Es ist sehr verführerisch, alle, die man nicht mag, unter einem Etikett zu subsumieren („der Satan“, „das Kapital“, „der Totalitarismus“), vor allem, wenn man den eigenen Weg dabei als goldene Mitte anpreisen kann. Trotzdem soll hier eine gewagt werden.
In der europäischen Rechten, vor allem dem an Alain de Benoist geschulten Teil, gehört die Feindschaft gegen den Universalismus zum Standardrepertoire. An den hiesigen Antiuniversalismus gewöhnt, brachte es mich zum Nachdenken, als ich hörte, wie der TRS-Mitgründer Mike Enoch die Linken des Nominalismus bezichtigte.
Nun ist Mike Enoch kein Philosoph, und das hier soll erst recht keine Wiederaufbereitung fast ein Jahrtausend alter Streitfragen der Scholastik sein. Angesichts der polemischen Natur derartiger Debatten ist es nicht nur ausreichend, sondern im Gegenteil sogar viel aufschlußreicher, die polemischen Aussagen zunächst als solche zu untersuchen.
Was meint der europäische Neurechte, wenn er Linke, Liberale etc. des „Universalismus“ bezichtigt? Er beschuldigt sie, die Welt vereinheitlichen zu wollen, keine Unterschiede anzuerkennen, alles auf einen Nenner, den der Menschheit, zu bringen.
Umgekehrt: Was meint Mike Enoch, wenn er vom „Nominalismus“ der Liberals spricht? In der Form des Arguments ist dieser Nominalismus das berühmte „Nichts hat mit nichts zu tun“. Moslems haben nichts mit Terror zu tun, Einwanderer einschlägiger Herkunft nichts mit Kriminalität, Homosexuelle nichts mit Pädophilie und weibliche Funktionäre der Grünen nichts mit einer unerträglichen Tantenhaftigkeit. Jeder ist einzigartig. Alle Fälle sind Einzelfälle. Wehe dem, der irgendwelche Zusammenhänge zu erkennen vermeint.
Nachdem dies geklärt, ist lohnt sich doch einen Blick auf die Philosophie. Hegel schreibt am Ende des ersten Kapitels der Phänomenologie des Geistes:
Sie sprechen von dem Dasein äußerer Gegenstände, welche noch genauer als wirkliche, absolut einzelne, ganz persönliche, individuelle Dinge, deren jedes seines absoluten Gleichen nicht mehr hat, bestimmt werden können; dieses Dasein habe absolute Gewißheit und Wahrheit. Sie meinen dieses Stück Papier, worauf ich dies schreibe oder vielmehr geschrieben habe; aber was sie meinen, sagen sie nicht. Wenn sie wirklich dieses Stück Papier, das sie meinen, sagen wollten, und sie wollten sagen, so ist dies unmöglich, weil das sinnliche Diese, das gemeint wird, der Sprache, die dem Bewußtsein, dem an sich allgemeinen, angehört, unerreichbar ist. Unter dem wirklichen Versuche, es zu sagen, würde es daher vermodern; die seine Beschreibung angefangen, könnten sie nicht vollenden, sondern müßten sie andern überlassen, welche von einem Ding zu sprechen, das nicht ist, zuletzt selbst eingestehen würden. Sie meinen also wohl dieses Stück Papier, das hier ein ganz anderes als das obige ist; aber sie sprechen wirkliche Dinge, äußere oder sinnliche Gegenstände, absolute einzelne Wesen und so fort, das heißt, sie sagen von ihnen nur das Allgemeine; daher was das Unaussprechliche genannt wird, nichts anderes ist als das Unwahre, Unvernünftige, bloß Gemeinte. – Wird von etwas weiter nichts gesagt, als daß es ein wirkliches Ding, ein äußerer Gegenstand ist, so ist es nur als das Allerallgemeinste und damit viel mehr seine Gleichheit mit allem als die Unterschiedenheit ausgesprochen. Sage ich ein einzelnes Ding, so sage ich es vielmehr ebenso als ganz Allgemeines, denn alle sind ein einzelnes Ding; und gleichfalls dieses Ding ist alles, was man will. Genauer bezeichnet, als dieses Stück Papier, so ist alles und jedes Papier ein dieses Stück Papier, und ich habe nur immer das Allgemeine gesagt.
