Marc Felix Serrao beantwortet in einem Text vom vergangenen Sonntag in der Neuen Zürcher Zeitung alle drei Fragen implizit mit “Ja” und weitet dieses Urteil auf den Sammelband Die selbstbewußte Nation (1994) aus, in dem der “Anschwellende Bocksgesang” als zentraler Text einen konservativ-revolutionären Ansatz einleitete.
Man fragt sich: Mit welcher Begründung urteilt Serrao eigentlich und warum gerade jetzt? Denn wer sich ausführlich mit der Widerlegung der Wichtigkeit einer Äußerung beschäftigt, bestätigt zuallererst ihre Bedeutung oder sieht sich zumindest genötigt, den Korken nochmals tiefer in den Flaschenhals zu drücken.
Serrao sieht in dem Ansatz von 1993–1995 (den man auch als den einer “Neuen demokratischen Rechten” beschreiben kann) vor allem die Schwächen einer zu breiten Anlage der Revolte. Er notiert:
Der Rechte, wie Strauss ihn definiert, steht teilnahmslos im Abseits. Von dort spottet und klagt er. Die Mitstreiter des Sammelbandes tickten anders; sie wollten politisieren. Aber sie tickten nicht im Takt. Das war die zweite Schwäche des Projekts, zumindest wenn man dessen selbsterklärten Anspruch berücksichtigt, ein «Manifest der konservativen Intelligenz in Deutschland» zu sein. Zu den Autoren zählten Transatlantiker wie der Historiker Michael Wolffsohn ebenso wie der neurechte Vordenker Karlheinz Weissmann. Beide Herren mögen nicht links sein, aber sie trennt viel mehr, als sie eint. Für den einen sind Liberalismus und Westbindung Grundpfeiler der Bundesrepublik, der andere sieht in ihnen Hürden auf dem Weg zur Formung einer neutralen Grossmacht.
Serrao schließt daraus auf ein Mißverständnis beim Blick auf die mögliche Leserschaft der “Selbstbewußten Nation” im Allgemeinen und des “Bocksgesangs” im Besonderen:
Fragt man jüngere Deutsche, die politisch interessiert sind, nach relevanten rechten Denkern, dann bekommt man als Antwort ein paar Tote und vielleicht den einen oder anderen Ausländer genannt.
Botho Strauss und seine Bewunderer sind für diesen Zustand mitverantwortlich. So besorgt Deutschlands Linke vor einem Vierteljahrhundert um das Milieu herumgesprungen sein mag, so egal war es allen anderen. Das liegt an den genannten Schwächen. Die offene Ablehnung der Massengesellschaft mag ein Gefühl der Überlegenheit vermitteln, aber sie verhindert, dass sich je eine kritische Masse angesprochen fühlt. Gleiches gilt für den Kampf gegen den westlichen Lebensstil. Der wird von einer grossen Mehrheit nicht als Verteidigung, sondern als Bedrohung des Eigenen wahrgenommen. Und schliesslich der Ton. Wer sich als Konservativer oder Liberaler heute kritisch über bestimmte politische Zustände äussert, hat sofort Claqueure am Hals, die «Merkel muss weg» brüllen oder der «Lügenpresse» den Kampf erklären. Für diesen geistfeindlichen Jargon (der links auf eine andere Weise wuchert) hat der Sammelband mit seinem Gerede von Denk- und Sprechverboten eine erste Saat gelegt.
Dies alles ist ein bißchen richtig vermutet, insgesamt aber gründlich falsch. Serrao hat keine Ahnung davon, wie “wir” lasen und lesen, und er übersieht seltsamerweise, daß gerade solche Lektüren uns davor feien, “geistfeindlichen Jargon” zu verbreiten. Serrao hat kein Gespür dafür, warum manche Texte Wirkungstexte, Auslösertexte sind und andere nicht. Seltsam ist, daß er in dieser Frage in Karlheinz Weißmann einen Bruder des Mißverstehens im Geiste gefunden hat.
Ich war neben Weißmann und Dieter Stein im Februar diesen Jahres in Kopenhagen Referent auf einem Tagesseminar, das sich ausschließlich um “25 Jahre Anschwellender Bocksgesang” drehte. Nachdem ein schwedischer Literaturwissenschaftler großartig über den Platz des “Bocksgesangs” im Werk von Botho Strauß gesprochen hatte, kamen die Deutschen an die Reihe.
Dieter Stein erzählte wie immer von seiner Wochenzeitung. Karlheinz Weißmann berichtete, daß ihn das Aufkommen der AfD von der Wirkungslosigkeit von Schreibmühen und Analysen innerhalb einer “Kulturrevolution von rechts” ohne politischem Arm überzeugt habe, und er sei sich darin mit Alain de Benoist einig.
Ich sah und sehe dies fundamental anders und war, ehrlich, ziemlich erschüttert über diese Verkennung der Wirkung von Strauß und anderen, und ich frage mich, wie jemand, der nur schreibt, auf so etwas verfallen kann.
Aber diese Verkennung ist ja folgerichtig, Lucke war auch so einer. A‑musische Menschen können zu keinem anderen Schluß kommen, sie wissen nichts vom “tiefen Deutschland”, über das Strauß schrieb und dessen Versinken er bis heute betrauert, dessen Versinken auch wir betrauern, wobei wir trauernd das tun, was jeder Baum auch tut: Die Wurzeln dem absinkenden Grundwasser hinterhertreiben. Es ist wohl diese Fähigkeit, die man aus der Strauß-Lektüre lernen konnte, und diejenigen, die sich so belehren ließen, bilden eines jener unterirdischen Geflechte, die heute wirksamer sind denn je.
Ich war in Kopenhagen jedenfalls sehr froh, daß ich musisch kontern, daß ich anders vorlegen konnte. Seither war mir im Schweinsgalopp des Verlegerseins mein Vortrag aus dem Sinn gerutscht. Anläßlich der Sommerlektüre Serraos kann ich ihn nun denen entgegenhalten, die nicht wissen, was ein Text vermag. (Hier ist der Vortrag als pdf verfügbar.)
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»Anschwellender Bocksgesang« – ein Auslösertext
Vortrag vom 15. II. 2018, Kopenhagen.
1.
