Das Gedenken galt dem Sieg über die Türken, die im Frühjahr 1683 unter dem Großwesir Kara Mustafa auf einem Eroberungsfeldzug mit 120 000 Mann über Ungarn bis Wien vorgedrungen waren. Seine Truppen plünderten und mordeten auf ihrem Weg, tausende Menschen wurden als Sklaven verschleppt. Rund um Wien wurden Ortschaften verwüstet.
Am 14. Juli 1683 standen die türkischen Truppen schließlich vor den Toren Wiens und begannen, um die Stadt einen Belagerungsring einzurichten. Das Schicksal der Reichs- und Residenzstadt und wohl auch des christlichen Abendlandes hing am seidenen Faden in jenen Tagen des Septembers 1683. In Wien standen vorerst nur 13 000 Soldaten zur Verteidigung bereit. Munition und Lebensmittel gingen langsam zur Neige.
Einzig den starken Befestigungsanlagen war es zu verdanken, daß die Türken die Stadt noch nicht erstürmen konnten. Doch auch diese waren durch feindliche Sprengungen bereits schwer beschädigt. Inzwischen hatte der Legat Marco D’Aviano unter Papst Innozenz XI. ein Bündnis zwischen Kaiser Leopold I. und König Jan III. Sobieski von Polen vermittelt. Gemeinsam mit Prinz Eugens kaiserlichen Truppen und jenen der deutschen Reichsfürsten sollte dessen Heer die Belagerung Wiens sprengen.
So kam es, daß am 12. September eine alliierte Streitmacht von 76 000 Mann, angeführt vom polnischen König mit seiner legendären Elitetruppe der „geflügelten Husaren“, den Türken in den Rücken fiel und sie in die Flucht schlug.
Der Gedenkzug war bewußt nicht als politische Demonstration organisiert. Der Fackelzug, auf dem ein Meer von Wienfahnen, Österreichfahnen, Abbildungen der Heerführer und ein großes Banner “Schlacht am Kahlenberg 1683”, aber keine individuellen Transparente mitgeführt wurden, ging gemessenen Schritts und still den Weg zur St.-Josefs-Kirche am Kahlenberg hinauf.
Zwischendurch wurden historische Reden und Zeitdokumente verlesen, der Zug hielt an, setzte seinen Weg fort, bis am Ziel sich alle ins Rund stellten. Martin Sellner, Co-Leiter der Identitären Bewegung Wien, hielt eine flammende Rede, in der er an einer Stelle sagte:
Haben wir das Recht, uns in die Reihe unserer Vorfahren, die Wien verteidigten, zu stellen? Wir müssen heute die Heimat verteidigen, und dazu bedarf es des Wissens und der Verehrung der Verteidiger von 1683. Wer von euch hat Kinder? Wer von euch möchte Kinder haben? Ich sehe alle Hände. Deswegen haben wir das Recht, hier zu stehen.
Diese kritische Selbstverortung ist für uns Gegenwärtige notwendig. Ohne die Gebrochenheit des beinahe posthistorisch gewordenen Europäers ist Identität nicht mehr denkbar. Es ist immer ein gedankliches Neuansetzen, wenn wir uns nicht als Individuen sehen, sondern in einer Ahnenreihe.
Den historischen Blick auf uns selbst müssen wir erst wieder sekundär erwerben. Ist unser jetziges Verteidigen dasselbe Verteidigen wie damals? Ist es nur mehr eine Metapher, eine Pathosformel? Ist das Parallelisieren geschichtlicher Ereignisse, oder sie als „Geschichtszeichen“ (Immanuel Kant) zu erkennen, überhaupt noch legitim?
Ein Fackel- und Fahnenzug als identitäre Aktionsform dient genau der Beantwortung dieser skeptischen Fragen. Er ist keine Protestdemonstration, sondern eine eigene Aktionsform, die sowohl Symbolwert hat (wie die bewährten: ästhetische Intervention und symbolische Okkupation) als auch, wie Sellner kürzlich schrieb, Bindungswert nach innen (Bonding) und nach außen (Bridging) hat.
