Nachtgedanken (5): angeschwollener Bocksgesang

War der vor gut 25 Jahren veröffentlichte "Anschwellende Bocksgesang" von Botho Strauß wirkungslos? Verpuffte er? Fand er kein Publikum?

Götz Kubitschek

Götz Kubitschek leitet den Verlag Antaios

Marc Felix Ser­rao beant­wor­tet in einem Text vom ver­gan­ge­nen Sonn­tag in der Neu­en Zür­cher Zei­tung alle drei Fra­gen impli­zit mit “Ja” und wei­tet die­ses Urteil auf den Sam­mel­band Die selbst­be­wuß­te Nati­on (1994) aus, in dem der “Anschwel­len­de Bocks­ge­sang” als zen­tra­ler Text einen kon­ser­va­tiv-revo­lu­tio­nä­ren Ansatz einleitete.

Man fragt sich: Mit wel­cher Begrün­dung urteilt Ser­rao eigent­lich und war­um gera­de jetzt? Denn wer sich aus­führ­lich mit der Wider­le­gung der Wich­tig­keit einer Äuße­rung beschäf­tigt, bestä­tigt zual­ler­erst ihre Bedeu­tung oder sieht sich zumin­dest genö­tigt, den Kor­ken noch­mals tie­fer in den Fla­schen­hals zu drücken.

Ser­rao sieht in dem Ansatz von 1993–1995 (den man auch als den einer “Neu­en demo­kra­ti­schen Rech­ten” beschrei­ben kann) vor allem die Schwä­chen einer zu brei­ten Anla­ge der Revol­te. Er notiert:

Der Rech­te, wie Strauss ihn defi­niert, steht teil­nahms­los im Abseits. Von dort spot­tet und klagt er. Die Mit­strei­ter des Sam­mel­ban­des tick­ten anders; sie woll­ten poli­ti­sie­ren. Aber sie tick­ten nicht im Takt. Das war die zwei­te Schwä­che des Pro­jekts, zumin­dest wenn man des­sen selbst­er­klär­ten Anspruch berück­sich­tigt, ein «Mani­fest der kon­ser­va­ti­ven Intel­li­genz in Deutsch­land» zu sein. Zu den Autoren zähl­ten Trans­at­lan­ti­ker wie der His­to­ri­ker Micha­el Wolff­sohn eben­so wie der neu­rech­te Vor­den­ker Karl­heinz Weiss­mann. Bei­de Her­ren mögen nicht links sein, aber sie trennt viel mehr, als sie eint. Für den einen sind Libe­ra­lis­mus und West­bin­dung Grund­pfei­ler der Bun­des­re­pu­blik, der ande­re sieht in ihnen Hür­den auf dem Weg zur For­mung einer neu­tra­len Grossmacht.

Ser­rao schließt dar­aus auf ein Miß­ver­ständ­nis beim Blick auf die mög­li­che Leser­schaft der “Selbst­be­wuß­ten Nati­on” im All­ge­mei­nen und des “Bocks­ge­sangs” im Besonderen:

Fragt man jün­ge­re Deut­sche, die poli­tisch inter­es­siert sind, nach rele­van­ten rech­ten Den­kern, dann bekommt man als Ant­wort ein paar Tote und viel­leicht den einen oder ande­ren Aus­län­der genannt.

Botho Strauss und sei­ne Bewun­de­rer sind für die­sen Zustand mit­ver­ant­wort­lich. So besorgt Deutsch­lands Lin­ke vor einem Vier­tel­jahr­hun­dert um das Milieu her­um­ge­sprun­gen sein mag, so egal war es allen ande­ren. Das liegt an den genann­ten Schwä­chen. Die offe­ne Ableh­nung der Mas­sen­ge­sell­schaft mag ein Gefühl der Über­le­gen­heit ver­mit­teln, aber sie ver­hin­dert, dass sich je eine kri­ti­sche Mas­se ange­spro­chen fühlt. Glei­ches gilt für den Kampf gegen den west­li­chen Lebens­stil. Der wird von einer gros­sen Mehr­heit nicht als Ver­tei­di­gung, son­dern als Bedro­hung des Eige­nen wahr­ge­nom­men. Und schliess­lich der Ton. Wer sich als Kon­ser­va­ti­ver oder Libe­ra­ler heu­te kri­tisch über bestimm­te poli­ti­sche Zustän­de äus­sert, hat sofort Cla­queu­re am Hals, die «Mer­kel muss weg» brül­len oder der «Lügen­pres­se» den Kampf erklä­ren. Für die­sen geist­feind­li­chen Jar­gon (der links auf eine ande­re Wei­se wuchert) hat der Sam­mel­band mit sei­nem Gere­de von Denk- und Sprech­ver­bo­ten eine ers­te Saat gelegt.

Dies alles ist ein biß­chen rich­tig ver­mu­tet, ins­ge­samt aber gründ­lich falsch. Ser­rao hat kei­ne Ahnung davon, wie “wir” lasen und lesen, und er über­sieht selt­sa­mer­wei­se, daß gera­de sol­che Lek­tü­ren uns davor fei­en, “geist­feind­li­chen Jar­gon” zu ver­brei­ten. Ser­rao hat kein Gespür dafür, war­um man­che Tex­te Wir­kungs­tex­te, Aus­lö­ser­tex­te sind und ande­re nicht. Selt­sam ist, daß er in die­ser Fra­ge in Karl­heinz Weiß­mann einen Bru­der des Miß­ver­ste­hens im Geis­te gefun­den hat.

Ich war neben Weiß­mann und Die­ter Stein im Febru­ar die­sen Jah­res in Kopen­ha­gen Refe­rent auf einem Tages­se­mi­nar, das sich aus­schließ­lich um “25 Jah­re Anschwel­len­der Bocks­ge­sang” dreh­te. Nach­dem ein schwe­di­scher Lite­ra­tur­wis­sen­schaft­ler groß­ar­tig über den Platz des “Bocks­ge­sangs” im Werk von Botho Strauß gespro­chen hat­te, kamen die Deut­schen an die Reihe.

Die­ter Stein erzähl­te wie immer von sei­ner Wochen­zei­tung. Karl­heinz Weiß­mann berich­te­te, daß ihn das Auf­kom­men der AfD von der Wir­kungs­lo­sig­keit von Schreib­mü­hen und Ana­ly­sen inner­halb einer “Kul­tur­re­vo­lu­ti­on von rechts” ohne poli­ti­schem Arm über­zeugt habe, und er sei sich dar­in mit Alain de Benoist einig. 

Ich sah und sehe dies fun­da­men­tal anders und war, ehr­lich, ziem­lich erschüt­tert über die­se Ver­ken­nung der Wir­kung von Strauß und ande­ren, und ich fra­ge mich, wie jemand, der nur schreibt, auf so etwas ver­fal­len kann.

Aber die­se Ver­ken­nung ist ja fol­ge­rich­tig, Lucke war auch so einer. A‑musische Men­schen kön­nen zu kei­nem ande­ren Schluß kom­men, sie wis­sen nichts vom “tie­fen Deutsch­land”, über das Strauß schrieb und des­sen Ver­sin­ken er bis heu­te betrau­ert, des­sen Ver­sin­ken auch wir betrau­ern, wobei wir trau­ernd das tun, was jeder Baum auch tut: Die Wur­zeln dem absin­ken­den Grund­was­ser hin­ter­her­trei­ben. Es ist wohl die­se Fähig­keit, die man aus der Strauß-Lek­tü­re ler­nen konn­te, und die­je­ni­gen, die sich so beleh­ren lie­ßen, bil­den eines jener unter­ir­di­schen Geflech­te, die heu­te wirk­sa­mer sind denn je.

