Gestalt der AfD formulieren, sie seien eine »Schande für Deutschland« (Wolfgang Schäuble), man dürfe sich mit Extremisten nicht auseinandersetzen (Peter Tauber), man benötige die Intervention des Verfassungsschutzes (Sigmar Gabriel) oder man empfehle einen »Arztbesuch« (Ralf Stegner)?
So, wie also der Vulgaritätsvorwurf auf ihre Erfinder zurückfällt, ist auch ein zweites Beispiel irreführend. Populisten wird immer wieder unterstellt, sie würden komplexe Vorgänge in Wirtschaft, Gesellschaft oder Politik vereinfacht darstellen und verkürzt agieren. Dabei wird gerade dies vollzogen, wenn man eine weltanschauliche oder interessengeleitete politische Gruppierung als »populistisch« darstellt, ohne sich tiefschürfender mit ihr auseinanderzusetzen. Das Verdikt »Populist« erscheint somit als unzulässige Vereinfachung und Komplexitätsreduzierung in bezug auf den politischen Gegner. So kommen wir also an dieser Stelle nicht weiter, wenngleich es sich lohnt, die unterschiedlichen Theorie- und Praxisansätze der mannigfaltigen Populismus-Erscheinungen genauer unter die Lupe zu nehmen – das Institut für Staatspolitik hat dies in seiner neuen Studie Die Stunde des Populismus geleistet.
Doch wenden wir uns, zwei Monate vor der Bundestagswahl, der Realpolitik im Zeichen des allmählich anlaufenden Wahlkampfs zu. Schenkt man der Medienlandschaft in Deutschland Glauben, und zwar von der als bürgerlich geltenden FAZ bis zur linksalternativen taz, so handelt es sich bei der AfD um eine dezidiert rechtspopulistische Partei. Das Urteil erfolgt dabei im Regelfall ohne substantielle Auseinandersetzung. In der Politikwissenschaft, zumindest in ihren nicht-linken Teilbereichen der normativen Extremismusforschung, fällt dieses Urteil differenzierter aus. Eckhard Jesse und Isabelle-Christine Panreck geben in der Zeitschrift für Politik (1/2017) etwa zu Bedenken, daß die AfD »die Eigenschaften einer populistischen Partei nur teilweise« erfülle. Typisch populistisch sei, so die Chemnitzer Forscher zutreffend, die Betonung des Antagonismus Volk versus Elite. Auch nutze die Partei populistische Stilelemente in Wahlkämpfen und Medienauftritten, darunter »Stereotypisierung« und »Vereinfachung«.
Doch wo der implizite Vorwurf mitschwingt, »Vereinfacherer« zu sein, kann die AfD gelassen bleiben. Was ist, wenn die Lösungen zumindest einiger zentraler, erster Punkte nun mal »einfach« wären? Was ist, wenn eine zugespitzte, »populistische« Forderung nach sicheren Grenzen die naheliegende und »im Volk« auf fruchtbaren Boden findende Antwort auf scheinbar komplexe Affirmationen einer »borderless world« darstellt? Neben dieser eigentlich banalen Feststellung, sind es weitere aktuelle Entwicklungsstränge der bundesdeutschen Politik, die – Bertelsmann-Stiftung hin oder her, zumal diese Stiftung hinlänglich bekannt dafür ist, eigene Standpunkte und Interessen offensiv zu verbreiten – zugunsten einer »populistischen« AfD verlaufen.
Florian Hartleb nennt diesbezüglich die »Sozialdemokratisierung der CDU« im Sinne eines Linksschwenks, die Große Koalition im Bund, die konsensuale Situation aller etablierten Parteien in Grundsatzfragen, die Schwäche des Liberalismus und wachsende gesellschaftliche Unzufriedenheit (v. a. im Osten der Republik). So richtig diese Auflistung ist, fehlt doch ein entscheidender Aspekt, der bei Bernd Stegemann adäquat gewertet ist. Dieser macht in seiner herausragenden Schrift Das Gespenst des Populismus die »totalitäre Schließung des politischen Feldes durch die alternativlose Politik der Kanzlerin« dafür verantwortlich, daß in Deutschland eine relevante populistische Bewegung von rechts entstanden ist – mit der AfD als Wahlpartei in ihrer Mitte. Da insbesondere die Flüchtlingspolitik der Bevölkerung ex cathedra als »alternativlos« verkauft wurde, »entlädt sich an diesem Punkt eine lange aufgestaute Wut gegen die belehrende Art der liberalen Politik, bei der der Einzelne als Schüler betrachtet wird, der von einer Elite erzogen werden muss«.
Zweifellos: Es sind dies herausragende Startbedingungen für eine »populistische« AfD, die den Terminus »Populismus« selbstbewußt beim Worte nimmt und als volksnahe Politik begreift, die, weil es die Lage erfordert, mit einfachen, aber überzeugenden Bildern arbeitet, die wohl oder übel nötig sind, um die wachsende Unzufriedenheit wahltechnisch zu kanalisieren.
