Insbesondere die religiösen Aussagen des Romans und Tschudinowas »Russentum« scheinen mir etwas zu kurz gekommen zu sein. Denn Europa könnte in wenigen Jahrzehnten durchaus so aussehen.
Der Roman, der erst kürzlich ins Deutsche übersetzt wurde, bildet zusammen mit Michel Houellebecqs Unterwerfung und Jean Raspails Das Heerlager der Heiligen ein literarisches Triptychon, das sich mit aller Vehemenz und Subjektivität dem drohenden Untergang der europäischen Kultur widersetzt. Es ist eine Aufforderung, sich zu wehren gegen die Invasion unseres Kontinents, damit man nicht mit Johann Gottfried Herder sagen muß: »Hier war kein Griechenland, kein Rom mehr; Europa war ein dunkles Getümmel ziehender Barbaren.«
Besprechungen des Romans sind spärlich. Einzig die FAZ veröffentlichte 2006 eine (halbwegs wohlwollende) Kritik zur russischen Ausgabe. Drei Interviews mit Jelena Tschudinowa existieren: Hier (Oktober 2017), in Compact (01/2018) sowie in der katholischen Tagespost (November 2017). Kurioserweise gibt es die meisten Urteile bei den Käufern auf Amazon (fast alle mit »5 Sternen«).
Houellebecq beschreibt den schleichenden und legalen Übergang durch den Wahlsieg des muslimischen Kandidaten über Marine Le Pen zu einem islamischen Frankreich; der »atheistische Humanismus«, der Europa eignet, als ein ungeheurer Hochmut hatte den Weg dazu bereitet. Europa war an sich selbst zugrundegegangen, und vielleicht muß man doch den eingangs zitierten romantischen Reaktionär Herder (dessen Kontext war der Untergang des Weströmischen Reichs) ergänzen: »Weil wir schon alle Barbaren waren.«
Bei Raspail (hervorzuheben ist, daß er wirklich ein katholischer Reaktionär und Monarchist ist: der Titel nimmt direkt ein Wort aus der Offenbarung des Johannes 20, 7ff auf) geht das »Abendland« wirklich unter, als fast eine Million Flüchtlinge an Frankreichs Küsten landen; alles, Verwaltungsapparate wie Armee, löst sich auf.
Sein nahezu unbeteiligter Erzähler registriert emotionslos die »dunklen Bataillone aus der Dritten Welt«, vor denen die »Weißen« die Augen verschließen und sich die Ohren verstopfen vor der Katastrophe und stellt am Ende fest: » … daß die verschiedenen Rassen inkompatibel sind, wenn sie im selben Raum leben müssen.«
Tschudinowa setzt nun da ein, wo Houellebecq und Raspail endeten: Die Katastrophe, der neue Fall von Konstantinopel, liegt etwa 20 Jahre zurück.
Der »große Austausch« hat schon stattgefunden und hat sich in Frankreich, Deutschland und England zementiert. Die Scharia hat alle drei Länder im Griff, die Vollverschleierung ist Pflicht auch für Nicht–Muslimas, barbarische Beschneidungen gehören zur Tagesordnung, Winzer, die illegal Trauben zu Wein machen, werden ohne Gerichtsverfahren gesteinigt; die Scharia-Polizei, die ausgerechnet die FAZ (tempi passati!) »eine Art islamische SA« nennt, ist allgegenwärtig. Alle, die nicht zum Islam konvertierten, leben in Ghettos, »bar jeder Hoffnung, voller Armut und Enge.«
In diesem Jahr 2048 findet der letzte Versuch des Aufstands statt; die unbeugsam verbliebenen Christen fliehen in die Schächte der weitgehend stillgelegten Metro in Paris. Drei Gruppierungen bilden den Kern des Widerstands: Sogenannte »Maquisards«, deren politische Ausrichtung etwas diffus bleibt; am ehesten sind sie als Sozialrevolutionäre oder Anarchisten zu bezeichnen; sie begehen mit heiterer Gesinnung Attentate auf Führer des Regimes; weiter natürlich die Christen und ein geheimnisvoller serbischer Agent (zu ihm unten mehr) in russischen Diensten.
Als die Herrschenden planen, die Ghettos, in denen die verbliebenen Christen eingepfercht sind, zu liquidieren, wird der Plan gefaßt, sie aus den unterirdischen Gewölben hinauszuführen und ihnen die Flucht in die Wälder der Vendée zu ermöglichen. Der »Waldgang« Ernst Jüngers soll die Leben retten.
Die Würdigung eines Romans muß auch literarische Kriterien einschließen: Auffällig ist, daß Tschudinowa überwiegend aus einer personalen Perspektive erzählt; es sind Personen aus Fleisch und Blut, deren Gedanken und Gefühle der Leser oft in direkter Rede erfährt und in die sie alle Empathie hineinsetzt.