Ich war in Kopen­ha­gen jeden­falls sehr froh, daß ich musisch kon­tern, daß ich anders vor­le­gen konn­te. Seit­her war mir im Schweins­ga­lopp des Ver­le­ger­seins mein Vor­trag aus dem Sinn gerutscht. Anläß­lich der Som­mer­lek­tü­re Ser­ra­os kann ich ihn nun denen ent­ge­gen­hal­ten, die nicht wis­sen, was ein Text ver­mag. (Hier ist der Vor­trag als pdf verfügbar.)

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»Anschwel­len­der Bocks­ge­sang« – ein Auslösertext

Vor­trag vom 15. II. 2018, Kopenhagen.

1.

Es gibt Schrift­stel­ler, deren gesam­tes Werk durch einen ein­zi­gen Text eine star­ke Fär­bung erfährt. In der Deu­tung der Geg­ner ist die­se Ein­fär­bung eine Kon­ta­mi­na­ti­on, die nach hin­ten das bereits Geschrie­be­ne und nach vorn das noch zu Sagen­de beschmutzt. Die Sym­pa­thie­san­ten hin­ge­gen (und lei­der nicht nur die lese- und urteils­fä­hi­gen) nut­zen den Mar­kie­rungs­text als Lese­hil­fe für alle ande­ren Tex­te aus der Feder des ein­mal Vereinnahmten.

Botho Strauß ist auf sei­nen Essay »Anschwel­len­der Bocks­ge­sang« fest­ge­legt, der am 8. Febru­ar 1993 im Spie­gel erschien. Strauß hat­te mit die­sem Fan­fa­ren­stoß dem Reiz einer Gegen-Auf­klä­rung von rechts einen hal­len­den Ton gege­ben und war schlag­ar­tig ins Zen­trum der poli­ti­schen Wahr­neh­mung gerückt. Die Auf­nah­me sei­nes Tex­tes in den Sam­mel­band Die selbst­be­wuß­te Nati­on (1994) räum­te letz­te Zwei­fel an einem Miß­ver­ständ­nis aus: Hier deu­te­te einer die Lage aus rech­ter Sicht, und die Panik vor die­ser Per­spek­ti­ve lenk­te den fas­sungs­lo­sen Weg­ge­fähr­ten von links den Blick ab von der Ambi­va­lenz des Tex­tes. Denn immer­hin stell­te Strauß den Deut­schen im »Bocks­ge­sang« ein schlech­tes Zeug­nis aus: 

Nach der Wür­de mei­nes defor­mier­ten, ver­gnü­gungs­lär­mi­gen Lands­man­nes in der Gesamt­heit sei­ner Anspruchs­un­ver­schämt­heit muß ich lan­ge, wenn nicht ver­geb­lich suchen. 

Die intel­lek­tu­el­le Rech­te las bis auf weni­ge Aus­nah­men ver­nut­zend und nicht gründ­lich: Hier begrüß­te man einen im eige­nen Denkla­ger, den kei­ner auf der Rech­nung gehabt hat­te. Denn unter uns gab es nur weni­ge, die das Werk von Strauß bereits vor die­sem Werk-Bruch als lite­ra­ri­sches Ereig­nis ver­folgt hat­ten. Wer kann­te schon den Roman Der jun­ge Mann, wer den Auf­stand gegen die sekun­dä­re Welt, den phi­lo­so­phi­schen Schlüs­sel­text Beginn­lo­sig­keit oder auch nur eines der Thea­ter­stü­cke? Vie­les jeden­falls, das von da an nach­ho­lend gele­sen und dis­ku­tiert wur­de, nahm den Cha­rak­ter einer Beschäf­ti­gung mit einem Bra­ten an, von dem man mit 

einem am »Bocks­ge­sang« geschlif­fe­nen Mes­ser die pas­sen­den Stü­cke her­un­ter­sä­beln konn­te. Der­lei wird Botho Strauß nicht gerecht, aber auch mein Ver­lag und die von mir ver­ant­wor­te­te Zeit­schrift Sezes­si­on han­del­ten inso­fern fest­le­gend, daß bis­her kein Bei­trag über Strauß ohne einen Ver­weis auf den »Anschwel­len­den Bocks­ge­sang« aus­kam, ja daß auf die­sen Grund­pfei­ler unse­rer Selbst­ver­ge­wis­se­rung als Rechts­in­tel­lek­tu­el­le Bal­ken und Stre­ben und Spar­ren auf­ge­setzt wur­den, die ohne ihn bloß einen weit min­der soli­den Halt gefun­den hät­ten. 

Es war auch zu ver­lo­ckend, aus dem »Anschwel­len­den Bocks­ge­sang« Text­stel­len zu schnei­den, die wie Paro­len klan­gen und uns die schwie­ri­ge und miß­ach­te­te Lage unse­res Denk­mi­lieus erträg­li­cher mach­ten oder die­ser Lage wür­di­ge Namen gaben: 

Was sich stär­ken muß, ist das Geson­der­te. oder: So viel Stoff, um ein Ein­zel­gän­ger zu wer­den! und: Das ein­zi­ge, was man braucht, ist Mut zur Sezes­si­on! 

Es stammt von dort her der Name unse­rer Zeit­schrift: Sezes­si­on. Woher kommt bei Botho Strauß der Mut zur Abson­de­rung? (Und damit ist nicht sein zurück­ge­zo­ge­nes Leben in der süd­li­chen Ucker­mark gemeint, son­dern sei­ne Medi­en­hy­gie­ne, sei­ne geis­ti­ge Her­me­tik und die Dis­zi­plin, ein­sam wei­ter­zu­den­ken und vor allem: wei­ter­zu­le­ben). Aus sei­ner Kind­heit und Jugend in Bad Ems? Oder aus dem Vor­bild sei­nes Vaters, der in Naum­burg nach dem Krieg alles zurück­ließ, um sei­ne Frei­heit zu behal­ten und im Wes­ten weit unter Niveau sich ver­ding­te. In sei­nem jüngst erschie­nen, auto­bio­gra­phi­schen Buch Her­kunft schreibt Strauß:

Immer formt Schick­sal eine tie­fe­re Ein­sicht, als die Intel­li­gen­ten, die sei­ne Macht nie zu spü­ren beka­men, sie für sich in Anspruch neh­men dürfen.

Nimmt Strauß für sich ein »Schick­sal« in Anspruch? Oder ist sein Satz eine Ver­beu­gung? Oder gar eine Beschwö­rung? Denn was, wenn wir in einer Zeit leb­ten, die das Schick­sal aus­ge­he­belt hat? Der »Anschwel­len­den Bocks­ge­sang« muß als mitt­ler­wei­le bereits his­to­ri­scher Text gele­sen wer­den, als Arbeit näm­lich, die unter dem Ein­druck der Dis­kus­si­on über das »Ende der Geschich­te« ent­stand. »Del­ta« nennt Peter Slo­ter­di­jk die­sen Zustand, in dem kaum mehr etwas rauscht, son­dern alles sich absetzt, sedi­men­tiert, in die Brei­te zer­fließt – eine hori­zon­ta­le Bewe­gung, ein Tüm­peln, Ver­si­ckern, Düm­peln, aufs Poli­ti­sche über­tra­gen: ein Aus­sit­zen, ein ver­ant­wor­tungs­lo­ser Zustand.

Der »Bocks­ge­sang«: ambi­va­lent in die­ser Fra­ge, und den­noch wisch­te Strauß die­se Erlö­sungs­hoff­nung mit eini­gen der kräf­tigs­ten Sät­ze sei­nes Tex­tes beiseite:

Zwi­schen den Kräf­ten des Her­ge­brach­ten und denen des stän­di­gen Fort­brin­gens, Abser­vie­rens und Aus­lö­schens wird es Krieg geben. … Da die Geschich­te nicht auf­ge­hört hat, ihre tra­gi­schen Dis­po­si­tio­nen zu tref­fen, ann nie­mand vor­aus­se­hen, ob unse­re Gewalt­lo­sig­keit den Krieg nicht bloß auf unse­re Kin­der ver­schleppt. 