Es gibt Schriftsteller, deren gesamtes Werk durch einen einzigen Text eine starke Färbung erfährt. In der Deutung der Gegner ist diese Einfärbung eine Kontamination, die nach hinten das bereits Geschriebene und nach vorn das noch zu Sagende beschmutzt. Die Sympathiesanten hingegen (und leider nicht nur die lese- und urteilsfähigen) nutzen den Markierungstext als Lesehilfe für alle anderen Texte aus der Feder des einmal Vereinnahmten.
Botho Strauß ist auf seinen Essay »Anschwellender Bocksgesang« festgelegt, der am 8. Februar 1993 im Spiegel erschien. Strauß hatte mit diesem Fanfarenstoß dem Reiz einer Gegen-Aufklärung von rechts einen hallenden Ton gegeben und war schlagartig ins Zentrum der politischen Wahrnehmung gerückt. Die Aufnahme seines Textes in den Sammelband Die selbstbewußte Nation (1994) räumte letzte Zweifel an einem Mißverständnis aus: Hier deutete einer die Lage aus rechter Sicht, und die Panik vor dieser Perspektive lenkte den fassungslosen Weggefährten von links den Blick ab von der Ambivalenz des Textes. Denn immerhin stellte Strauß den Deutschen im »Bocksgesang« ein schlechtes Zeugnis aus:
Nach der Würde meines deformierten, vergnügungslärmigen Landsmannes in der Gesamtheit seiner Anspruchsunverschämtheit muß ich lange, wenn nicht vergeblich suchen.
Die intellektuelle Rechte las bis auf wenige Ausnahmen vernutzend und nicht gründlich: Hier begrüßte man einen im eigenen Denklager, den keiner auf der Rechnung gehabt hatte. Denn unter uns gab es nur wenige, die das Werk von Strauß bereits vor diesem Werk-Bruch als literarisches Ereignis verfolgt hatten. Wer kannte schon den Roman Der junge Mann, wer den Aufstand gegen die sekundäre Welt, den philosophischen Schlüsseltext Beginnlosigkeit oder auch nur eines der Theaterstücke? Vieles jedenfalls, das von da an nachholend gelesen und diskutiert wurde, nahm den Charakter einer Beschäftigung mit einem Braten an, von dem man mit
einem am »Bocksgesang« geschliffenen Messer die passenden Stücke heruntersäbeln konnte. Derlei wird Botho Strauß nicht gerecht, aber auch mein Verlag und die von mir verantwortete Zeitschrift Sezession handelten insofern festlegend, daß bisher kein Beitrag über Strauß ohne einen Verweis auf den »Anschwellenden Bocksgesang« auskam, ja daß auf diesen Grundpfeiler unserer Selbstvergewisserung als Rechtsintellektuelle Balken und Streben und Sparren aufgesetzt wurden, die ohne ihn bloß einen weit minder soliden Halt gefunden hätten.
Es war auch zu verlockend, aus dem »Anschwellenden Bocksgesang« Textstellen zu schneiden, die wie Parolen klangen und uns die schwierige und mißachtete Lage unseres Denkmilieus erträglicher machten oder dieser Lage würdige Namen gaben:
Was sich stärken muß, ist das Gesonderte. oder: So viel Stoff, um ein Einzelgänger zu werden! und: Das einzige, was man braucht, ist Mut zur Sezession!
Es stammt von dort her der Name unserer Zeitschrift: Sezession. Woher kommt bei Botho Strauß der Mut zur Absonderung? (Und damit ist nicht sein zurückgezogenes Leben in der südlichen Uckermark gemeint, sondern seine Medienhygiene, seine geistige Hermetik und die Disziplin, einsam weiterzudenken und vor allem: weiterzuleben). Aus seiner Kindheit und Jugend in Bad Ems? Oder aus dem Vorbild seines Vaters, der in Naumburg nach dem Krieg alles zurückließ, um seine Freiheit zu behalten und im Westen weit unter Niveau sich verdingte. In seinem jüngst erschienen, autobiographischen Buch Herkunft schreibt Strauß:
Immer formt Schicksal eine tiefere Einsicht, als die Intelligenten, die seine Macht nie zu spüren bekamen, sie für sich in Anspruch nehmen dürfen.
Nimmt Strauß für sich ein »Schicksal« in Anspruch? Oder ist sein Satz eine Verbeugung? Oder gar eine Beschwörung? Denn was, wenn wir in einer Zeit lebten, die das Schicksal ausgehebelt hat? Der »Anschwellenden Bocksgesang« muß als mittlerweile bereits historischer Text gelesen werden, als Arbeit nämlich, die unter dem Eindruck der Diskussion über das »Ende der Geschichte« entstand. »Delta« nennt Peter Sloterdijk diesen Zustand, in dem kaum mehr etwas rauscht, sondern alles sich absetzt, sedimentiert, in die Breite zerfließt – eine horizontale Bewegung, ein Tümpeln, Versickern, Dümpeln, aufs Politische übertragen: ein Aussitzen, ein verantwortungsloser Zustand.
Der »Bocksgesang«: ambivalent in dieser Frage, und dennoch wischte Strauß diese Erlösungshoffnung mit einigen der kräftigsten Sätze seines Textes beiseite:
Zwischen den Kräften des Hergebrachten und denen des ständigen Fortbringens, Abservierens und Auslöschens wird es Krieg geben. … Da die Geschichte nicht aufgehört hat, ihre tragischen Dispositionen zu treffen, ann niemand voraussehen, ob unsere Gewaltlosigkeit den Krieg nicht bloß auf unsere Kinder verschleppt.
Rückgewinnung der Bewegung nennen wir den Versuch, die Zukunft offenzuhalten, aus dem Delta zu entkommen, Verantwortung zu übernehmen und den Krieg nicht auf unsere Kinder zu verschleppen. Selbsterregung und Romantisierung sind vor allem in Deutschland die zu diesem Zweck erprobten Methoden.
2.