Die »Brechstange des Populismus« (Stegemann) ist also – derzeit – nötig gegen die alternativlose Politik der Merkel-Schulz-Fronde. Die hier aufscheinende »Unversöhnlichkeit« der AfD in der Agitation »Volk« versus »Elite«, die Eckhard Jesse als eminent populistisch betrachtet, ist daher einstweilen (und von oppositioneller Warte her) wichtig und richtig. Das allgemeine Unbehagen an den herrschenden Verhältnissen, das durch Studien seitens linksliberaler Mainstream-Stiftungen nur unzureichend erfaßt wird, kann in der momentanen Phase nur populistisch, also vereinfachend und um klare, offene Sprache gegenüber dem Volk bemüht, mobilisiert werden. Angesichts der existentiellen Krise, in der sich Deutschland und Europa aufgrund der Mißwirtschaft des politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Establishments befindet, muß sich hierbei nicht vorauseilend entschuldigt oder die eigenen Aktionsweisen inhaltlich bzw. stilistisch abgeschwächt werden.
Die AfD ist immerhin eine Partei, die – neben den bereits Überzeugten – vor allem Nichtwähler und enttäuschte Anhänger anderer Parteien für sich mobilisieren möchte. Sie sieht sich dabei mit dem – nicht selten semi- oder illegalen – Widerstand sämtlicher gesellschaftlich relevanter Gruppen, Medien und Organisationen konfrontiert, die daran arbeiten, daß »das Volk« eine ideologisch verzerrte Wahrnehmung von der AfD und ihren Mitgliedern erhält. Populismus ist hier sowohl inhaltlich als auch stilistisch legitim, um die Diffamierungs- und Verfälschungsagenda zu durchkreuzen. Defensiver formuliert bleibt Populismus, wie Alexander Gauland betont, mindestens »nichts Verwerfliches«.
Der AfD kann jedoch zugleich aufgrund ihrer Vielgestaltigkeit und regionalen Differenzen trotz feststehender »Leitthemen« (u. a. Einwanderungs‑, Establishment‑, Medien‑, Brüssel- und Euro-Kritik) kein pauschaler Rat erteilt werden, was die populistische Essenz einer oppositionellen Bewegungspartei anbelangt. Fest steht indes, daß die AfD gegen die vom Establishment gepredigte Alternativlosigkeit anzugehen hat. Mit Bernd Stegemann gilt es, darauf hinzuweisen, daß die »totalitäre Schließung« des politischen Feldes – populistisch gefaßt: durch »die da oben« – automatisch Gegenreaktionen hervorruft, die wiederum von der AfD genutzt, vermehrt und in ihrer Intention bestärkt werden können.
Die Behauptung von Alternativlosigkeit aufgrund von komplexen Sachverhalten, die man nicht »verallgemeinern« oder »vereinfachen« dürfe, ist heute, so Stegemann, »das wichtigste Machtmittel der Eliten geworden«. Auch auf linker Seite begreifen in der Folge daher erste Köpfe, etwa Jacques Rancière in seinem Aufsatz »Der unauffindbare Populismus«, daß die Medienhatz ob der »tödlichen Gefahren des Populismus« darauf abziele, »in der Theorie die Idee zu begründen, dass wir keine andere Wahl haben« als Anpassung an den Mainstream und entsprechendes Agieren im vorgezeichneten Spielfeld desselbigen.
Jenseits der AfD bleibt nach der Rolle des metapolitischen konservativen oder neurechten Lagers im populistischen Feld zu fragen. »Um politisch zu handeln«, hob Chantal Mouffe in Über das Politische hervor, »müssen Menschen sich mit einer kollektiven Identität identifizieren können, die ihnen eine aufwertende Vorstellung ihrer selbst anbietet«, ihnen mithin eine Identität (zurück) geben, »die der Erfahrung der Menschen einen Sinn verleihen und die ihnen Hoffnung für die Zukunft geben«. Das ist nichts anderes als ein populistisches Minimalprogramm, das besonders seitens eines kämpferischen Konservatismus für sich in Anspruch genommen werden muß, der das Gefühl für Heimat, das Bewußtsein eigener Identität und das Streben nach sozialer Gerechtigkeit in ihrer Bedeutung als wesensgemäß zusammenhängend erkennt und für weite Teile der Gesellschaft – nicht nur für das eigene Milieu – hinreichend darlegt.
Um so abgehobener von den Belangen des »einfachen Volkes« und um so lebensferner sich die herrschende Klasse einem hyperkapitalistischen und kosmopolitischen Streben hingibt, um so stärker wird die Gegenbewegung in Richtung einer neuen Suche nach Verwurzelung und Verortung, nach sozialer Fürsorge und solidarischer Gemeinschaft ausfallen. Die populistische Zuspitzung beschleunigt nur das Entstehen von Bewußtsein für diese Prozesse, verstärkt nur das Entstehen der Kluft zwischen »Volk« und »Elite« – sie löst diese Entwicklungen nicht aus.