Rück­ge­win­nung der Bewe­gung nen­nen wir den Ver­such, die Zukunft offen­zu­hal­ten, aus dem Del­ta zu ent­kom­men, Ver­ant­wor­tung zu über­neh­men und den Krieg nicht auf unse­re Kin­der zu ver­schlep­pen. Selbst­er­re­gung und Roman­ti­sie­rung sind vor allem in Deutsch­land die zu die­sem Zweck erprob­ten Methoden.

2.

Der Publi­zist Simon Strauß hat im ver­gan­ge­nen Som­mer sei­nen ers­ten Roman vor­ge­legt: Sie­ben Näch­te ist ein knapp gehal­te­nes Werk mit einer nicht unin­ter­es­san­ten, aber von Kon­struk­ti­ons­ge­räu­schen nicht frei­en Rah­men­hand­lung: Im Auf­trag sei­nes Ver­le­gers soll der Prot­ago­nist in sie­ben auf­ein­an­der­fol­gen­den Näch­ten die Sie­ben Tod­sün­den durch­ex­er­zie­ren und jeweils bis zum Mor­gen­grau­en ein Erleb­nis­pro­to­koll ablie­fern. Als mir mei­ne Frau, die Publi­zis­tin Ellen Kositza, die­se Insze­nie­rung »kras­ser Erleb­nis­se« dann aber im Auto auf einer Fahrt nach Ser­bi­en vor­las, dach­ten wir uns bald: ziem­lich zahm, hört meist dort auf, wo es anfan­gen könn­te; und so wäre die­ses Buch neben den vie­len wei­te­ren Erst­lin­gen und coming-of-age-Stü­cken jun­ger Autoren nicht wei­ter auf­ge­fal­len, wenn es nicht auf­grund zwei­er Merk­ma­le aus der Bücher­flut her­aus­rag­te: 

Simon Strauß ist ers­tens der Sohn von Botho Strauß, und wie bei allen Söh­nen bekann­ter (um nicht zu sagen: gro­ßer) Män­ner, wird auch bei ihm jeder ambi­tio­nier­te Schritt ins Bewe­gungs­feld sei­nes Vaters hin­ein dar­an gemes­sen, wie weit der Apfel vom Stamm gefal­len ist. Botho Strauß nun – ein Abge­schie­de­ner, ein Rene­gat (nicht dezi­diert, aber impli­zit), ein Reak­tio­när, ein Gegen­auf­klä­rer, Schmitt-Leser und Jün­ger-Ver­ste­her, und vor allem eben der Autor des »Anschwel­len­den Bocks­ge­sangs«, die­ses Code-Tex­tes für die deut­sche intel­lek­tu­el­le Rech­te, um den es heu­te geht. 

Das alles kann am Sohn nicht vor­bei­ge­rauscht sein, ohne Lek­tü­ren gelenkt und Fel­der erschlos­sen zu haben, und durch die­se Bril­le rezi­pier­te man nun sei­nen Roman – eine Auf­la­dung, die dem deut­sche Feuil­le­ton für ein Skan­däl­chen wür­de rei­chen kön­nen. 

Sie reich­te natür­lich: Das deut­sche Feuil­le­ton, das wie ein Flip­per­au­to­mat funk­tio­niert (wenn man die Kugel nur geschickt genug gegen die Signal­lämp­chen schießt) wur­de hell­hö­rig, als der Sie­ben Näch­te klei­ne Wel­le deut­scher Roman­tik und schwär­me­ri­scher Sinn­su­che über die Deich­kro­ne in den eige­nen, grell aus­ge­leuch­te­ten, trans­pa­ren­ten Sied­lungs­raum schwapp­te, in die Fil­ter­bla­se der selbst­re­fe­ren­ti­el­len Rezen­sen­ten- Com­mu­ni­ty. Es gibt dort immer wenigs­tens einen hell­wa­chen Auf­pas­ser, der einem aus Signal­be­grif­fen gespeis­ten Anfangs­ver­dacht nach­geht und das, was »dem Leser« unter­ge­scho­ben wer­den soll, auf sei­nen toxi­schen Gehalt hin unter­sucht. Die­se Sie­ben Näch­te, hieß es, sei­en ein »mann­haf­tes Gerau­ne«, es kom­me irgend­wie an, tref­fe auf eine Leer­stel­le, ein Vaku­um – und das war nur der Auf­takt, das Stich­wort: Man liest in Deutsch­land, wo die inne­re Not der äuße­ren Not­lo­sig­keit herrscht, den Strauß­schen Kurz­ro­man nun tat­säch­lich als »lei­den­schaft­li­ches, angst­frei­es, tra­di­ti­ons­trun­ke­nes, zukunfts­gie­ri­ges Kampf­buch gegen die Abge­klärt­heit« und als »ein Mani­fest für mehr Mut zum Pathos, für Sinn­lich­keit, Offen­heit, Begeis­te­rung, Geg­ner­schaft, Streit und Trä­nen«. 

Da war also einer doch ziem­lich in der Nähe sei­nes Vaters unter­wegs, mit­hin in einem Gelän­de, das man nur unter dem stren­gen Blick einer Gou­ver­nan­te betre­ten soll­te, und so moch­te es sich loh­nen, ein biß­chen im Leben die­ses Soh­nes her­um­zu­sto­chern. Denn nichts kommt von nichts in einem Land, in dem eine rech­te Par­tei schein­bar wie ein UFO im Bun­des­tag gelan­det ist und nun eine Hun­dert­schaft Sozio­lo­gen mit der Fra­ge beschäf­tigt, woher das kom­me, das doch gegen jede Logik und vor allem: gegen jede gesell­schaft­li­che Erzie­hung Platz genom­men habe. 

Vom Lese­genuß, von der Rezen­si­on also zur Durch­leuch­tung aller Sie­ben Näch­te: sprach­li­che Rönt­gen­ap­pa­ra­te, Bezie­hungs­dia­gram­me, eine ers­te Spur, dann wird die Pra­li­ne aus­ge­packt: Simon Strauß – ein ver­kap­ter Rech­ter. Der Sohn, nun doch wohl ganz der Sproß sei­nes Vaters, war in Ber­lin über Jah­re Teil eines “Jun­gen Salons”, den er mit ande­ren jun­gen Publi­zis­ten, Künst­lern, Ver­le­gern, Unter­neh­mern und Dan­dys führ­te. Man traf sich in Pri­vat­räu­men und lud jeweils einen Gast ein, der The­sen vor­zu­tra­gen und ein Gespräch anzu­sto­ßen hat­te. Die Pra­li­ne: Vor drei Jah­ren war ich dort zu Gast, war als Ver­le­ger, Autor und Pegi­da-Red­ner inter­es­sant genug für einen hit­zi­gen Abend.

Ich schrieb spä­ter aus­führ­lich dar­über, nann­te kei­ne Namen, aber Strauß und Robert Eber­hardt und Hans Magnus Enzens­ber­gers Toch­ter The­re­sia nah­men mir die­se ver­deck­te Indis­kre­ti­on so übel, daß der Kon­takt bei­na­he ganz abbrach. Ich war aber so kon­ster­niert gewe­sen, damals, daß ich im »Anschwel­len­den Bocks­ge­sang« eini­ge Pas­sa­gen nach­ge­le­sen hat­te, um mich zu ver­ge­wis­sern, denn »der Rech­te ist – in der Rich­te: ein Außen­sei­ter«, und kaum je war mir das so deut­lich gewor­den wie im Krei­se die­ser gebil­de­ten, bele­se­nen, ambi­tio­nier­ten und in den Start­lö­chern ihrer Schreib­kar­rie­ren ste­hen­den Kin­der unse­rer Zeit.