Vielleicht gerade dadurch geraten sie bisweilen etwas schematisch, inkonsistent und widersprüchlich, wie auch der Renovamen-Verlag auf seiner Netzseite konzediert. Tschudinowa fühlt von ganzer Seele mit ihnen; dabei gerät ihr manchmal die Erzählstruktur abhanden; Brüche fallen auf. Stilistische Unbeholfenheiten (»Ihre großen Augen waren Preußischblau wie der Berliner Nachthimmel«) findet man hin und wieder.
Aber verfehlt wäre es, mit philologischem Dogmatismus an einen solchen Text heranzugehen. Die Botschaft gilt es zu erhellen.
Wie sich dieses düstere Europa entwickelt hat, erfährt der Leser vor allem durch Rückblenden. Der »Euroislam« stützte sich in seinem Vordringen auf die extrem radikale »Masse der Ungebildeten und Armen«, deren elementarer Gewalt sich selbst die »aufgeklärten Muslime der zweiten und dritten Generation« unterwarfen. Herrschende Klasse sind die Scheichs aus den arabischen Ländern; Die NATO ist auseinandergebrochen.
»Das geschwächte Amerika war nur noch mit sich selbst beschäftigt« und kann mit Mühe einen Bürgerkrieg vermeiden. In Südamerika herrscht ein gespannter Waffenstillstand zwischen tribalen Gruppen. Bollwerk hinter dem »grünen Vorhang« ist nur ein erstarktes Rußland, dem sich Weißrußland und ein katholisches Polen, in dem der neue Papstthron errichtet wird, anschließen. Griechenland hat sich die Freiheit mit Millionen erkauft.
Tschudinowa ist zuvörderst Christin, fundamentale Katholikin. Im Interview mit Compact plädiert sie für »einen Schulterschluß der christlichen Völker.« Und der Sezession erklärt sie: »Aber für mich gehört die Zwietracht zwischen Katholizismus und Orthodoxie unwiderruflich der Vergangenheit an. Die Zeit ist für uns gekommen, sich angesichts einer gemeinsamen Gefahr zu vereinen.«
Eine der Hauptfiguren ist ein Pater Lotaire. Dieser ist ein Anhänger eines »fundamentalen« Christentums (Kapitel VIII) der Pius-Bruderschaft und lehnt die »Abirrungen« des 2. Vatikanums ab, das »den Niedergang der römisch-katholischen Kirche zu verantworten hat und dass sie schließlich aufgehört hat zu existieren.« Mit Vehemenz wendet er sich gegen einen alle Prinzipien einebnenden Glauben, der letztendlich alle Prinzipien der christlichen Wahrheit über Bord würfe.
Der »Liberalismus«, der alles zerfrißt, der allen und allem recht gibt, töte die wahre Kirche, so daß es »ein Auge ohne Sehkraft, ein Körper ohne Seele« wird. Jede Art von Mythos werde nur noch als Metapher aufgefaßt; so verliere der echte Glaube jeden Sinn und unterwerfe sich der reinen Faktizität, für die es nicht zu kämpfen und zu sterben lohne, so den Totalitarismus der islamistischen Herrschaft hinnehmend, um zu überleben. Ein fataler Irrtum des gutmenschlichen Vertrauens.
Beeindruckend sind auch die Schilderungen der Mysterien, als die letzte Messe in der nun geweihten Kathedrale stattfindet. Fundament des Heiligen ist die Offenbarung, die Gott den Gläubigen gibt, die aber nicht alle aufnehmen können; nur wirkliche Heilige »haben Offenbarungen und Visionen, ihnen ist vieles zugänglich, was uns verschlossen bleibt.«
Anders der Islam, der seit seinen Anfängen über keinerlei Mysterien verfügt; seine Wurzeln sind archaisch, und er ist eine Religion »ohne exegetische Traditionen; und eine Religion ohne Hermeneutik trägt den Keim zum Bürgerkrieg in sich« (Peter Brenner, Götterdämmerung. Tumult, Herbst 2017).
Häufig sind die Bezüge auf Papst Pius X., auf den sich die Anhänger des Kardinals Lefebvre berufen. Im Interview mit der Tagespost bekräftigt Tschudinowa: »Ich wollte deshalb in erster Linie damit zeigen, in wessen Name ich lebe, auf welchem großartigen Fundament Europa aufgebaut ist, ein christlicher Kontinent.«
Tschudinowa ist aber auch Russin: »Mein russischer Traum, daß wir es sein werden, die alle retten.« (Compact). Ein Serbe namens Slobodan Vuković, ein etwas undurchsichtiger Agent, ist eine ihrer Stimmen (Kap. III). Vuković ist ein Einsamer, der einerseits nur Beobachter ist, aber auch ein »hochfeines, präzises Gerät, welches das Gleichgewicht der Kräfte fixierte«.
