Ich bin ein paar Tage allein mit der Jüngsten. Wir lesen die Nibelungen.
Mit den anderen Kindern hatte ich die auch „durchgenommen“, in unterschiedlichen Nachdichtungen, diesmal ist Franz Fühmann dran. Die liebe Kleine hat die ersten Verse mittelhochdeutsch auswendig gelernt und folgt begeistert. Passagenweise hört sie staunend zu, dann will sie diskutieren, es ist eine Freude!
Nur eine komische Sache hat sich im Köpfchen festgesetzt: „Falls im Nil wirklich der Schatz der Nibelungen…“ – „Im RHEIN!“-„ Achso, ja. Ich verwechsle immer Nil und Rhein.“
So geht das zwei, drei Mal über die Vorlesungsabende. Zweimal muß ich lachen, beim dritten Mal bin ich (eigentlich ist die Jüngste nämlich ein echter Topographie-Spezi, sie schlägt darin sogar ihre ältere Schwestern) genervt: „Mann! In DEUTSCHLAND fließt der RHEIN und NICHT DER NIL!! Das kann man sich ja wohl mal merken?“
Die Tochter streichelt beschwichtigend meine Hand: „ Mama, Entschuldigung bitte. Eigentlich sind nicht die Flüsse das Problem. Manchmal verwechsel ich einfach Deutschland und Sudan.“
Wer’s nicht glaubt, kennt meine Tochter nicht. Und eh: Kann ja mal passieren. (Nachgereichter Kommentar einer altklugen Großen: In Deutschland stecke ja schon buchstäblich der Sudan.)
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31. Dezember 2017 – Die Nibelungen sind so sehr unser Stoff! Ach, es würde den Rahmen dieser heiteren Kolumne sprengen, wie sehr! Und nun Fühmann, der Herzensgute, der Verblendete, der Reine, der Drecksack, der zugleich wahrer Poet und Kitschkünstler war…
Ich selbst stamme aus einem ganz und gar unakademischem Haushalt, aber die väterlichen Erzählungen von den Nibelungen haben meine Kindheit durchzogen, viel mehr als alles von den Grimms.
Als wir anno 2002 in dieses verfallene Rittergut eingezogen sind, gab es folgende Episode: Im Juli rollten wir mit einem Umzugstransporter auf dem Hof. Drei kleine Kinder waren an Bord. Ich war deutlich schwanger und trug, weil‘s ein schmutziger Tag war, ein schmutziges T‑Shirt einer bekloppten Trash-Metal-Band („Torment“).
Vom Haus gegenüber (das mochte annodazumal ein Gesindehaus des alten Guts gewesen sein) beobachteten einige gescheitelte Kerle unseren Einzug mit Argusaugen. Bald wurden stramme Parolen rübergerufen: „Sie betreten doitsches Gebiet!“ Usw., usf., – entsprechend doitsche Musik schallte bald rüber. Es war klar, daß wir die Feinde aus dem Westen waren, die Öko-Punks oder so.
Kubitschek war noch am selben Abend rübergegangen, um Hallo zu sagen. Fazit: „Kräftige Kerle, ohne Maßstab, auf dem völlig falschen Dampfer.” Aber bestimmt nicht unrettbar! In den folgenden Monaten nahm er sich die Jungs von Gegenüber regelmäßig zur Brust. Das waren keine Rechtsradikale, das war haltloser patriotischer Bodensatz!
Kubitschek fand, dort müsse man nicht mit Geschichtsstunden beginnen, sondern mit ganz einfachen Grundlagen. Er wählte die Nibelungen, schlichteste Nacherzählung. Drei der vier Jungs erwiesen sich als mehr oder weniger gut bildbar. Der vierte nicht. Es stellte ich bald heraus, daß Ronny Herz (der eigentlich anders heißt) glatter Analphabet ist. Er konnte Kubitscheks sehr simple „Hausaufgaben“ schlicht nicht lesen! Für uns war das damals ein Schock.
Die WG von gegenüber hatte sich nach wenigen Jahren aufgelöst. Einer der vier Jungs hatte sich totgefahren. Ein weiterer ist ein guter Kunde von Antaios.de. Vor zwei Jahren lernte ich eine beeindruckende Frau kennen, die sich nach anregendem Gespräch als Freundin von X. vorstellte. Von „Ronny“ aber: kaum eine Spur.
Und nun das: Nach Weihnachten waren eine Menge Bestellungen im Verlag angelaufen. Das Vertriebsbüro war schmal besetzt, deshalb half ich beim Schreiben der Rechnungen. Ausgerechnet einmal „Sieferle, Finis Germania“, ging an Ronny Herz. (Auch sein echter Name ist nicht gerade Massenware. Er muß es also sein.)