3.

Die­se Kin­der unse­rer Zeit sind mitt­ler­wei­le zu jun­gen Redak­teu­ren und Autoren der tra­di­ti­ons­rei­chen Blät­ter und gro­ßen Ver­lags­häu­ser gewor­den, sie haben alle­samt noch min­des­tens drei Berufs­jahr­zehn­te Zeit, um das geis­ti­ge Leben der Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land mit­zu­prä­gen, und für mich und mei­ne Frau war der Besuch im »Jun­gen Salon« die­ser Leu­te eine Zeit­rei­se und zugleich eine in ein ande­res, sehr frem­des Land. Die Ein­la­dung war erfolgt, weil Strauß und ande­re den Brief­wech­sel gele­sen hat­ten, den ich mit dem Sozio­lo­gen und Kurs­buch-Her­aus­ge­ber Armin Nas­sehi geführt hat­te, und die Fra­gen des »Jun­gen Salons« an uns lagen auf der Hand: 

Was sind das für Leu­te, die­se »Rechts­in­tel­lek­tu­el­len, über die einer­seits im Inter­net radi­ka­le Ver­dik­te kur­sie­ren und die ande­rer­seits über einen anknüp­fungs­fä­hi­gen Ton und inter­es­san­te Gesprächs­part­ner ver­fü­gen? Wo wären die Reser­va­te die­ser rech­ten Intel­li­genz zu suchen? Viel­leicht doch nur und vor allem in jenen Wald­stü­cken am Ende toter Glei­se, in denen auch der Feu­er­wehr­mann Mon­tag als wan­deln­des Buch an sein Ziel gekom­men ist?

Das »Wald­stück am Ende toter Glei­se« spielt an auf Ray Brad­bu­rys Roman Fah­ren­heit 451, der zur welt­erschlie­ßen­den Lek­tü­re unse­rer Sze­ne gehört – Feu­er­wehr­mann Mon­tag ist sozu­sa­gen ein Wald­gän­ger auf ver­lo­re­nem Pos­ten, sein Weg jeden­falls eine aller­letz­te Opti­on, und allein die­se Figur hät­te mehr als genug zu fra­gen und zu erklä­ren auf­ge­ge­ben. 

Indes: So offen und inter­es­siert wur­de nicht gefragt, so unvor­ein­ge­nom­men und auf der Suche nach dem Para­dig­ma unse­rer Zeit waren Gespräch und Dis­kus­si­on des »Jun­gen Salons« nicht ange­legt, und so trog die Hoff­nung auf ein gutes Gespräch jen­seits des Jar­gons, jen­seits der Phra­sen der herr­schen­den Mei­nung, jen­seits des Ange­le­se­nen, aber nicht Durch­dach­ten, jen­seits des Ver­wal­tens oder Bestel­lens des ver­nutz­ba­ren Bestan­des selbst in den exis­ten­ti­ell ent­schei­den­den Fragen.

Von den gewöhn­lich rund fünf­und­zwan­zig Teil­neh­mern waren zehn nicht gekom­men, sie woll­ten sich geis­tig nicht an uns beschmut­zen. Die ande­ren teil­ten wir auf dem Nach­hau­se­weg in drei Grup­pen ein: die ehr­lich Inter­es­sier­ten (drei Per­so­nen), die offen Aggres­si­ven (drei Per­so­nen) und die ande­ren zehn, deren Typus uns bis dahin in die­ser Plas­ti­zi­tät oder Aus­prä­gungs­schär­fe noch nicht unter­ge­kom­men war. Wir nann­ten ihn den »opti­mier­ten Typus«, den »selbst­ana­ly­ti­schen« oder auch den »pro­zes­sua­len«, aber am nächs­ten Mor­gen ver­war­fen wir die­se Bezeich­nun­gen alle­samt und leg­ten uns auf »post­prag­ma­tisch« fest. 

Der Begriff »post­prag­ma­tisch« stammt aus dem Roman Pla­net Magnon des eben­falls noch recht jun­gen Autors Leif Randt. Der Roman ist in einem Post-His­toire ange­sie­delt, einer gro­ßen Über­ein­kunft nach einer fina­len Aus­ein­an­der­set­zung, ist also ein Zukunfts­ro­man, eine Sci­ence-Fic­tion- Geschich­te: Wir befin­den uns im Jahr 48 n. AS, also knapp fünf Jahr­zehn­te nach der Ein­füh­rung von Actu­al­Sa­ni­ty. Actu­al­Sa­ni­ty ist ein auf einem Shut­tle instal­lier­tes, weit über den Him­mels­kör­pern schwe­ben­des Com­pu­ter­sys­tem, das die Orga­ni­sa­ti­ons­zen­tra­le der neu­en Gesell­schaft bil­det. Als eine Art algo­rith­mi­scher Welt­geist ver­teilt AS Finanz­mit­tel nach einem »Fair­neß-Schlüs­sel« und sorgt dafür, daß Stra­ßen repa­riert und Häu­ser gebaut wer­den. Unauf­fäl­lig lenkt die­se Zen­tra­le die Geschi­cke der Men­schen und beweist dabei Lern­fä­hig­keit. Sie paßt »ihre Geset­zes­tex­te auf Grund­la­ge sta­tis­ti­scher Aus­wer­tun­gen immer prä­zi­ser und unmit­tel­ba­rer an die sich stets erneu­ern­den Ver­hält­nis­se an.« Sie kann »kei­ne eigen­mäch­ti­gen Ent­schei­dun­gen tref­fen«, sie ist abhän­gig von den »Hand­lun­gen, Dis­kur­sen und Wün­schen« derer, die unter die­sem über den Köp­fen instal­lier­ten Kon­sens­sys­tem leben.

Herrsch­ten vor der Ein­füh­rung von Actu­al­Sa­ni­ty noch Gewalt, Cha­os und Ver­tei­lungs­kampf, ist die Welt mitt­ler­wei­le öko­no­misch und mili­tä­risch befrie­det. In der inter­stel­la­ren Gemein­schaft, die kei­ne Staats­gren­zen mehr kennt, orga­ni­sie­ren sich die meis­ten Men­schen in Kol­lek­ti­ven. Das Bedürf­nis nach Iden­ti­tät ist also in einem Sys­tem spie­le­risch kon­kur­rie­ren­der Kol­lek­ti­ve auf­ge­ho­ben, die an bri­ti­sche Clubs, an eine Rota­ry-Stim­mung, an ein lebens­lan­ges Inter­nat erin­nern. 

Im Zen­trum der Hand­lung steht Mar­ten Eli­ot, der zusam­men mit sei­ner Kol­le­gin Emma Glend­a­le die Dol­fins, eines der wich­tigs­ten Kol­lek­ti­ve, reprä­sen­tiert. Sie sind Anhän­ger der »Post­prag­ma­tic­Joy-Theo­rie«, einer Leh­re von Tech­ni­ken und Stra­te­gien zur »ambi­va­len­ten Per­sön­lich­keits­ent­wick­lung«. Die Grund­hal­tung ist in hohem Maße empa­thisch und unter­kühlt zugleich, also: ein­füh­lend in den Zusam­men­hang, den es per­ma­nent zu ana­ly­sie­ren und zu opti­mie­ren gilt. Das Ziel: ein psy­chi­scher Zwi­schen­zu­stand, »der gemäß dem post­prag­ma­ti­schen Schwe­beide­al nie abschlie­ßend zu defi­nie­ren ist«. Man ist also unaus­ge­setzt sein eige­nes Expe­ri­ment, hat eine Art Vogel­per­spek­ti­ve auf die Ursa­che, die Äuße­rungs­form und die Fol­gen von Auf­wal­lun­gen, die das aus­ta­rier­te Mit­ein­an­der ins Ungleich­ge­wicht brin­gen könn­ten. Man ist sich selbst fremd, um sich steu­ern zu kön­nen, und ist sich erst durch die­se Kon­troll­fä­hig­keit so nahe, daß man sich selbst nicht mehr über­ra­schen kann. Einen sei­ner Höhe­punk­te erreicht die­se Hal­tung immer dann, wenn man einen »Mitch« for­mu­liert – einen klei­nen, form­schö­nen Satz, der indif­fe­rent bleibt, nie­man­dem zusetzt, »Mög­lich­keits­fel­der eröff­net« und somit die Vor­läu­fig­keit und das Ide­al der Fol­gen­lo­sig­keit auf voll­ende­te Wei­se reprä­sen­tiert. Anders aus­ge­drückt: Wenn die Spra­che das Bewußt­sein formt, gehört zur rück­sichts­vol­len Ich­be­zo­gen­heit der neu­en Gesell­schaft zwin­gend das Ide­al eines small­talks auf höchs­tem Niveau. 

