SEZESSION: Herr Kalbitz, die stärksten Milieus für die AfD bei der Bundestagswahl 2017 waren Arbeiter und Arbeitslose. Jeweils 21 Prozent stimmten aus ihren Reihen für die Alternative. Selbst gewerkschaftsgebundene Arbeiter wählten überdurchschnittlich die AfD. Eine Studie der Bertelsmann Stiftung verweist auf die Verluste der Linken in diesem Segment sowie auf die Verankerung der AfD im Gegenzug, und kommt zum Resümee: »Das zeigt, daß Die Linke den Kampf um ihr früheres Kernmilieu der Prekären bereits weitgehend verloren hat.« Nimmt die AfD diesen Ball auf?
KALBITZ: In den zentralen Gestaltungsbereichen der aktuellen deutschen Politik ist die soziale Frage, nicht nur in rein »technischer« und monetärer Hinsicht, der Nucleus dessen, was die Linke in antinationaler Variante als »Solidarität« proklamiert hat. Die Linke, sowohl SPD als auch DIE LINKEN, erleben nun die Erosion Ihres Hegemonialanspruchs auf alles, was sozial verortet ist, denn wir stellen diesen Anspruch in Frage.
Der partiell existenzielle Druck in nahezu allen Bereichen führt immer mehr Menschen zu einem entideologisierten, sachlich problemlösungsorientierten Denken. Keiner muß mehr Grüner sein, wenn er sich für Umweltschutz und gesunde Ernährung einsetzt. Keiner muß Linker sein, um sich für würdige Renten derer einzusetzen, die unser Land aufgebaut und erhalten haben. Und wertekonservativ sind die etablierten »Konservativen« längst nicht mehr; bestenfalls strukturkonservativ.
Bei den politischen Erfolgen geht es nicht nur um die Eroberung von Wähleranteilen im Bereich der »Arbeiter«. Es geht darum die, Spaltung der Gesellschaft durch ein sich verfestigendes Prekariat aufzuhalten und zu korrigieren. Besonders die Flüchtlings»krise« hat vielen Menschen klar gemacht: die Minderheiten- und Ideologiefixiertheit der etablierten politischen Protagonisten ist längst inländerfeindlich geworden.
Während eine Rentenangleichung Ost-West 27 Jahre lang leider nie möglich und immer zu teuer war und für immer mehr Rentner Flaschensammeln zu einem unverzichtbaren Zuverdienst wird, sprudeln die Milliarden für Willkommensfetischismus, Multikultiphantastereien und Gendergeschlechterzirkus.
SEZESSION: Altersarmut ist nur ein Beispiel. In Deutschland gibt es je nach Schätzung sechs bis acht Millionen Menschen im Hartz-IV-Status (darunter 1,9 Millionen Kinder) und eine Armutsquote von 15,7 Prozent. Die ärmere Hälfte des Volkes besitzt kein Nettovermögen, während die reichsten zehn Prozent des Volkes etwa 53 Prozent des Nettogesamtvermögens besitzen. Will die AfD ein Wirtschaftssystem erhalten, das solche Ungleichgewichte verstetigt oder sogar noch vergrößert?
KALBITZ: Die Entwicklung hat klar gemacht: Weder die Euro-Einführung noch die Globalisierung generell haben den Wohlstand in der breiten Masse gefördert, sondern die Umverteilung dynamisiert. Die Globalisierung hat mit dem Bruch des Grundsatzes »Geht es der Wirtschaft gut, geht es den Menschen gut« das Wirtschaftswachstum vom Wohlstandswachstum weitestgehend entkoppelt.
Das Prinzip der sozialen Marktwirtschaft ist ausgehebelt durch das Primat der Gewinnmaximierung und der Wachstumsideologie. Der Mittelstand erodiert durch den falschen wirtschaftspolitischen Fokus, den es zu ändern gilt. In der Wahrnehmung wird vergessen: Der Mittelstand schafft in Deutschland aktuell immer noch die klare Mehrzahl der Arbeitsplätze, nicht die Großkonzerne und »Global Player«.
Der Mittelstand muß zum Primat gesunder und stabiler Wirtschaft werden; der Rest ist »politisches Handwerk«: Neuausrichtung der Wirtschaftsförder- und Vergabepraxis, Anreize für Ausbildungsplätze, Bürokratieabbau, Sicherstellung der Rahmenbedingungen infrastruktureller Hinsicht von Stolperstraßen bis zu Funklochwüste und Schneckeninternet, eine Bildungspolitik, die ausbildungsreife Schulabsolventen zum Ziel hat. Die Maßnahmenliste ist konkret und keine Frage fehlender praktischer Lösungsansätze.
All das ist nämlich allein eine Frage des politischen Willens und der dazu nötigen Machtverhältnisse – dem Willen zur Rückkehr zu einer wirklich sozial orientierten Marktwirtschaft, in der die Wirtschaft für die Menschen arbeitet und nicht die Masse der Menschen für die Wirtschaft, in der sich Arbeit wieder lohnt, von der man wirklich gut und gerne leben kann – jeder nach seinem Leistungsvermögen und seiner Leistungsbereitschaft. Eine reine Gleichmacherei im Sinne pauschaler Umverteilung ist nämlich auch keine Lösung.
SEZESSION: In der AfD gärt es insbesondere in diesen Wirtschaftsfragen. Ein Funktionär sprach in einem Positionspapier von einem »Volkskapitalismus«, der anzustreben sei. Andere kritisierten diese Thesen zum Teil scharf. Ist die soziale und ökonomische Frage ein Spaltpilz?