Die mediale Wahrnehmung des Gedenkzugs soll eine bereits halbverlorene Gemeinschaftlichkeit wiederherstellen: Es sind unsere Vorfahren, es ist unser Christentum, es ist unser Wien – um das zu verstehen, muß man nicht identitär sein, es reicht, Österreicher zu sein, auch Europäer zu sein reicht fürs erste aus.
Wer das nicht schafft, wessen Sinnesorgane jedem „Wir“ gegenüber stumpf sind, wer sich selbst nur als ungebundenes Individuum auf Gemeinschaftszerstörungsdroge denken kann, ist asozial im Wortsinne. „Sozial ist das Individuum durch Asozialität bestimmt“ (Niklas Luhmann).
Solcherart asoziale Individuen beschädigten den vom polnischen Staat am Sockel der geplanten Statue des Königs Jan Sobieski angebrachten Gedenkstein durch Schmierereien. Die Verursacher konnten nach Angaben der Polizei bereits am Tatort festgenommen werden. Die zur feierlichen Sonntagsmesse in der St.-Josefs-Kirche am Kahlenberg angereisten und in Wien beheimateten Polen hat diese symbolische Schändung mit Unverständnis erfüllt.
Ist das revitalisierte Traditionselement „Fackelzug“ eine Farce, schon allein aufgrund der Kleinheit, schon allein aufgrund des nicht totzukriegenden „faschistischen Stils“, schon allein aufgrund der trotzigen Polysemie des Ausdrucks „Verteidiger von Wien“?
Umberto Ecos Liebhaber aus der Nachschrift zum Namen der Rose kann nicht mehr sagen: “Ich liebe Dich inniglich.” Zumindest nicht mehr so unschuldig, wie es die Situation erfordert. Statt dessen aber kann er sagen: “Wie jetzt Liala sagen würde: Ich liebe Dich inniglich.” So zieht der Liebhaber den Kopf aus der Schlinge: ohne falsche Unschuld, mit Ironie und Distanz. Auf die gleiche Weise verfährt auch die Identitäre Bewegung und kann ein Paradox aushebeln: Traditionen neu stiften.
Um sich dem Farcehaften zu entwinden, war der Gedenkzug durch historische Zitate unterbrochen und endete in einer Kontrafaktur. Die heutigen „Verteidiger von Wien“ haben das bekannte Arbeiterlied “Die Arbeiter von Wien” gekapert, umgedichtet und am Kahlenberg angestimmt:
Wir sind die Künder der kommenden Welt.
Wir sind der Sämann, die Saat und das Feld.
Wir sind die Schnitter der kommenden Mahd.
Wir sind die Zukunft und wir sind die Tat.|: So flieg, du leuchtende, du gold’ne Fahne,
voran dem Wege, den wir zieh’n.
Wir sind der Zukunft getreue Kämpfer.
Wir, die Verteidiger von Wien. 😐Völkerzerstörer, ihr Herren der Welt,
endlich wird eure Herrschaft gefällt.
Wir, das Fanal, das die Zukunft erschafft,
sprengen der Fesseln engende Haft.(Refrain)
Wir sind Europas lebendiger Geist
der alle Krusten der Feigheit zerreißt
für Heimat, für Freiheit und für Tradition
kämpft eine ganze Generation.
Valjean72
Nur eine kleine Randbemerkung, da bei dieser Veranstaltung auch französische Patrioten zugegen ewaren.
"Die Stadt [Anm.: Strassburg] wurde mitten im Frieden im September 1681 durch Frankreich besetzt. Der französische König nutzte hierbei die militärische Schwäche der Straßburger Schutzmacht (des deutschen Kaisers) aus, da die habsburgische Residenzstadt Wien ihrerseits von den Türken bedroht wurde." (Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Stra%C3%9Fburg#Geschichte)
So viel zur christlichen Nächstenliebe im real existierenden Abendland jener Tage. Das katholische Frankreich machte im dreissigjährigen Krieg auch gemeinsame Sache mit dem protestantischen Schweden. Hauptsache der Krieg wurde damit verlängert, so dass "Deutschland" weiterhin ausblutete.