Raus aus dem Roman, zurück in den »Jun­gen Salon«. Der post­prag­ma­ti­sche Typus, der die­sen Kreis vor­zugs­wei­se besie­del­te, ist ein am Ende aller Aus­ein­an­der­set­zun­gen und ideo­lo­gi­schen Kämp­fe ange­lang­ter, nach­ge­schicht­li­cher Cha­rak­ter. Er hat kein Inter­es­se mehr an Aus­schließ­lich­keit, an Kon­fron­ta­ti­on oder an Lei­den­schaft: Er bewegt sich im Post-His­toire und nimmt das Leben als Sub­stanz, die es stän­dig zu ana­ly­sie­ren, anzu­pas­sen und zu ver­bes­sern gilt. Geschich­te als Schick­sal, als Kampf, als Kon­fron­ta­ti­on und Elend, als Grö­ße und Zusam­men­bruch ist für ihn etwas, das der Ver­gan­gen­heit ange­hört, und zwar so ganz und gar, daß es als schwar­ze Zeit vom nach­ge­schicht­li­chen, geschichts­lo­sen, hel­len Zeit­al­ter durch eine unhin­ter­geh­ba­re Kul­tur­schwel­le getrennt ist. 

Das ist wie im Roman ein Eli­ten­kon­zept, das den größ­ten Teil der Leu­te nicht berührt, aber das ist nicht so wich­tig. Denn es sind die ton­an­ge­ben­den Leu­te, die sich so ver­hal­ten, die dün­ne intel­li­gen­te­re Schicht. Für den gro­ßen Rest ist unse­rem Sys­tem sowie­so längst etwas ein­ge­fal­len, das in der Fol­ge­rich­tig­keit der Moder­ne liegt: Die Unter­schie­de sind dort bereits zur Unun­ter­scheid­bar­keit ein­ge­dampft, wo sich der Mensch als 24-Stun­den-Kon­su­ment kon­di­tio­nie­ren und ein­sor­tie­ren läßt.

Was der »Jun­ge Salon« nicht begrei­fen woll­te oder konn­te: unse­ren Drang der Befrei­ung des Men­schen von sei­ner Ver­nut­zung oder Opti­mie­rung. Das war wirk­lich frap­pie­rend: die Bereit­schaft die­ser Leu­te, den voll­stän­di­gen Umbau der Völ­ker zu einer mul­ti­kul­tu­rell, eman­zi­pa­to­risch und see­lisch neu aus­ge­rich­te­ten Gesell­schaft nicht nur hin­zu­neh­men, son­dern ziem­lich lei­den­schafts­los als Inge­nieurs­auf­ga­be zu begrei­fen und zu betrei­ben. Man stand dort ein wenig rat­los und ein wenig lächelnd vor unse­rem Furor, unse­rer Sehn­sucht nach einer fun­da­men­ta­len Frei­heit, die nur auf dem Boden einer fun­da­men­ta­len Ver­ant­wort­lich­keit für das eige­ne Leben und einem grund­sätz­li­chen »Ja« zu dem gedei­hen könn­te, was man gemein­hin nennt: das Schicksal.

4. 

Die fun­da­men­ta­le Frei­heit: Das ist ein Ja zum Man­gel, zur Unglät­te, zur Last der Geschich­te, zur Lei­den­schaft, zur ech­ten Lie­be, zur ech­ten Trau­er, zum ech­ten Zorn, zum Ampli­tu­den­aus­schlag, zum Risi­ko. Alles das brach­ten wir an, aber es klang vor der empa­thi­schen Küh­le der Ich- Mana­ger im »Jun­gen Salon« sehr trot­zig und sehr roman­tisch, und selbst die Ver­wei­se auf die Macht des Fak­ti­schen oder die vie­len Bei­spie­le aus der kei­nes­wegs funk­tio­na­len Wirk­lich­keit ver­fin­gen nicht: Dies alles näm­lich wür­de sich orga­ni­sie­ren, »hand­len« las­sen. Ob das stim­men könn­te, blieb in der Schwe­be, und wir hiel­ten uns an Botho Strauß: 

Die Moder­ni­tät wird nicht mit ihren sanf­ten post­mo­der­nen Aus­läu­fern been­det, son­dern abbre­chen mit dem Kul­tur­schock. Der Kul­tur­schock, der nicht die Wil­den trifft, son­dern die ver­wüs­tet Ver­geß­li­chen. 

Aber das ver­fing nicht. Klar wur­de, daß mit die­sem post­prag­ma­ti­schen Typus eine Ver­stän­di­gung über die Not­wen­dig­keit von Lebens­hür­den nicht mög­lich war. Wir rede­ten per­ma­nent anein­an­der vor­bei, und uns wur­de klar: Wer alle Last abzu­strei­fen ver­mag, hat kei­ne Ver­an­las­sung, über die rich­ti­ge Tra­ge­wei­se der Last zu strei­ten. Wer die Geschich­te hin­ter sich gelas­sen hat und mit­hil­fe von Jar­gon und For­meln die schwar­ze von der neu­en Zeit schei­det, hält sich nicht mehr mit Geschichts­po­li­tik auf. 

Aber waren wir in der Lage, unse­ren Gegen­ent­wurf plau­si­bel zu machen und aus der Sphä­re eines bloß je indi­vi­du­el­len Selbst­pro­jekts zu lösen? Was genau wäre unser Gegen­ent­wurf? Leif Randts Roman gibt einen Hin­weis: Er zeich­net Cha­rak­te­re nach, die nicht jeden kal­ten Hauch des Schick­sals in ihr per­sön­li­ches Selbst­op­ti­mie­rungs­pro­gramm umlen­ken konn­ten. Und so tritt ein neu­es, mys­te­riö­ses Kol­lek­tiv auf den Plan: Die Hanks. Sie ver­üben Anschlä­ge mit soge­nann­tem Keta­sol­fin, einer gas­för­mi­gen Sub­stanz, die schwach dosiert Wan­kel­mut und Nost­al­gie her­vor­ru­fen kann, in höhe­rer Dosie­rung aber auch »Zustän­de der Panik sowie Ohn­machts- und Läh­mungs­er­schei­nun­gen« aus­löst. Das »Kol­lek­tiv der gebro­che­nen Her­zen«, wie die Hanks sich selbst nen­nen, will sich nicht in die Schmerz­lo­sig­keit fügen. »Die­se jun­gen Leu­te über­hö­hen ihren Schmerz«, heißt es an einer Stel­le, und sofort ist klar, daß die­sem Auf­stand die öko­no­mi­sche Begrün­dung fehlt: Es geht den Hanks dar­um, den Schmerz end­lich wie­der zuzu­las­sen und den Men­schen in sei­ner Anti­quiert­heit anzu­er­ken­nen. 