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1. Januar 2018 – Du liebe Güte: Im Bestand der Potsdamer Stadtbibliothek finden sich angeblich „auch rund 20 umstrittene Bücher – mit neurechter Ideologie und Verschwörungstheorien. Sie heißen Finis Germania, Die Asyl-Industrie oder Kontrollverlust.“
Die „umstrittenen“ Autoren Udo Ulfkotte (ehemaliger FAZ-Redakteur) und Rolf-Peter Sieferle (ordentlicher Professor der Geschichtswissenschaften) dürften im Grabe rotieren angesichts der Etikettierung; Schulte; sechsundzwanzig Jahre lang mehr oder weniger prominentes CDU-Mitglied und rechtschaffener Unternehmer, dürfte wenigstens mit den Augen rollen.
Bei den „Potsdamer Neueste Nachrichten“ ist man aber alarmiert. PNN-Redakteur Henri Kramer äußert in altväterlichem Ton:
Es sind einige solcher Schriften zu viel. Es lässt sich nämlich trefflich argumentieren, dass in Zeiten, in denen im Internet jede noch so absurde Verschwörungstheorie und rechte Hetze jedweder Art als normale Meinungsäußerung durchgehen, solche Inhalte nicht noch in öffentlichen und von Steuergeldern bezahlten Bibliotheken angeboten werden müssen.
Geh ich auf die Netzseite der PNN, erhalte ich dort sofort und prominent eine „kostenlose Spieleinladung“ zum militaristischen Computerspiel „Call of War“. Geh ich auf die Netzseite der Potsdamer Stadtbücherei, finde ich dort im Katalog eine unglaubliche Menge an Verschwörungstheroriebüchern aus der Feder frei flottierender Stimmungsmacher.
Kurze Stippvisite: Volker Weißens Die autoritäre Revolte, linke Hetze und Angstmache vom Feinsten: entleihbar! Ganze fünf Bücher der umstrittenen linksradikalen Autorin Andrea Röpke: entleihbar! Majakowskis bolschewistische Revolutionslyrik, Lenins Ergüsse: entleihbar! Mit Steuergeldern! Usw., uvm.
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2. Januar 2018 – Vermutlich kommen nur Hausfrauen meines Typs von wesentlichen Fragen auf hausgemachte und vice versa. Der Beitrag von Thor Kunkel hat ja für ein hübsches nachträgliches Feuerwerk gesorgt.
Die einen klagen, „meine Güte, wie plump“, die anderen freuen sich: „Endlich sagt‘s mal einer!“
Unser hochgelahrter Disputant maiordomus hat dazu (und zu Beatrix von Storchens inkriminiertem Tweet) befunden:
Das ist, wie ich betonen möchte, keine Stilfrage oder Frage des guten Geschmacks, sondern eine Textsortenfrage. Desgleichen Thor Kunkel. In einem Forum, in dem es um politische Theorie geht und um die Vertiefung des langfristigen politischen Bewusstseins, passt die Propagandasprache nun mal nicht.
Nun zum Eingemachten: Wir sind ein photoapparatfreier Haushalt. Das ist keine Ideologie, sondern Neigung.
Wir haben nie ein Neugeborenes, nie einen Schulanfänger, nie eine Abiturientin etc. aus unserem Hause abgelichtet. Es existieren auch keine Urlaubsphotos. Vielleicht ist das schade – aber ist so. Gelegentlich kommen Photos auf uns, die Freunde oder Verwandte zu besonderen Anlässen geknipst haben: schön, freut uns!
Nun hatten unsere Kinder uns zu Silvester ein kleines Überraschungspaket serviert: kurze Gelegenheitsvideos aus dem vergangenen Jahrzehnt, irgendwie heimlich aufgenommen. Ach, war das herzig!
Auf dem Schnipsel, wo eine (heute längst große) Tochter durch die Gegend krabbelt, sehen wir einen einsamen Socken unter einem Schrank liegen. Ich, spontan: „Kenn ich! Der liegt immer noch dort!“ (Es stellte sich als Fehlbehauptung heraus. An gleicher Stelle lag nun ein anderer Singlesocken.)
Will sagen: Bei uns ist es nicht so steril. Ich sage gern: Wir sind Anti-Hygieniker. Immerhin hat keines unser Kinder Allergien oder leidet unter Gesichtsblässe- das wäre doch mal ein schöner Nebeneffekt.
Mein Motto als liederliche Hausfrau ist: Was echter Dreck ist oder in ästhetischer Hinsicht stört (Plastekram), muß weg, sofort. Alles andere kann man auch mal stehen- oder liegenlassen.
Der maiordomussche Hinweis auf die Textsorten ist zweifellos klug. Nichts gegen Reinheit, wenn es um echt pathogene Keime geht. Und doch, einem großen Haus steht ein wenig Drunterunddrüber ganz gut. Wir sind ja kein Museum. Nichts als das! Es lebe Thor, es lebe der Hausmeier!
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Franz Bettinger
Nicht, dass es wichtig wäre, aber fragen Sie mal die Kleine, welche 3 Länder sich der äußeren Form nach sehr ähneln? - Ich glaube, das weiß sie nur, wenn sie selbst mal Europa und die Welt auf Karton gemalt und dann die Länder mit der Schere ausgeschnitten hat, um eine Art Puzzel zu machen.
Antwort: Schweiz, Irland, Mongolei.