Der Publizist Simon Strauß hat im vergangenen Sommer seinen ersten Roman vorgelegt: Sieben Nächte ist ein knapp gehaltenes Werk mit einer nicht uninteressanten, aber von Konstruktionsgeräuschen nicht freien Rahmenhandlung: Im Auftrag seines Verlegers soll der Protagonist in sieben aufeinanderfolgenden Nächten die Sieben Todsünden durchexerzieren und jeweils bis zum Morgengrauen ein Erlebnisprotokoll abliefern. Als mir meine Frau, die Publizistin Ellen Kositza, diese Inszenierung »krasser Erlebnisse« dann aber im Auto auf einer Fahrt nach Serbien vorlas, dachten wir uns bald: ziemlich zahm, hört meist dort auf, wo es anfangen könnte; und so wäre dieses Buch neben den vielen weiteren Erstlingen und coming-of-age-Stücken junger Autoren nicht weiter aufgefallen, wenn es nicht aufgrund zweier Merkmale aus der Bücherflut herausragte:
Simon Strauß ist erstens der Sohn von Botho Strauß, und wie bei allen Söhnen bekannter (um nicht zu sagen: großer) Männer, wird auch bei ihm jeder ambitionierte Schritt ins Bewegungsfeld seines Vaters hinein daran gemessen, wie weit der Apfel vom Stamm gefallen ist. Botho Strauß nun – ein Abgeschiedener, ein Renegat (nicht dezidiert, aber implizit), ein Reaktionär, ein Gegenaufklärer, Schmitt-Leser und Jünger-Versteher, und vor allem eben der Autor des »Anschwellenden Bocksgesangs«, dieses Code-Textes für die deutsche intellektuelle Rechte, um den es heute geht.
Das alles kann am Sohn nicht vorbeigerauscht sein, ohne Lektüren gelenkt und Felder erschlossen zu haben, und durch diese Brille rezipierte man nun seinen Roman – eine Aufladung, die dem deutsche Feuilleton für ein Skandälchen würde reichen können.
Sie reichte natürlich: Das deutsche Feuilleton, das wie ein Flipperautomat funktioniert (wenn man die Kugel nur geschickt genug gegen die Signallämpchen schießt) wurde hellhörig, als der Sieben Nächte kleine Welle deutscher Romantik und schwärmerischer Sinnsuche über die Deichkrone in den eigenen, grell ausgeleuchteten, transparenten Siedlungsraum schwappte, in die Filterblase der selbstreferentiellen Rezensenten- Community. Es gibt dort immer wenigstens einen hellwachen Aufpasser, der einem aus Signalbegriffen gespeisten Anfangsverdacht nachgeht und das, was »dem Leser« untergeschoben werden soll, auf seinen toxischen Gehalt hin untersucht. Diese Sieben Nächte, hieß es, seien ein »mannhaftes Geraune«, es komme irgendwie an, treffe auf eine Leerstelle, ein Vakuum – und das war nur der Auftakt, das Stichwort: Man liest in Deutschland, wo die innere Not der äußeren Notlosigkeit herrscht, den Straußschen Kurzroman nun tatsächlich als »leidenschaftliches, angstfreies, traditionstrunkenes, zukunftsgieriges Kampfbuch gegen die Abgeklärtheit« und als »ein Manifest für mehr Mut zum Pathos, für Sinnlichkeit, Offenheit, Begeisterung, Gegnerschaft, Streit und Tränen«.
Da war also einer doch ziemlich in der Nähe seines Vaters unterwegs, mithin in einem Gelände, das man nur unter dem strengen Blick einer Gouvernante betreten sollte, und so mochte es sich lohnen, ein bißchen im Leben dieses Sohnes herumzustochern. Denn nichts kommt von nichts in einem Land, in dem eine rechte Partei scheinbar wie ein UFO im Bundestag gelandet ist und nun eine Hundertschaft Soziologen mit der Frage beschäftigt, woher das komme, das doch gegen jede Logik und vor allem: gegen jede gesellschaftliche Erziehung Platz genommen habe.
Vom Lesegenuß, von der Rezension also zur Durchleuchtung aller Sieben Nächte: sprachliche Röntgenapparate, Beziehungsdiagramme, eine erste Spur, dann wird die Praline ausgepackt: Simon Strauß – ein verkapter Rechter. Der Sohn, nun doch wohl ganz der Sproß seines Vaters, war in Berlin über Jahre Teil eines “Jungen Salons”, den er mit anderen jungen Publizisten, Künstlern, Verlegern, Unternehmern und Dandys führte. Man traf sich in Privaträumen und lud jeweils einen Gast ein, der Thesen vorzutragen und ein Gespräch anzustoßen hatte. Die Praline: Vor drei Jahren war ich dort zu Gast, war als Verleger, Autor und Pegida-Redner interessant genug für einen hitzigen Abend.
Ich schrieb später ausführlich darüber, nannte keine Namen, aber Strauß und Robert Eberhardt und Hans Magnus Enzensbergers Tochter Theresia nahmen mir diese verdeckte Indiskretion so übel, daß der Kontakt beinahe ganz abbrach. Ich war aber so konsterniert gewesen, damals, daß ich im »Anschwellenden Bocksgesang« einige Passagen nachgelesen hatte, um mich zu vergewissern, denn »der Rechte ist – in der Richte: ein Außenseiter«, und kaum je war mir das so deutlich geworden wie im Kreise dieser gebildeten, belesenen, ambitionierten und in den Startlöchern ihrer Schreibkarrieren stehenden Kinder unserer Zeit.
3.
Diese Kinder unserer Zeit sind mittlerweile zu jungen Redakteuren und Autoren der traditionsreichen Blätter und großen Verlagshäuser geworden, sie haben allesamt noch mindestens drei Berufsjahrzehnte Zeit, um das geistige Leben der Bundesrepublik Deutschland mitzuprägen, und für mich und meine Frau war der Besuch im »Jungen Salon« dieser Leute eine Zeitreise und zugleich eine in ein anderes, sehr fremdes Land. Die Einladung war erfolgt, weil Strauß und andere den Briefwechsel gelesen hatten, den ich mit dem Soziologen und Kursbuch-Herausgeber Armin Nassehi geführt hatte, und die Fragen des »Jungen Salons« an uns lagen auf der Hand:
Was sind das für Leute, diese »Rechtsintellektuellen, über die einerseits im Internet radikale Verdikte kursieren und die andererseits über einen anknüpfungsfähigen Ton und interessante Gesprächspartner verfügen? Wo wären die Reservate dieser rechten Intelligenz zu suchen? Vielleicht doch nur und vor allem in jenen Waldstücken am Ende toter Gleise, in denen auch der Feuerwehrmann Montag als wandelndes Buch an sein Ziel gekommen ist?
Das »Waldstück am Ende toter Gleise« spielt an auf Ray Bradburys Roman Fahrenheit 451, der zur welterschließenden Lektüre unserer Szene gehört – Feuerwehrmann Montag ist sozusagen ein Waldgänger auf verlorenem Posten, sein Weg jedenfalls eine allerletzte Option, und allein diese Figur hätte mehr als genug zu fragen und zu erklären aufgegeben.