Wer an den »Fight Club« Tyler Dur­dens denkt, liegt nicht falsch, nur ist das alles gar nicht mehr kraß und blu­tig und kon­se­quent zu einem tota­len Auf­stand hin durch­lebt – son­dern in der Dik­ti­on sanft und auf einen Rest­raum der Schwä­che und auf Mit­leid ange­legt: Es kur­sie­ren öffent­lich gemach­te, per­sön­li­che Brie­fe, in denen Men­schen über ihre Ver­let­zun­gen und Ent­täu­schun­gen spre­chen und sich damit gegen jene wen­den, »die eine neue schmerz­lo­se Welt ver­spre­chen«. In einem Mani­fest der Hanks heißt es denn auch: »Heu­te arbei­tet jeder dar­an, sich mög­lichst schmerz­frei abzu­kap­seln. Die Ent­täu­schung ist vor­pro­gram­miert. Wir höh­len uns aus.« Im Kon­trast zu die­sem emo­tio­na­len Eska­pis­mus müs­se man nun drin­gend das Bewußt­sein des eige­nen Man­gels wiederentdecken.

Es gibt unter dem Roman­per­so­nal (und den Lesern) wohl einen nicht gerin­gen Anteil, der sich durch der­lei Atta­cken aus ver­lo­re­ner Stel­lung her­aus anrüh­ren läßt. Aber weil es Rüh­rung ist (und nicht viel mehr), stellt sich gleich eine Fra­ge ein, die aus der Revo­lu­ti­on gegen das Gan­ze eine revo­lu­ti­ons­ro­man­ti­sche Auf­wal­lung im Diens­te des Gan­zen macht: War­um unter­bin­det Actu­al­Sa­ni­ty die Anschlä­ge der Hanks nicht, wo das Sys­tem doch sogar den Ort der Rebel­len kennt?

Die Ant­wort ist die denk­bar ver­hee­rends­te für jeden Wider­stän­di­schen: Er ist als Dampf­ven­til längst aus­ge­macht und ein­ge­baut in die per­ma­nen­te Sys­tem­sta­bi­li­sie­rung. Im »Bocks­ge­sang« heißt es: 

Die­se Demo­kra­tie benö­tig­te von Anfang an mehr Pflanz­stät­ten für die von ihr Abge­son­der­ten. … Ich bin davon über­zeugt, daß die magi­schen Orte der Abson­de­rung, daß ein ver­spreng­tes Häuf­lein von inspi­rier­ten Nicht­ein­ver­stan­de­nen für den Erhalt des all­ge­mei­nen Ver­stän­di­gungs­sys­tems uner­läß­lich ist. 

Ist sie nicht furcht­bar, die­se Rol­len­zu­schrei­bung? So gese­hen sind in Leif Randts Roman die Hanks nur ein Mit­tel zur tem­po­rä­ren Ener­gie­ab­fuhr. Das wird nicht expli­zit behaup­tet, aber als sehr kon­se­quen­te Erklä­rung ange­bo­ten. Authen­ti­zi­tät des Wider­stands oder doch nur ein genia­ler Schach­zug des Sys­tems, das alles ein­baut, mit­be­rück­sich­tigt, auf der Rech­nung hat? Ist das, was noch ertra­gen wird, fol­gen­los? Ist ein Dumm­kopf, wer noch ertra­gen will? Bie­ten nicht Sport und insze­nier­te Adre­na­lin­stö­ße Aus­gleichs­qual genug?

5. 

Der beken­nen­de Kom­mu­nist und FAZ-Redak­teur Diet­mar Dath schrieb vor eini­gen Jah­ren, daß sei­ne Ide­al­ge­sell­schaft von einer Fol­gen­lo­sig­keit des Irr­tums gekenn­zeich­net sei. Der Mensch wer­de sich unun­ter­bro­chen kon­se­quenz­los irren, wer­de alle indi­vi­du­ell ange­häuf­ten Irr­tums­kos­ten unun­ter­bro­chen auf die gren­zen­lo­se Soli­dar­ge­mein­schaft abwäl­zen dür­fen. Ist das nicht genau das, was in lin­ken Uto­pien auf­scheint? Daß alles, aber auch wirk­lich alles denk­bar und vor­stell­bar sei, weil es die Pro­duk­ti­ons­kräf­te her­gä­ben? Daß also der Mensch im Zustand eines irren­den, unver­ant­wort­li­chen Kin­des gehal­ten wer­den kön­ne, weil der Ener­gie­auf­wand der per­ma­nen­ten Berei­ni­gung eben­so unpro­ble­ma­tisch zur Ver­fü­gung stün­de wie die Hand einer auf­räu­men­den Mutter?

Die­ser Ent­wurf ist in wei­ten Tei­len zur Wirk­lich­keit gewor­den, und die Soli­dar­ge­mein­schaft kann sich die tota­le Abfe­de­rung jedes noch so wis­sent­lich her­bei­ge­führ­ten Lebens­pha­sen­irr­tums durch die »Abhol­zung der unter­ir­di­schen Wäl­der« (wie Rolf Peter Sie­fer­le den Ein­satz fos­si­ler Ener­gie­trä­ger nann­te) ener­ge­tisch tat­säch­lich leis­ten, kann jede noch so gro­ße Faul- und Träg­heit durch unver­hält­nis­mä­ßi­gen Ener­gie­in­put aus­glei­chen – ohne daß die Flei­ßi­gen auf irgend­et­was ver­zich­ten müß­ten. Der Anthro­po­lo­ge Arnold Geh­len muß die­sen Zustand vor Augen gehabt haben, als er davon schrieb, daß den post­in­dus­tria­li­sier­ten Men­schen, den Men­schen der Mas­sen­ge­sell­schaft von sei­nen Vor­fah­ren eine »Kul­tur­schwel­le« tren­ne. Jede kon­ser­va­ti­ve Kul­tur­kri­tik ist gegen die eman­zi­pa­to­ri­sche Macht der Ener­gie­ver­schwen­dung chan­cen­los, weil es kei­nen Grund gibt, auf das zu ver­zich­ten, was alle ande­ren für sich in Anspruch neh­men – es sei denn, man hat eine bestimm­te Form von sich und dem eige­nen Lebens­kreis vor Augen, die nur in Aske­se aus­ge­bil­det wer­den kann. Aber das wird jen­seits des Hof­to­res nie­mand verstehen.

Es gibt nun aus dem Jah­re 2008 von Botho Strauß ein selt­sa­mes Buch. Kaum jemand kennt es, obwohl Kri­ti­ker in ihm die Aus­wal­zung und Fort­schrei­bung des »Anschwel­len­den Bocks­ge­sangs« sahen. Die Unbe­hol­fe­nen heißt die­ses Buch, und die­se »Bewußt­seins­no­vel­le« (so der Unter­ti­tel) ist nichts ande­res als die Dar­stel­lung einer Denk-Fami­lie, die in sich selbst und in einem form­schö­nen, elo­quen­ten Dau­er­ge­spräch ihre Legi­ti­ma­ti­on fin­den muß, weil von außen, von den Umstän­den her kei­ne kommt. Wer aus der Angst her­aus, im Gro­ßen und Gan­zen nichts zu bedeu­ten, ein über­trie­be­nes Selbst-Bewußt­sein ent­wi­ckelt, darf »nicht nach drau­ßen gehen, um zu erfah­ren, was drau­ßen vor sich ging«, denn: »Ein Drau­ßen­tag genügt, und alles Mit­ein­an­der-Für­ein­an­der, das du in dir trägst, ver­fins­tert sich«. Das ist die Bewußt­seins­be­schrei­bung abge­schot­te­ter Milieus. Man will ein »Vor­sprung in die nächs­te Zukunft« sein, ein »Rest­licht­ver­stär­ker für die ein oder ande­re ver­ge­hen­de Ansicht oder Ein­sicht«; man spricht, »um wie bei der Flur­pro­zes­si­on der Römer, den Roga­tio­nen, den Acker unse­rer Zeit zu umschrei­ten« und beschreibt sich als »Dativ-Men­schen«, lebend »nach dem Mot­to: Ich bin, was mir widerfährt.«