KALBITZ: Die soziale und ökonomische Frage ist für die AfD kein »Spaltpilz«, sondern ein vorbereitetes Feld, das jetzt auf die Saat wartet. Im sehr dynamischen Aufwuchs der AfD hat sich ja auch in der ideellen Historie unserer Partei eine Entwicklung vollzogen; der politische Themenfokus hat sich deutlich verbreitert. Die AfD ist von einer eher Europolitik-fixierten »Spartenpartei« explizit sehr marktliberaler Prägung zu einer potentiellen, dezidiert wertekonservativen Volkspartei aufgewachsen – mit der damit verbundenen Themenbreite.
Sicher wird und muß es Diskussionen in der »Feinausrichtung« geben, aber das bisher erarbeitete Parteiprogramm bietet mit seiner klaren Grundausrichtung dazu einen guten und fundierten Rahmen. Es ist zum Teil mehr eine mentale Frage, den Konsens über den Dissens in Einzelfragen zu stellen. Aktuell ist aus meiner Sicht hinsichtlich der nötigen sozialpolitischen Fundierung die Erarbeitung eines tragfähigen und – durchaus mit Mut – verwirklichbaren Rentenkonzeptes ein maßgeblicher Baustein.
SEZESSION: Dieses Feld will auch die Linkspartei bespielen. Und gerade bei ihr hat der Erfolg der AfD Auswirkungen: Der in Fragen von Masseneinwanderung und Sozialstaat realistische Flügel um Lafontaine und Wagenknecht begehrt gegen den Mehrheitsflügel auf, der offene Grenzen und Bleiberecht für alle fordert.
Gleichzeitig blinkt die CSU wiederholt rechts und kann im liberalkonservativen Milieu auf zahlreiche Menschen bauen, die sehnsüchtig auf einen angedeuteten »Rechtsruck« der Union warten. Der Druck erfolgt gewissermaßen also von beiden Seiten. Sehen Sie eine doppelte Gefahr, daß eine Union-Minus-Merkel ebenso zahlreich Wähler der AfD gewönne wie eine Linkspartei-Minus-Refugees-Welcome?
KALBITZ: Während sich die AfD konsolidiert, segmentieren sich die Union und die Linken. Denn irgendwann hat jeder wirklich inhaltliche Spagat Schmerzgrenzen, wenngleich der Union die Nebelkerzen sicher nicht so rasch ausgehen werden. Aber die Glaubwürdigkeit ist weitestgehend dahin. Die Union hätte sich auf Franz-Josef Strauß besinnen sollen, der einmal gesagt hat: »Wer immer versucht hat, everybodys Darling zu sein, ist irgendwann everybodys Depp.« Auch die LINKE wird diesen Spagat zwischen internationalistischer Multikultiutopie, in die sie sich unentwirrbar verstrickt hat, und rigiderer Flüchtlingspolitik nicht verletzungsfrei überstehen.
Es ist also eher eine doppelte Chance für die AfD, sowohl bei Wählern als auch Mitgliedern. Besonders die Union, die sich bis zur Unkenntlichkeit verbreitert hat im Kampf um die ominöse »Mitte«, hat sich als inzwischen inhaltlich unverortbar entmerkelt, bis zur Beliebigkeit enttarnt. Das christlich-sozial-demokratische Profil ist dahin, auch wenn es klägliche Korrekturversuche gibt. Das Interesse wertkonservativer Wähler und Mitglieder an einer wirklichen Alternative ist groß.
SEZESSION: Noch hält man Ihre Partei von den politischen Gestaltungsmöglicheiten fern …
KALBITZ: Der Ton der Union gegenüber der AfD wird sich ändern, wenn es um denkbare Zukunftskonstellationen geht. Hier muß für die AfD entscheidend sein, keinen verfrühten Verlockungen einer vermeintlichen Machtbeteiligung zu erliegen. Unser Auftrag ist Gestaltung und nicht Mitverwaltung.
Als Juniorpartner darf sich die AfD auf Angebote einer potentiellen politischen Todesumarmung durch die Union auf absehbare Zeit nicht einlassen, bis die Spielräume realpolitischer Wirkmacht ausreichend sind. Politische Wirkung vor technischer Beteiligung – und es geht ja auch um mehr: den grundsätzlichen Paradigmenwechsel mit der Historisierung des linken Hegemonialkonsenses durch die AfD als positiver konservativer und demokratischer Konterrevolution.
Eine ähnliche Entwicklung gibt es bei der LINKEN ebenso. Die LINKE marginalisiert sich auch durch den Umstand, daß sich die Hoffnung auf eine gestalterische Umsetzung für viele Wähler nicht erfüllt hat. Überall dort, wo die LINKE mit in der Verantwortung war, hat sie nicht geliefert, sondern »Refugee-welcome«-Fanatismus, Minderheitenfixierung und Gendergaga mitgetragen.
Die Paralyse, die bei der Sozialdemokratie längst in vollem Gange ist und durch eine potentielle große Koalition einen Katalysatoreffekt erfahren wird, wird langfristig auch die LINKE erreichen und deren politische Randverfestigung verstärken. Die wirkliche Alternative für eine neue Volkspartei ist ja längst da.
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Andreas Kalbitz sprach am 21. Januar 2018 im Rahmen der 18. Winterakademie des Instituts für Staatspolitik über die soziale Frage und die AfD. Ein Veranstaltungsbericht findet sich hier.
Der_Juergen
Ausgezeichnet, jedes Argument stimmt. In der AFD gibt es ersichtlich eine sehr grosse Zahl heller Köpfe. Vielleicht hat Andreas Kalbitz Benedikt Kaisers "Querfront" gelesen; die Parallelen in der Argumentation sind unübersehbar.
Die jahrelange, geduldige metapolitische Arbeit der Neuen Rechten trägt offenbar ihre Früchte. Man darf sich freuen.