Indes: So offen und interessiert wurde nicht gefragt, so unvoreingenommen und auf der Suche nach dem Paradigma unserer Zeit waren Gespräch und Diskussion des »Jungen Salons« nicht angelegt, und so trog die Hoffnung auf ein gutes Gespräch jenseits des Jargons, jenseits der Phrasen der herrschenden Meinung, jenseits des Angelesenen, aber nicht Durchdachten, jenseits des Verwaltens oder Bestellens des vernutzbaren Bestandes selbst in den existentiell entscheidenden Fragen.
Von den gewöhnlich rund fünfundzwanzig Teilnehmern waren zehn nicht gekommen, sie wollten sich geistig nicht an uns beschmutzen. Die anderen teilten wir auf dem Nachhauseweg in drei Gruppen ein: die ehrlich Interessierten (drei Personen), die offen Aggressiven (drei Personen) und die anderen zehn, deren Typus uns bis dahin in dieser Plastizität oder Ausprägungsschärfe noch nicht untergekommen war. Wir nannten ihn den »optimierten Typus«, den »selbstanalytischen« oder auch den »prozessualen«, aber am nächsten Morgen verwarfen wir diese Bezeichnungen allesamt und legten uns auf »postpragmatisch« fest.
Der Begriff »postpragmatisch« stammt aus dem Roman Planet Magnon des ebenfalls noch recht jungen Autors Leif Randt. Der Roman ist in einem Post-Histoire angesiedelt, einer großen Übereinkunft nach einer finalen Auseinandersetzung, ist also ein Zukunftsroman, eine Science-Fiction- Geschichte: Wir befinden uns im Jahr 48 n. AS, also knapp fünf Jahrzehnte nach der Einführung von ActualSanity. ActualSanity ist ein auf einem Shuttle installiertes, weit über den Himmelskörpern schwebendes Computersystem, das die Organisationszentrale der neuen Gesellschaft bildet. Als eine Art algorithmischer Weltgeist verteilt AS Finanzmittel nach einem »Fairneß-Schlüssel« und sorgt dafür, daß Straßen repariert und Häuser gebaut werden. Unauffällig lenkt diese Zentrale die Geschicke der Menschen und beweist dabei Lernfähigkeit. Sie paßt »ihre Gesetzestexte auf Grundlage statistischer Auswertungen immer präziser und unmittelbarer an die sich stets erneuernden Verhältnisse an.« Sie kann »keine eigenmächtigen Entscheidungen treffen«, sie ist abhängig von den »Handlungen, Diskursen und Wünschen« derer, die unter diesem über den Köpfen installierten Konsenssystem leben.
Herrschten vor der Einführung von ActualSanity noch Gewalt, Chaos und Verteilungskampf, ist die Welt mittlerweile ökonomisch und militärisch befriedet. In der interstellaren Gemeinschaft, die keine Staatsgrenzen mehr kennt, organisieren sich die meisten Menschen in Kollektiven. Das Bedürfnis nach Identität ist also in einem System spielerisch konkurrierender Kollektive aufgehoben, die an britische Clubs, an eine Rotary-Stimmung, an ein lebenslanges Internat erinnern.
Im Zentrum der Handlung steht Marten Eliot, der zusammen mit seiner Kollegin Emma Glendale die Dolfins, eines der wichtigsten Kollektive, repräsentiert. Sie sind Anhänger der »PostpragmaticJoy-Theorie«, einer Lehre von Techniken und Strategien zur »ambivalenten Persönlichkeitsentwicklung«. Die Grundhaltung ist in hohem Maße empathisch und unterkühlt zugleich, also: einfühlend in den Zusammenhang, den es permanent zu analysieren und zu optimieren gilt. Das Ziel: ein psychischer Zwischenzustand, »der gemäß dem postpragmatischen Schwebeideal nie abschließend zu definieren ist«. Man ist also unausgesetzt sein eigenes Experiment, hat eine Art Vogelperspektive auf die Ursache, die Äußerungsform und die Folgen von Aufwallungen, die das austarierte Miteinander ins Ungleichgewicht bringen könnten. Man ist sich selbst fremd, um sich steuern zu können, und ist sich erst durch diese Kontrollfähigkeit so nahe, daß man sich selbst nicht mehr überraschen kann. Einen seiner Höhepunkte erreicht diese Haltung immer dann, wenn man einen »Mitch« formuliert – einen kleinen, formschönen Satz, der indifferent bleibt, niemandem zusetzt, »Möglichkeitsfelder eröffnet« und somit die Vorläufigkeit und das Ideal der Folgenlosigkeit auf vollendete Weise repräsentiert. Anders ausgedrückt: Wenn die Sprache das Bewußtsein formt, gehört zur rücksichtsvollen Ichbezogenheit der neuen Gesellschaft zwingend das Ideal eines smalltalks auf höchstem Niveau.
Raus aus dem Roman, zurück in den »Jungen Salon«. Der postpragmatische Typus, der diesen Kreis vorzugsweise besiedelte, ist ein am Ende aller Auseinandersetzungen und ideologischen Kämpfe angelangter, nachgeschichtlicher Charakter. Er hat kein Interesse mehr an Ausschließlichkeit, an Konfrontation oder an Leidenschaft: Er bewegt sich im Post-Histoire und nimmt das Leben als Substanz, die es ständig zu analysieren, anzupassen und zu verbessern gilt. Geschichte als Schicksal, als Kampf, als Konfrontation und Elend, als Größe und Zusammenbruch ist für ihn etwas, das der Vergangenheit angehört, und zwar so ganz und gar, daß es als schwarze Zeit vom nachgeschichtlichen, geschichtslosen, hellen Zeitalter durch eine unhintergehbare Kulturschwelle getrennt ist.
Das ist wie im Roman ein Elitenkonzept, das den größten Teil der Leute nicht berührt, aber das ist nicht so wichtig. Denn es sind die tonangebenden Leute, die sich so verhalten, die dünne intelligentere Schicht. Für den großen Rest ist unserem System sowieso längst etwas eingefallen, das in der Folgerichtigkeit der Moderne liegt: Die Unterschiede sind dort bereits zur Ununterscheidbarkeit eingedampft, wo sich der Mensch als 24-Stunden-Konsument konditionieren und einsortieren läßt.