Daß dies die For­mel für die Deka­denz, für den Abschied vom Agie­ren ist, wird nicht aus­ge­spro­chen, aber die­se Fol­ge­rung beschleicht einen, und man wird, wäh­rend man liest, immer stil­ler. Zu nah rückt einem die­ses »übrig­ge­blie­be­ne« Haus »mit­ten in einem öden Gewer­be­park«, in dem sich die selbst­er­nann­ten »geret­te­ten Figu­ren« in ihrem unaus­ge­setz­ten fei­nen Gespräch erge­hen und ihre Daseins­be­rech­ti­gung for­mu­lie­ren. Die Kul­tur­kri­tik ist auf der Höhe der Zeit, sie ist kon­ser­va­tiv, rechts, aber hilf­los. Einer sagt: »Ich glau­be, ich bin der letz­te Deut­sche. Ein Strolch, ein in hei­li­gen Res­ten wüh­len­der Stadt‑, Land- und Geist­strei­cher. Ein Obdach­lo­ser«, ein ande­rer meint: »Daß wir spre­chen wie wir spre­chen, ist nur noch ein Ver­stän­di­gungs­me­di­um unter Besieg­ten«, und ein drit­ter beschwört: »Nicht wahr, Freund, es muß noch einen, einen letz­ten Auf­stand des Her­zens geben.«

Die­ser Auf­stand wäre rüh­rend, wenn er nur einer des Her­zens wäre. Und das kon­ser­va­ti­ve Den­ken blie­be sinn­los, wenn gelän­ge, wovon kurio­ser­wei­se auch Kon­ser­va­ti­ve träu­men: daß näm­lich end­lich eine Ener­gie­form gefun­den wür­de, die nicht end­lich, son­dern unbe­grenzt zur Ver­fü­gung stün­de. Dann gäbe es von die­ser Sei­te her kei­nen zwangs­läu­fi­gen Rück­schwung des Pen­dels mehr, dann wäre es mög­lich, unbe­grenzt zuzu­kle­is­tern und zurecht­zu­rü­cken, was der nicht-erzo­ge­ne, der tot­alem­an­zi­pier­te, der kin­disch geblie­be­ne, der unan­ge­streng­te Mensch Tag für Tag auf Kos­ten der All­ge­mein­heit ver­bockt. Das »Leben aus dem, was immer gilt« wäre ersetzt und ent­wür­digt zugleich durch ein »Leben aus dem, was unbe­grenzt spru­delt«. Kei­ne Kul­tur­kri­tik, kein Ver­weis auf anthro­po­lo­gi­sche Kon­stan­ten, auf die Häß­lich­keit der Deka­denz und auf die Ver­pflich­tung aus einer gro­ßen Geschich­te wäre imstan­de, den Men­schen (und mit­in­be­grif­fen auch den deut­schen Men­schen) von sei­ner end­gül­ti­gen »Ver­haus­schwei­nung« (Kon­rad Lorenz) abzu­hal­ten. Selbst die abseh­ba­re Über­frem­dung mit all ihren zwar geleug­ne­ten, aber irgend­wann sicht­bar kata­stro­pha­len Aus­wir­kun­gen wäre dann kein hin­rei­chen­der Grund mehr für eine kon­ser­va­ti­ve Recon­quis­ta: Auch bis­her lie­ßen sich eth­ni­sche Bruch­li­ni­en und kul­tu­rel­le Kämp­fe mit viel Geld zukle­is­tern und abfan­gen. Wie­so soll­te die­ses All­heil­mit­tel in zehn Jah­ren nicht mehr anschlagen?

Strauß schreibt im »Bocks­ge­sang«:

Die Blind­heit des Unse­ren: daß es nicht sehen woll­te, wie­viel Erlö­schen es brach­te. Das Ange­rich­te­te, es ganz allein, bringt sei­nen Kraft­schwund her­vor. Der ein­zi­ge Feind, gegen den man nicht kämp­fen kann und des­sen Bedro­hung die Kräf­te nicht anspornt: Volks­reich­tum. Sind weni­ge reich, so herrscht Kor­rup­ti­on und Anma­ßung. Ist es das Volk ins­ge­samt, so kor­ro­diert die Sub­stanz. Jeden­falls schützt Wohl­ha­ben nicht vor der Demon­ta­ge des Sys­tems, dem es sich ver­dankt. 

Wir Unbe­hol­fe­nen! Wer rechts ist, kon­ser­va­tiv ist, muß sich für sich und das gan­ze Volk ein har­tes Leben wün­schen, zumin­dest für jede zwei­te Gene­ra­ti­on. Es ist doch längst in unser Bewußt­sein ein­ge­si­ckert, daß es dort, wo Schick­sal, Här­te und Ver­zicht aus­ge­he­belt sind, kei­ne Kon­ser­va­ti­ven von Bedeu­tung geben kann. Und wenn es dabei bleibt, dann sind wir noch nicht ein­mal mehr ein »Vor­sprung in die nächs­te Zukunft« und die­je­ni­gen, die das Wort für Mor­gen vor­ge­dacht haben. Dann ist unser wirk­lich­keits­na­hes Den­ken, ist der rech­te Gegen­ent­wurf nur mehr eine Frei­zeit­be­schäf­ti­gung: »Eine Scha­le mit Zucht­per­len aus­schüt­ten, die zu nichts gut sind, als sie ein­mal hef­tig hüp­fen und kichern zu las­sen auf dem Boden. Dann kul­lern sie noch ein Streck­chen und lie­gen schließ­lich glanz­los in den Fugen wie aller Schutt« (wie­der­um Botho Strauß).

6. 

Anwen­dung also ist von­nö­ten, Ver­hal­tens­leh­ren müs­sen ent­wi­ckelt wer­den, man darf sich nicht abwen­den. Indes: Am 2. Okto­ber 2015 erschien im Spie­gel unter der Über­schrift »Der letz­te Deut­sche« ein kur­zer Text zur geis­ti­gen Situa­ti­on unse­rer Zeit, ver­faßt von Botho Strauß. Das Maga­zin selbst hat ver­sucht, die Bedeu­tung die­ser Äuße­run­gen dadurch zu ver­grö­ßern, daß es sie als eine Art Anschluß­den­ken an den »Anschwel­len­den Bocks­ge­sang« ver­kauf­te: Denn schon 1993 hat­te Strauß auf die »Abkehr« als Hal­tungs- und Denk­form hin­ge­wie­sen, und die Abkehr vom eige­nen, als Mas­se stets ver­nut­zend und häß­lich, kurz: als Pöbel auf­tre­ten­den Volk paß­te nach dem Schock der Flücht­lings­wel­le gut ins Kon­zept eines Maga­zins, das den Deut­schen die Ent­klei­dung und Ent­ker­nung ihrer selbst seit Jahr­zehn­ten nahe­legt. Wenn schon Strauß sich als den »letz­ten Deut­schen« beschrieb, konn­te es um den abge­wi­ckel­ten Rest nicht mehr scha­de sein. Die Häme hin­ter die­ser Selb­st­ab­schaf­fungs­lust fin­det sich doch im »Bocks­ge­sang« bereits beschrieben:

Intel­lek­tu­el­le sind freund­lich zum Frem­den, nicht um des Frem­den wil­len, son­dern weil sie grim­mig sind gegen das Unse­re und alles begrü­ßen, was es zer­stört. 