Vereinfacht: Wenn ich etwas beschreibe, das heißt: es in sprachliche Ausdrücke fasse, dann kann ich das nur durch den Gebrauch von Allgemeinheiten. Denn sprachliche Ausdrücke sind nicht von dem konkreten Etwas, sondern immer von einer Gattung abgeleitet. Das gilt selbst für den Ausdruck „konkretes Etwas“. Hegelianisch gesprochen:
Ein solches Einfaches, das durch Negation ist, weder dieses noch jenes, ein Nichtdieses, und ebenso gleichgültig, auch dieses wie jenes zu sein, nennen wir ein Allgemeines; das Allgemeine ist also in der Tat das Wahre der sinnlichen Gewißheit.
Das bedeutet, wenn ich von etwas sage, es sei einzigartig, mit nichts anderem zu vergleichen, dann beschreibe ich damit nur die Eigenschaft, die es mit allem anderen teilt, das existiert, nämlich eben daß es existiert: das banale Wunder seines bloßen Vorhandenseins.
Wenn ich etwas dann genauer beschreibe, etwa als „Stück Papier“, dann schränke ich die Menge der dadurch beschriebenen Dinge zwar ein, bediene mich aber immer noch einer Allgemeinheit, dem Ausdruck „Stück Papier“. Selbst „dieses Stück Papier“ kann eben jedes beliebige „dieses Stück Papier“ sein. Dem ganz Konkreten kann sich die Sprache nur annähern.
Oswald Spengler, der diesem Einmaligen, Unwiderruflichen einen Ausdruck gab, den er nur unter großen Vorbehalten als Philosophie bezeichnete, mußte zugeben, daß das Problem seiner Methode des physiognomischen Taktes darin liegt, daß auf dem Wege verstandesmäßigen Nachdenkens nur ihr Gegenteil gefunden werden könne, eben dieses Denken in Allgemeinheiten.
Das hat eine wichtige Implikation. Sinnvolles Sprechen und auch sinnvolles Denken ist nur möglich, wo ein der Situation angemessener Grad von Allgemeinheit eingehalten wird. Andernfalls stellt sich folgendes Problem ein: Auf der einen Seite steht eine sinnlose Allgemeinheit, die meist alles umfaßt, was in der gegebenen Situation von Belang ist. Menschheit zum Beispiel ist alles, was atmet, zwei Beine und keine Federn hat. Auf der anderen Seite steht dann die ebenso sinnlose Konkretion, die selbst wieder nur besagt, daß das gemeinte Ding zur betreffenden Allgemeinheit gehört. Der einzelne Mensch als Mensch ist etwas, das atmet, mit zwei Beinen und ohne Federn.
Was diese Konkretionen, in unserem Fall die einzelnen Menschen, dann unterscheidet, wird dadurch zum berühmten Einzelfall, also zu dem Fall, den man tatsächlich, wie es immer heißt, „nicht verallgemeinern kann“. Man kann ihn deshalb nicht verallgemeinern, weil man nicht über einen angemessenen Grad der Verallgemeinerung verfügt. Er verbleibt als Einzelfall, über den sich nichts weiter aussagen läßt, als daß er vorhanden ist.
Ohne sich dessen bewußt zu sein, nutzt der von Linken und Liberalen vertretene Humanitarismus diese Dialektik, um ein Paradigma zu schaffen, innerhalb dessen seine Argumentationsstrategien plausibel erscheinen. Die ineinander übergehenden Extreme des zu Konkreten und des zu Allgemeinen bilden das Hufeisen, innerhalb dessen er sinnvolles Denken und Sprechen verunmöglicht. Dieses Hufeisen ermöglicht dem Humanitarismus, gleichzeitig universalistisch und partikularistisch zu argumentieren.