Was der »Junge Salon« nicht begreifen wollte oder konnte: unseren Drang der Befreiung des Menschen von seiner Vernutzung oder Optimierung. Das war wirklich frappierend: die Bereitschaft dieser Leute, den vollständigen Umbau der Völker zu einer multikulturell, emanzipatorisch und seelisch neu ausgerichteten Gesellschaft nicht nur hinzunehmen, sondern ziemlich leidenschaftslos als Ingenieursaufgabe zu begreifen und zu betreiben. Man stand dort ein wenig ratlos und ein wenig lächelnd vor unserem Furor, unserer Sehnsucht nach einer fundamentalen Freiheit, die nur auf dem Boden einer fundamentalen Verantwortlichkeit für das eigene Leben und einem grundsätzlichen »Ja« zu dem gedeihen könnte, was man gemeinhin nennt: das Schicksal.
4.
Die fundamentale Freiheit: Das ist ein Ja zum Mangel, zur Unglätte, zur Last der Geschichte, zur Leidenschaft, zur echten Liebe, zur echten Trauer, zum echten Zorn, zum Amplitudenausschlag, zum Risiko. Alles das brachten wir an, aber es klang vor der empathischen Kühle der Ich- Manager im »Jungen Salon« sehr trotzig und sehr romantisch, und selbst die Verweise auf die Macht des Faktischen oder die vielen Beispiele aus der keineswegs funktionalen Wirklichkeit verfingen nicht: Dies alles nämlich würde sich organisieren, »handlen« lassen. Ob das stimmen könnte, blieb in der Schwebe, und wir hielten uns an Botho Strauß:
Die Modernität wird nicht mit ihren sanften postmodernen Ausläufern beendet, sondern abbrechen mit dem Kulturschock. Der Kulturschock, der nicht die Wilden trifft, sondern die verwüstet Vergeßlichen.
Aber das verfing nicht. Klar wurde, daß mit diesem postpragmatischen Typus eine Verständigung über die Notwendigkeit von Lebenshürden nicht möglich war. Wir redeten permanent aneinander vorbei, und uns wurde klar: Wer alle Last abzustreifen vermag, hat keine Veranlassung, über die richtige Trageweise der Last zu streiten. Wer die Geschichte hinter sich gelassen hat und mithilfe von Jargon und Formeln die schwarze von der neuen Zeit scheidet, hält sich nicht mehr mit Geschichtspolitik auf.
Aber waren wir in der Lage, unseren Gegenentwurf plausibel zu machen und aus der Sphäre eines bloß je individuellen Selbstprojekts zu lösen? Was genau wäre unser Gegenentwurf? Leif Randts Roman gibt einen Hinweis: Er zeichnet Charaktere nach, die nicht jeden kalten Hauch des Schicksals in ihr persönliches Selbstoptimierungsprogramm umlenken konnten. Und so tritt ein neues, mysteriöses Kollektiv auf den Plan: Die Hanks. Sie verüben Anschläge mit sogenanntem Ketasolfin, einer gasförmigen Substanz, die schwach dosiert Wankelmut und Nostalgie hervorrufen kann, in höherer Dosierung aber auch »Zustände der Panik sowie Ohnmachts- und Lähmungserscheinungen« auslöst. Das »Kollektiv der gebrochenen Herzen«, wie die Hanks sich selbst nennen, will sich nicht in die Schmerzlosigkeit fügen. »Diese jungen Leute überhöhen ihren Schmerz«, heißt es an einer Stelle, und sofort ist klar, daß diesem Aufstand die ökonomische Begründung fehlt: Es geht den Hanks darum, den Schmerz endlich wieder zuzulassen und den Menschen in seiner Antiquiertheit anzuerkennen.
Wer an den »Fight Club« Tyler Durdens denkt, liegt nicht falsch, nur ist das alles gar nicht mehr kraß und blutig und konsequent zu einem totalen Aufstand hin durchlebt – sondern in der Diktion sanft und auf einen Restraum der Schwäche und auf Mitleid angelegt: Es kursieren öffentlich gemachte, persönliche Briefe, in denen Menschen über ihre Verletzungen und Enttäuschungen sprechen und sich damit gegen jene wenden, »die eine neue schmerzlose Welt versprechen«. In einem Manifest der Hanks heißt es denn auch: »Heute arbeitet jeder daran, sich möglichst schmerzfrei abzukapseln. Die Enttäuschung ist vorprogrammiert. Wir höhlen uns aus.« Im Kontrast zu diesem emotionalen Eskapismus müsse man nun dringend das Bewußtsein des eigenen Mangels wiederentdecken.
Es gibt unter dem Romanpersonal (und den Lesern) wohl einen nicht geringen Anteil, der sich durch derlei Attacken aus verlorener Stellung heraus anrühren läßt. Aber weil es Rührung ist (und nicht viel mehr), stellt sich gleich eine Frage ein, die aus der Revolution gegen das Ganze eine revolutionsromantische Aufwallung im Dienste des Ganzen macht: Warum unterbindet ActualSanity die Anschläge der Hanks nicht, wo das System doch sogar den Ort der Rebellen kennt?
Die Antwort ist die denkbar verheerendste für jeden Widerständischen: Er ist als Dampfventil längst ausgemacht und eingebaut in die permanente Systemstabilisierung. Im »Bocksgesang« heißt es:
Diese Demokratie benötigte von Anfang an mehr Pflanzstätten für die von ihr Abgesonderten. … Ich bin davon überzeugt, daß die magischen Orte der Absonderung, daß ein versprengtes Häuflein von inspirierten Nichteinverstandenen für den Erhalt des allgemeinen Verständigungssystems unerläßlich ist.
Ist sie nicht furchtbar, diese Rollenzuschreibung? So gesehen sind in Leif Randts Roman die Hanks nur ein Mittel zur temporären Energieabfuhr. Das wird nicht explizit behauptet, aber als sehr konsequente Erklärung angeboten. Authentizität des Widerstands oder doch nur ein genialer Schachzug des Systems, das alles einbaut, mitberücksichtigt, auf der Rechnung hat? Ist das, was noch ertragen wird, folgenlos? Ist ein Dummkopf, wer noch ertragen will? Bieten nicht Sport und inszenierte Adrenalinstöße Ausgleichsqual genug?
5.