Die Linke, auch ihre populistische Ausprägung (in Deutschland: Wagenknecht/Lafontaine, in Spanien: Podemos, in Frankreich: Mélenchon), wird nun aber früher oder später daran scheitern, eine positive (Gegen-)Erzählung zum herrschenden Neoliberalismus auf die Beine zu stellen, weil sie bereits damit zu kämpfen hat, sich gewiß zu werden, was ein »Volk« überhaupt ausmacht, wer also das Subjekt sein könnte, das gegen die Elite oder gegen die oligarchische Führung kontrastiert wird, und für welches man die positive Vision überhaupt erarbeiten könnte. Diese Unklarheit läßt sich nicht durch akademische Debatten oder geistige Konstruktionen gemeinsam kämpfender »subalterner« Klassen lösen; zudem wird der linke Populismus durch sich selbst als »emanzipatorisch« dünkende linke Anti-Populisten an seiner potentiellen Entfaltung gehindert, indem er wahlweise in die »Querfront«-Ecke gestellt oder direkt als verkappt rechte Strömung diffamiert wird (dazu mehr in der kommenden August-Sezession).
So oder so: »Populismus« wird als Thema der Forschung und Berichterstattung, als Kampfbegriff in der politischen Arena – mindestens in den kommenden Wochen und Monaten – akut bleiben. Bisweilen gibt es gar »Experten« für dieses Sujet, die ausgiebig darüber fachsimpeln, aber die reale Grundlage, die Bedingungen für das Entstehen, ja die materiellen und geistigen Voraussetzungen für ein Aufkommen populistischer Erscheinungen mit keiner Silbe erwähnen. Anders verfährt Alain de Benoist. Er erkennt die Krise der repräsentativen, liberalkapitalistischen Demokratie als Grundvoraussetzung für das Entstehen jedweder moderner Populismen an. Im Zeitalter des globalen Kapitalismus schwinde die Souveränität des Volkes, der Schwerpunkt der Macht wandere zu oligarchischen Strukturen, d. h. zu Kapitalgruppen, Technokraten und Parteifunktionären. Die Demokratie bleibe auf der Strecke.
Der Populismus jedoch, wie Benoist ihn idealtypisch in seiner Publikation Le Moment populiste (Ende 2017 in dt. Sprache) aufgreift, favorisiere, im schärfsten Widerspruch zur neoliberalen Entwertung und Abschaffung der Volksherrschaft stehend, die direkte, die partizipatorische Demokratie – was in der Tendenz durchaus in Einklang zu bringen ist mit der Aussage der Bertelsmann-Stiftung, wonach Anhänger populistischer Standpunkte die Demokratie nicht grundsätzlich ablehnen, sondern ihr momentanes Funktionieren kritisieren.
Eine solche Kritik der Funktionsweise des bestehenden Apparats ist für Benoist integraler Bestandteil populistischer Artikulation. Aktive Staatsbürgerschaft, der Sinn für Gemeinwohl und gemeinsame Werte, die instinktive Abneigung von Finanzkapitalismus und der Marktlogik prägen im weiteren Verständnis Benoists den Populismus. Als solches sei er direkter Gegner der herrschenden Verhältnisse, erster Herausforderer des Establishments. Ein wenig optimistisch sieht Benoist nun die Stunde des Volkes, die Stunde des Populismus gekommen; er formiere sich als »Bewegung neuen Typs«, als Revolte des Volkes gegen die classe dirigeante, als Revolte der Gemeinschaftsbefürworter gegen die liberale Hegemonie und ihre individualistische Paradigmen, als Revolte der Globalisierungskritiker – ob links oder rechts – gegen die »Globalisten« jeder Couleur, was in unserer Zeit als fundamentaler Schlüsselkonflikt zu gelten habe.
Ganz in diesem Sinne denkt auch Bernd Stegemann. Wie für Benoist, verläuft auch für ihn der primäre Frontverlauf »nicht mehr zwischen der offenen Gesellschaft und ihren Feinden, sondern […] zwischen der globalen Macht des Kapitals und den Menschen«. Stegemann hat in seinem bereits angeführten Essay dementsprechend auf die besondere Rolle des liberalen Versagens verwiesen, was die Entstehung populistischer Momente anbelangt. Es lasse sich schlechterdings nicht übersehen, daß »gerade in den liberalsten Gesellschaften die größten Krisensymptome entstehen«, so der Professor für Dramaturgie. Der Liberalismus habe über Jahrzehnte konkrete Widersprüche in abstrakte Formeln (»Paradoxien«) verwandelt und ablenken können; nun werden aber die gesellschaftlichen Widersprüche ganz real, die Kritik suche sich ein Ventil.
Es bleibt zu hoffen, daß sich – im wahltechnischen Bereich – die Alternative für Deutschland als ein solches anbieten wird.
_____________
Weiterführend:
Institut für Staatspolitik – Die Stunde des Populismus. Das Volk, die Elite und die Krise der Repräsentation (44 S., 5 €, hier bestellen)
Philip Stein
Unübertroffen!