Da er Grade der Verallgemeinerung benutzt, die der Situation unangemessen sind – etwa bei einer Völkerwanderung darauf hinweist, daß alle Beteiligten Menschen sind, um danach die kulturellen Sonderbedürfnisse der Neuankömmlinge einzufordern und gleichzeitig eine Verallgemeinerung der bei ihnen zu beobachtenden negativen Verhaltensweisen zu verbieten –, verheddert sich der Humanitarismus besonders in der Praxis oft in Widersprüchen.
In Debatten mit einem Humanitaristen ist es deshalb oft ebenso unterhaltsam wie propagandistisch erfolgreich, das eine Moment des Humanitarismus argumentativ gegen das andere auszuspielen und den Gegner in seinem eigenen Netz zappeln zu lassen. Das ist sehr vergnüglich. Ist einem der Gegner jedoch rhetorisch gewachsen, läuft dies im Kern auf ein Wettschreien auf Kindergartenniveau hinaus:
„Du erträgst keine Verschiedenheit!“ – „Nein! Eigentlich willst du alle gleichmachen!“ – „Totalitarist!“ – „Selber!“
Dabei besteht die sehr reale Gefahr, das eigene Denken in diesem Netz zum Mitgefangenen zu machen. Wer den Humanitarismus universalistisch oder partikularistisch auf der einen oder anderen Seite auszustechen hofft, entgeht der oben beschriebenen Dialektik ebenfalls nicht.
Der erwähnte Alain de Benoist etwa kämpft so sehr für das Recht der einzelnen Kulturen auf ihre Verschiedenheit, daß er vor jeder Vergleichsebene, in der sich diese Verschiedenheit ausdrücken könnte, zurückschreckt. Ein solcher Vergleich könnte schließlich zu einer Wertung führen! Er behauptet dadurch eine leere, allgemeine Gleichheit der Kulturen. Im Kreis seiner Anhänger hat sich dies konsequent zum Multipolarismus entwickelt. Diese Forderung nach gleicher Machtverteilung der einzelnen Kulturkreise ist ein lupenreiner Universalismus mit globalem Ordnungsanspruch.
Das Umgekehrte läßt sich bei jenen beobachten, die den etablierten Humanitarismus im Kampf für die Demokratie, die westliche Wertegemeinschaft, die Rechte der Frauen und ähnliche abstrakte Prinzipien zu übertrumpfen suchen. Sie entgehen der Logik nicht, daß sie dann jeden Menschen als einen Gleichen zu akzeptieren haben, der seine Unterschrift unter eine Werteerklärung setzt, die nicht nur im vielbeschworenen Ernstfall, sondern bereits in der alltäglichen sozialen Wirklichkeit nicht das Papier wert ist, auf dem sie steht.
Auf diesem Umweg landen sie bei demselben Toleranzgeschwafel, daß sie zuerst bekämpft hatten. Die Ausnahmen, die sie im Namen ihrer allgemeinen Werte erst machen wollten, werden von diesen allgemeinen Werten wieder aufgehoben, weil sie die entscheidenden Ebenen der Verallgemeinerung und damit auch der Differenzierung – Biologie, Kultur, Religion, Sozialisierung – nicht im Blick haben.
Also: Müssen wir einfach die richtigen Grade der Verallgemeinerung finden und uns nach ihnen richten? So leicht, verhältnismäßig leicht, ist es nicht. Es hat schließlich seinen Grund, daß die Falschen sich durchgesetzt haben. Sind sie einmal in den Köpfen, so eröffnet dies für den metapolitischen Kampf eine ganze Trickkiste argumentativer Taschenspielereien. Dort jedoch, wo ein situationsangemessenes Denken und Sprechen gerade erst beginnt, dort endet bereits das Reich der billigen Phrase.
Toni Dalvai
Stringent und tiefsinnig.
Danke für Ihre Zeilen.