Der bekennende Kommunist und FAZ-Redakteur Dietmar Dath schrieb vor einigen Jahren, daß seine Idealgesellschaft von einer Folgenlosigkeit des Irrtums gekennzeichnet sei. Der Mensch werde sich ununterbrochen konsequenzlos irren, werde alle individuell angehäuften Irrtumskosten ununterbrochen auf die grenzenlose Solidargemeinschaft abwälzen dürfen. Ist das nicht genau das, was in linken Utopien aufscheint? Daß alles, aber auch wirklich alles denkbar und vorstellbar sei, weil es die Produktionskräfte hergäben? Daß also der Mensch im Zustand eines irrenden, unverantwortlichen Kindes gehalten werden könne, weil der Energieaufwand der permanenten Bereinigung ebenso unproblematisch zur Verfügung stünde wie die Hand einer aufräumenden Mutter?
Dieser Entwurf ist in weiten Teilen zur Wirklichkeit geworden, und die Solidargemeinschaft kann sich die totale Abfederung jedes noch so wissentlich herbeigeführten Lebensphasenirrtums durch die »Abholzung der unterirdischen Wälder« (wie Rolf Peter Sieferle den Einsatz fossiler Energieträger nannte) energetisch tatsächlich leisten, kann jede noch so große Faul- und Trägheit durch unverhältnismäßigen Energieinput ausgleichen – ohne daß die Fleißigen auf irgendetwas verzichten müßten. Der Anthropologe Arnold Gehlen muß diesen Zustand vor Augen gehabt haben, als er davon schrieb, daß den postindustrialisierten Menschen, den Menschen der Massengesellschaft von seinen Vorfahren eine »Kulturschwelle« trenne. Jede konservative Kulturkritik ist gegen die emanzipatorische Macht der Energieverschwendung chancenlos, weil es keinen Grund gibt, auf das zu verzichten, was alle anderen für sich in Anspruch nehmen – es sei denn, man hat eine bestimmte Form von sich und dem eigenen Lebenskreis vor Augen, die nur in Askese ausgebildet werden kann. Aber das wird jenseits des Hoftores niemand verstehen.
Es gibt nun aus dem Jahre 2008 von Botho Strauß ein seltsames Buch. Kaum jemand kennt es, obwohl Kritiker in ihm die Auswalzung und Fortschreibung des »Anschwellenden Bocksgesangs« sahen. Die Unbeholfenen heißt dieses Buch, und diese »Bewußtseinsnovelle« (so der Untertitel) ist nichts anderes als die Darstellung einer Denk-Familie, die in sich selbst und in einem formschönen, eloquenten Dauergespräch ihre Legitimation finden muß, weil von außen, von den Umständen her keine kommt. Wer aus der Angst heraus, im Großen und Ganzen nichts zu bedeuten, ein übertriebenes Selbst-Bewußtsein entwickelt, darf »nicht nach draußen gehen, um zu erfahren, was draußen vor sich ging«, denn: »Ein Draußentag genügt, und alles Miteinander-Füreinander, das du in dir trägst, verfinstert sich«. Das ist die Bewußtseinsbeschreibung abgeschotteter Milieus. Man will ein »Vorsprung in die nächste Zukunft« sein, ein »Restlichtverstärker für die ein oder andere vergehende Ansicht oder Einsicht«; man spricht, »um wie bei der Flurprozession der Römer, den Rogationen, den Acker unserer Zeit zu umschreiten« und beschreibt sich als »Dativ-Menschen«, lebend »nach dem Motto: Ich bin, was mir widerfährt.«
Daß dies die Formel für die Dekadenz, für den Abschied vom Agieren ist, wird nicht ausgesprochen, aber diese Folgerung beschleicht einen, und man wird, während man liest, immer stiller. Zu nah rückt einem dieses »übriggebliebene« Haus »mitten in einem öden Gewerbepark«, in dem sich die selbsternannten »geretteten Figuren« in ihrem unausgesetzten feinen Gespräch ergehen und ihre Daseinsberechtigung formulieren. Die Kulturkritik ist auf der Höhe der Zeit, sie ist konservativ, rechts, aber hilflos. Einer sagt: »Ich glaube, ich bin der letzte Deutsche. Ein Strolch, ein in heiligen Resten wühlender Stadt‑, Land- und Geiststreicher. Ein Obdachloser«, ein anderer meint: »Daß wir sprechen wie wir sprechen, ist nur noch ein Verständigungsmedium unter Besiegten«, und ein dritter beschwört: »Nicht wahr, Freund, es muß noch einen, einen letzten Aufstand des Herzens geben.«
Dieser Aufstand wäre rührend, wenn er nur einer des Herzens wäre. Und das konservative Denken bliebe sinnlos, wenn gelänge, wovon kurioserweise auch Konservative träumen: daß nämlich endlich eine Energieform gefunden würde, die nicht endlich, sondern unbegrenzt zur Verfügung stünde. Dann gäbe es von dieser Seite her keinen zwangsläufigen Rückschwung des Pendels mehr, dann wäre es möglich, unbegrenzt zuzukleistern und zurechtzurücken, was der nicht-erzogene, der totalemanzipierte, der kindisch gebliebene, der unangestrengte Mensch Tag für Tag auf Kosten der Allgemeinheit verbockt. Das »Leben aus dem, was immer gilt« wäre ersetzt und entwürdigt zugleich durch ein »Leben aus dem, was unbegrenzt sprudelt«. Keine Kulturkritik, kein Verweis auf anthropologische Konstanten, auf die Häßlichkeit der Dekadenz und auf die Verpflichtung aus einer großen Geschichte wäre imstande, den Menschen (und mitinbegriffen auch den deutschen Menschen) von seiner endgültigen »Verhausschweinung« (Konrad Lorenz) abzuhalten. Selbst die absehbare Überfremdung mit all ihren zwar geleugneten, aber irgendwann sichtbar katastrophalen Auswirkungen wäre dann kein hinreichender Grund mehr für eine konservative Reconquista: Auch bisher ließen sich ethnische Bruchlinien und kulturelle Kämpfe mit viel Geld zukleistern und abfangen. Wieso sollte dieses Allheilmittel in zehn Jahren nicht mehr anschlagen?