Zu Slobodan Milošević hat er ein zwiespältiges Verhältnis. Er wirft ihm einerseits politische Unfähigkeit, ja Verrat vor; andrerseits sieht er ihn als Verteidiger der serbischen Rechte auf das Kosovo, der von den eigenen Landsleuten »wie die Pfote eines Tieres, die sich in einer Schlinge verfangen hatte«, dem Westen ausgeliefert wurde und ehrt ihn als Kämpfer gegen den Keim des Islamismus, den er im Kosovo versuchte auszutreten. Der Vorstoß der Muslime in den neunziger Jahren auf dem Balkan war das Vorspiel zum Dschihad gegen Europa, so im Interview mit Compact.
Er hat zunächst kein Mitleid mit den unterdrückten Europäern, weil er ihnen vorwirft, für die albanischen Terroristen der UCK 1999 einen blutigen Krieg geführt zu haben, um so den Boden zu bereiten für eine abermalige Neuzeichnung der Landkarte nach »Hitlers Vorgaben«. Aber, und auch dies ist eine Botschaft: »Aber jetzt müssen wir zusammenhalten … Ich sitze mit den Katholiken in einem Boot« (Kapitel VI).
Was also ist zu tun? Das Buch wurde bislang hierzulande ignoriert. Möglicherweise werden auch nicht alle Leser der Sezession die radikale katholische Überzeugung Tschudinowas teilen; auch nicht ihre »Serbophilie«. Man lese alle drei Romane. Man vergesse, daß es Unterschiede in der Haltung aller drei Dystopien gibt. Man vergesse ebenso, daß Menschen wie Parteiungen aus unterschiedlichen Gründen den drohenden Gefahren entgegenstehen.
Man gewinne Selbstachtung vor dem Eigenen und glorifiziere nicht die Wolke des drohenden Globalen, das über uns schwebt, oder spiele seine Gefahr herunter. Andernfalls werden alle Grundsätze des antik-jüdisch-christlichen Fundaments kollabieren: Gottesglaube, allgemeingültige moralische Werte, Verwurzelung in der Transzendenz. Freilich, wir sehen uns gegenüber: Einer agnostischen Kanzlerin; Kirchentagen, die den Höchsten sicher bald durch das »dritte Geschlecht« ersetzen werden, da es ja kein Oben und Unten mehr geben darf; einem Papst, der uns vor allem zu bewahren sucht, was Anstoß erregen könnte. Aber darüber kann man nicht einmal mehr eine Dystopie schreiben.
Nochmals die Autorin (Sezession). »Mein Buch ist kein Buch des Hasses gegen den Islam. Es ist ein Buch der Liebe für die Europäer, das heißt für die christliche Zivilisation, deren Zukunft mich ängstlich stimmt.« Und im Nachwort zur russischen Ausgabe: »Im Versuch, bei niemandem anzuecken, hat Europa seine Lebenskraft verloren. Es hat sich als unfähig erwiesen, die Ausbreitung neuer Barbarei zu verhindern.« Dies ist die »Botschaft«. Hoffen wir, daß sie gehört wird.
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Jelena Tschudinowas Die Moschee Notre-Dame kann man hier bestellen,
Franz Bettinger
Ein tolles Buch, besser als das Heerlager der Heiligen! So schrieb ich begeistert nach den ersten 70 Seiten unter den Titel 'Moschee Notre-Dame'. Gut gefielen mir die kurzen, aber aussagekräftigen, geschichtlichen Rückblenden, z. B. auf den Kosovo-Konflikt, Milosevic und wie die traditionell schlauen, reichen Griechen sich aus der Affäre zogen. Dann wurde mir das Buch schwer und schwerer. Der christliche Fundamentalismus stieß mir unangenehm auf, den ich so irre finde wie jeder andere Radikalismus. Mir gaben die Seiten 173 - 269 wenig Inspiration, was an meiner Aversion gegen religiöse Mystik liegen mag. Am Ende ärgerte mich das Roman-Ende und ich ergänzte mein Buch-Resümee so: 'Kultur-Banausen! Hätten die alten Griechen aus trotz die Akropolis und die Ägypter aus Symbolismus die Pyramiden sprengen sollen, als die Christen heranrückten?' Na ja, das mögen andere anders sehen. Ich bin trotzdem froh, diesen Roman gelesen zu haben. Er ist gut geschrieben, wartet mit Überraschungen auf, hat wunderbare Passagen und gehört in den Kanon der wichtigsten Bücher unserer Zeit. Das Verrückte an der beschriebenen Fiktion ist, dass sie tatsächlich wahr werden könnte. Das macht sich heute kaum einer klar. Insofern, lest das Buch und schaut in die Zukunft! Tschudinovas Buch deutet eine Hoffnung, einen Messias an. Etwas, das aus dem Osten kommen soll. Wie diese Rückeroberung aussehen könnte, darüber vielleicht einen Folgeband?