Strauß schreibt im »Bocksgesang«:
Die Blindheit des Unseren: daß es nicht sehen wollte, wieviel Erlöschen es brachte. Das Angerichtete, es ganz allein, bringt seinen Kraftschwund hervor. Der einzige Feind, gegen den man nicht kämpfen kann und dessen Bedrohung die Kräfte nicht anspornt: Volksreichtum. Sind wenige reich, so herrscht Korruption und Anmaßung. Ist es das Volk insgesamt, so korrodiert die Substanz. Jedenfalls schützt Wohlhaben nicht vor der Demontage des Systems, dem es sich verdankt.
Wir Unbeholfenen! Wer rechts ist, konservativ ist, muß sich für sich und das ganze Volk ein hartes Leben wünschen, zumindest für jede zweite Generation. Es ist doch längst in unser Bewußtsein eingesickert, daß es dort, wo Schicksal, Härte und Verzicht ausgehebelt sind, keine Konservativen von Bedeutung geben kann. Und wenn es dabei bleibt, dann sind wir noch nicht einmal mehr ein »Vorsprung in die nächste Zukunft« und diejenigen, die das Wort für Morgen vorgedacht haben. Dann ist unser wirklichkeitsnahes Denken, ist der rechte Gegenentwurf nur mehr eine Freizeitbeschäftigung: »Eine Schale mit Zuchtperlen ausschütten, die zu nichts gut sind, als sie einmal heftig hüpfen und kichern zu lassen auf dem Boden. Dann kullern sie noch ein Streckchen und liegen schließlich glanzlos in den Fugen wie aller Schutt« (wiederum Botho Strauß).
6.
Anwendung also ist vonnöten, Verhaltenslehren müssen entwickelt werden, man darf sich nicht abwenden. Indes: Am 2. Oktober 2015 erschien im Spiegel unter der Überschrift »Der letzte Deutsche« ein kurzer Text zur geistigen Situation unserer Zeit, verfaßt von Botho Strauß. Das Magazin selbst hat versucht, die Bedeutung dieser Äußerungen dadurch zu vergrößern, daß es sie als eine Art Anschlußdenken an den »Anschwellenden Bocksgesang« verkaufte: Denn schon 1993 hatte Strauß auf die »Abkehr« als Haltungs- und Denkform hingewiesen, und die Abkehr vom eigenen, als Masse stets vernutzend und häßlich, kurz: als Pöbel auftretenden Volk paßte nach dem Schock der Flüchtlingswelle gut ins Konzept eines Magazins, das den Deutschen die Entkleidung und Entkernung ihrer selbst seit Jahrzehnten nahelegt. Wenn schon Strauß sich als den »letzten Deutschen« beschrieb, konnte es um den abgewickelten Rest nicht mehr schade sein. Die Häme hinter dieser Selbstabschaffungslust findet sich doch im »Bocksgesang« bereits beschrieben:
Intellektuelle sind freundlich zum Fremden, nicht um des Fremden willen, sondern weil sie grimmig sind gegen das Unsere und alles begrüßen, was es zerstört.
Sollte die Einpassung der eigenen Absonderung in diese kaputte Logik tatsächlich der Anspruch »des letzten Deutschen« sein? Wenn ja, warum? Aus Antriebsschwäche, aus Einsicht, nur dieses Wächter- und Bewahreramt noch bekleiden zu können, keinesfalls aber mehr? Man konnte vor drei Jahren und kann heute die Lage – deren Feststellung von Bedeutung ist – als Dilemma beschreiben: Zu leben haben wir alle tatsächlich mit einem kulturfernen, seiner kulturellen Identität entfremdeten, an seinem Erbe nurmehr mäßig interessierten Volk, und die Frage ist, ob man in der eigenen Absonderung dieses Volk aufgibt oder ob man ihm zugeneigt bleibt, auch heute, auch angesichts seiner rasant ablaufenden Entkernung. Strauß urteilte gründlich und hart:
Der Irrtum der Rechten: als gäbe es noch Deutsche und Deutsches außerhalb der oberflächlichsten sozialen Bestimmungen. Jenen Raum der Überlieferung von Herder bis Musil wollte noch niemand retten.
Beides stimmt nicht: Natürlich gibt es noch Deutsche und Deutsches, das weit in die Tiefe reicht und dort wurzelt. Und natürlich gibt es Leser, Autoren, Maler, Komponisten, Produzenten, Verleger, Dirigenten, Mäzene, die das ganze wunderbare deutsche Erbe nicht nur verwalten und in Erinnerung behalten, sondern in seinem existentiellen Anspruch zu einer oft nicht nur randständigen Geltung bringen, und zwar nicht als rücksichtslose Dekonstrukteure oder Verfechter jenes »devotionsfeindlichen Kulturbegriffs«, der alles Hinhorchen, Dankbarsein und Wiederherstellen bespöttelt und verlacht.
Weg von den sensationsgeilen Formaten, hinein in die Falten unseres schönen Landes. »Bocksgesang«:
So viele wunderbare Dichter, die noch zu lesen sind – so viel Stoff und Vorbildlichkeit für einen jungen Menschen, um ein Einzelgänger zu werden.
Warum ist denn stets im November die Kreuzkirche in Dresden bis auf den letzten Platz gefüllt, wenn das Deutsche Requiem von Brahms gegeben wird, und zwar faßt ausschließlich vor Deutschen, obwohl die Karten kaum teurer sind als die für einen Kinofilm? Kein Mensch applaudiert übrigens, wenn der Kreuzchor geendet hat, derlei gibt es noch in Deutschland. Und sogar in der Provinz, in einer kleinen, ausgelaugten, häßlich wiederaufgebauten Stadt wie Brandenburg, kann man an einem Sonntagnachmittag hunderte Deutsche in ein Konzert pilgern sehen, mit Werken von Wagner und Bruckner, und es war just dort, daß der Dirigent sich den Applaus ebenfalls verbat, weil diese immer zur Hälfte eitle Bekundung weder in die Kirche, noch zu den Kompositionen und eigentlich gar nicht zum Ausklingen und Nachhallen der Musik gehöre.
Botho Strauß wählte in seinem Spiegel-Text als »letzter Deutscher« den Weg dessen, der seinen »kulturellen Schmerz« pflegt und dies als einen besonderen Dienst an jenem (verdorrenden) Volk empfindet, das die kulturelle Blüte erst hervorgebracht hat. Es leidet da jemand stellvertretend, aber tut er es noch zugeneigt? Wenn nicht, dann pflegt er eine elitäre Form der Verachtung, und diese ist zweifellos eine Versuchung für jeden Intellektuellen. Aber die Zuneigung gehört auf diese Weise nur dem Gewesenen des Volkes, und die Frage ist, ob man sich von dem überbordenden Häßlichen im Eigenen so grundsätzlich abwenden darf.
Man darf sich nicht abwenden, nicht jetzt, nicht in dieser Zeit, eigentlich überhaupt nie, und auch Botho Strauß hat sich nie abgewendet. Wer veröffentlicht, will gelesen werden; wer sich politisch, das heißt: zur Lage äußert, will politisch gelesen werden und weiß, daß jede Lagebeschreibung ein Ausgangspunkt ist, von dem aus weitergegangen, weitergedacht, weitergemacht werden wird. Botho Strauß wußte, was er tat, als er 1993 die Lage umschrieb und Prognosen wagte – alles in jenem Ton, der ein Erahnen und stilles Einvernehmen voraussetzt, oder, um es mit Strauß selbst zu sagen:
Das Genaue ist das Falsche. Es läßt den Hof, den Nimbus nicht zu. Unsere Lebenssphäre ist das Vage, das Ungefähre.
Man hat das sein »Geraunen« genannt, wollte ihn damit treffen, und wahrscheinlich ist das jüngste Gerede von unserer »postfaktischen Zeit« bloß ein weiterer Versuch, das jenseits aller restfreien Lebenslogik Wahre, unvermittelt Einsichtige zu desavouieren.
7.
Ich bin mir sicher: Alles, was nun kippt, was sich intellektuell, kulturell nach rechts neigt, um ein Gleichgewicht (mindestens das!) wiederherzustellen in unserem Kulturkreis und die Geschichte auch in unserem Land flüssig zu halten, hat mit dem »Anschwellenden Bocksgesang« einen seiner unterirdischen Anker. Es ist ausgeschlossen, daß sich einer geistig (geistig!) zu uns herüber aufmacht, ohne Maß zu nehmen an diesem Text.
Der »Anschwellende Bocksgesang« war und ist ein Auslöser-Text. Er gewährt amusische Leser keinen Zugang und reizt diejenigen, die nicht gemeint sind, bis aufs Blut. Beide stehen betroffen vor den unsinnigen Anweisungen, die man aus seiner Lektüre ableiten kann. Immer flüssiger und ahnender lesend, versteht, wer den Anspruch aufnimmt, immer genauer und zieht zuletzt einander widersprechende Schlüsse, die auf einer höheren (oder tieferen) Ebene initiatisch wirken und ineinandergefügt sind.
Man liest und will »gemeint« sein. Der »Anschwellende Bocksgesang« legt Formulierungen fest wie Codes: Wer sie künftig nicht kennt, wer die Anspielungen nicht versteht, kann nicht ganz dazugehören. Der »Bocksgesang« befreite uns vor 25 Jahren von der Einbildung, daß kleine, wohldurchdachte Trippelschritte zu einem nennenswerten Ziel führen könnten. Er stellte zugleich unserem Wunsch, auszugreifen, eine denkbar schlechte Prognose.
Wir wußten nach der Lektüre um die Aussichtslosigkeit im Ganzen, und das öffnete zwei Türen: Die eine führte aus dem kontaminierten, rechten Gelände hinaus in eine bürgerliche Karriere, war mithin jener Ausgang, den wählte, wer das Machbare verfolgen und dabei nicht zu kurz kommen wollte. Die andere Tür führte zu dem, was wir »Haltungsfiguren« nennen, und die allesamt verkörpert waren und sind unter den Rechtsintellektuellen: der Waldgänger, der Soldaten auf seinem verlorenen Posten, die Gruppe im hortus conclusus, der Dichter, der noch das Bleibende stiften kann, der Partisan des Geistes, der Hüter eines einzigen Werkes, der maximal Anstößige.
Und jetzt stehen wir plötzlich auf der Bühne, es ist unsere Zeit: Das »Angerichtete«, von dem Strauß sprach, steht uns vor Augen:
Von der Gestalt der künftigen Tragödie wissen wir nichts,
schrieb Strauß 1993 und:
Wir hören nur den lauter werdenden Myterienlärm, den Bocksgesang in der Tiefe unseres Handelns.
So war es, aber so ist es nicht mehr. Die Katastrophe hat Gestalt angenommmen, wir erleben als Akteure und Zuschauer zugleich den Ablauf unserer Tragödie. Es ist die Tragödie des Abendlandes, und gerade läuft der Akt, in dem die Zerstörer von den Schalthebeln gedrängt und die Rückstellkräfte aktiviert werden. Ob sie hinreichen, weiß keiner. Zum Glück aber sind wir vorbereitet, wir Wächter des Abends, und können im angeschwollenen Bocksgesang unsere Rolle spielen.
Maiordomus
Starker Text: "A-musische Menschen können zu keinem anderen Schluß kommen, sie wissen nichts vom 'tiefen Deutschland', über das Strauß schrieb und dessen Versinken er bis heute betrauert, dessen Versinken auch wir betrauern, wobei wir trauernd das tun, was jeder Baum auch tut: Die Wurzeln dem absinkenden Grundwasser hinterhertreiben." Dieses Grundieren nach Wurzeln kann sich natürlich nicht darauf beschränken, dass es in der Marxschen Analyse hoffentlich auch ein paar richtige Elemente und Momente geben könnte. Selbst das Nationale überzeugt als letzter und tiefster Wert nicht, auch wenn man sich gegen dessen Denunzierung verwahrt.
Aber: Botho Strauss hatte nun mal doch nicht das Zeug, ein deutscher Solschenizyn oder Sacharov oder Andrei Amalrik oder gar ein deutscher Orwell zu werden, fast glücklicherweise auch kein rechter Grass oder Böll. Objektiv hat er es wohl nicht zu den 100 bedeutsamsten Autoren der deutschen Literatur von sagen wir mal seit 1830 geschafft. Er hat sich aber doch zu einem wichtigen Zeitpunkt der neueren Geistesgeschichte mit der Andeutung einer Wende an ein ziemlich elitäres Publikum gewandt. Ich hatte aber in den letzten 25 Jahren nie einen Schüler, der mit einfachen Worten seinen Mitschülern hätte erklären können, was eigentlich der Autor mit diesem anschwellenden Bocksgesang sagen wollte. Da lob ich mir direkt das kommunistische Manifest oder "J'accuse" von Emile Zola.