Soll­te die Ein­pas­sung der eige­nen Abson­de­rung in die­se kaput­te Logik tat­säch­lich der Anspruch »des letz­ten Deut­schen« sein? Wenn ja, war­um? Aus Antriebs­schwä­che, aus Ein­sicht, nur die­ses Wäch­ter- und Bewah­rer­amt noch beklei­den zu kön­nen, kei­nes­falls aber mehr? Man konn­te vor drei Jah­ren und kann heu­te die Lage – deren Fest­stel­lung von Bedeu­tung ist – als Dilem­ma beschrei­ben: Zu leben haben wir alle tat­säch­lich mit einem kul­tur­fer­nen, sei­ner kul­tu­rel­len Iden­ti­tät ent­frem­de­ten, an sei­nem Erbe nur­mehr mäßig inter­es­sier­ten Volk, und die Fra­ge ist, ob man in der eige­nen Abson­de­rung die­ses Volk auf­gibt oder ob man ihm zuge­neigt bleibt, auch heu­te, auch ange­sichts sei­ner rasant ablau­fen­den Ent­ker­nung. Strauß urteil­te gründ­lich und hart:

Der Irr­tum der Rech­ten: als gäbe es noch Deut­sche und Deut­sches außer­halb der ober­fläch­lichs­ten sozia­len Bestim­mun­gen. Jenen Raum der Über­lie­fe­rung von Her­der bis Musil woll­te noch nie­mand ret­ten. 

Bei­des stimmt nicht: Natür­lich gibt es noch Deut­sche und Deut­sches, das weit in die Tie­fe reicht und dort wur­zelt. Und natür­lich gibt es Leser, Autoren, Maler, Kom­po­nis­ten, Pro­du­zen­ten, Ver­le­ger, Diri­gen­ten, Mäze­ne, die das gan­ze wun­der­ba­re deut­sche Erbe nicht nur ver­wal­ten und in Erin­ne­rung behal­ten, son­dern in sei­nem exis­ten­ti­el­len Anspruch zu einer oft nicht nur rand­stän­di­gen Gel­tung brin­gen, und zwar nicht als rück­sichts­lo­se Dekon­struk­teu­re oder Ver­fech­ter jenes »devo­ti­ons­feind­li­chen Kul­tur­be­griffs«, der alles Hin­hor­chen, Dank­bar­sein und Wie­der­her­stel­len bespöt­telt und verlacht.

Weg von den sen­sa­ti­ons­gei­len For­ma­ten, hin­ein in die Fal­ten unse­res schö­nen Lan­des. »Bocks­ge­sang«: 

So vie­le wun­der­ba­re Dich­ter, die noch zu lesen sind – so viel Stoff und Vor­bild­lich­keit für einen jun­gen Men­schen, um ein Ein­zel­gän­ger zu werden.

War­um ist denn stets im Novem­ber die Kreuz­kir­che in Dres­den bis auf den letz­ten Platz gefüllt, wenn das Deut­sche Requi­em von Brahms gege­ben wird, und zwar faßt aus­schließ­lich vor Deut­schen, obwohl die Kar­ten kaum teu­rer sind als die für einen Kino­film? Kein Mensch applau­diert übri­gens, wenn der Kreuz­chor geen­det hat, der­lei gibt es noch in Deutsch­land. Und sogar in der Pro­vinz, in einer klei­nen, aus­ge­laug­ten, häß­lich wie­der­auf­ge­bau­ten Stadt wie Bran­den­burg, kann man an einem Sonn­tag­nach­mit­tag hun­der­te Deut­sche in ein Kon­zert pil­gern sehen, mit Wer­ken von Wag­ner und Bruck­ner, und es war just dort, daß der Diri­gent sich den Applaus eben­falls ver­bat, weil die­se immer zur Hälf­te eit­le Bekun­dung weder in die Kir­che, noch zu den Kom­po­si­tio­nen und eigent­lich gar nicht zum Aus­klin­gen und Nach­hal­len der Musik gehöre.

Botho Strauß wähl­te in sei­nem Spie­gel-Text als »letz­ter Deut­scher« den Weg des­sen, der sei­nen »kul­tu­rel­len Schmerz« pflegt und dies als einen beson­de­ren Dienst an jenem (ver­dor­ren­den) Volk emp­fin­det, das die kul­tu­rel­le Blü­te erst her­vor­ge­bracht hat. Es lei­det da jemand stell­ver­tre­tend, aber tut er es noch zuge­neigt? Wenn nicht, dann pflegt er eine eli­tä­re Form der Ver­ach­tung, und die­se ist zwei­fel­los eine Ver­su­chung für jeden Intel­lek­tu­el­len. Aber die Zunei­gung gehört auf die­se Wei­se nur dem Gewe­se­nen des Vol­kes, und die Fra­ge ist, ob man sich von dem über­bor­den­den Häß­li­chen im Eige­nen so grund­sätz­lich abwen­den darf.

Man darf sich nicht abwen­den, nicht jetzt, nicht in die­ser Zeit, eigent­lich über­haupt nie, und auch Botho Strauß hat sich nie abge­wen­det. Wer ver­öf­fent­licht, will gele­sen wer­den; wer sich poli­tisch, das heißt: zur Lage äußert, will poli­tisch gele­sen wer­den und weiß, daß jede Lage­be­schrei­bung ein Aus­gangs­punkt ist, von dem aus wei­ter­ge­gan­gen, wei­ter­ge­dacht, wei­ter­ge­macht wer­den wird. Botho Strauß wuß­te, was er tat, als er 1993 die Lage umschrieb und Pro­gno­sen wag­te – alles in jenem Ton, der ein Erah­nen und stil­les Ein­ver­neh­men vor­aus­setzt, oder, um es mit Strauß selbst zu sagen: 

Das Genaue ist das Fal­sche. Es läßt den Hof, den Nim­bus nicht zu. Unse­re Lebens­sphä­re ist das Vage, das Unge­fäh­re. 

Man hat das sein »Gerau­nen« genannt, woll­te ihn damit tref­fen, und wahr­schein­lich ist das jüngs­te Gere­de von unse­rer »post­fak­ti­schen Zeit« bloß ein wei­te­rer Ver­such, das jen­seits aller rest­frei­en Lebens­lo­gik Wah­re, unver­mit­telt Ein­sich­ti­ge zu desavouieren.

7. 

Ich bin mir sicher: Alles, was nun kippt, was sich intel­lek­tu­ell, kul­tu­rell nach rechts neigt, um ein Gleich­ge­wicht (min­des­tens das!) wie­der­her­zu­stel­len in unse­rem Kul­tur­kreis und die Geschich­te auch in unse­rem Land flüs­sig zu hal­ten, hat mit dem »Anschwel­len­den Bocks­ge­sang« einen sei­ner unter­ir­di­schen Anker. Es ist aus­ge­schlos­sen, daß sich einer geis­tig (geis­tig!) zu uns her­über auf­macht, ohne Maß zu neh­men an die­sem Text. 

Der »Anschwel­len­de Bocks­ge­sang« war und ist ein Aus­lö­ser-Text. Er gewährt amu­si­sche Leser kei­nen Zugang und reizt die­je­ni­gen, die nicht gemeint sind, bis aufs Blut. Bei­de ste­hen betrof­fen vor den unsin­ni­gen Anwei­sun­gen, die man aus sei­ner Lek­tü­re ablei­ten kann. Immer flüs­si­ger und ahnen­der lesend, ver­steht, wer den Anspruch auf­nimmt, immer genau­er und zieht zuletzt ein­an­der wider­spre­chen­de Schlüs­se, die auf einer höhe­ren (oder tie­fe­ren) Ebe­ne initia­tisch wir­ken und inein­an­der­ge­fügt sind. 

Man liest und will »gemeint« sein. Der »Anschwel­len­de Bocks­ge­sang« legt For­mu­lie­run­gen fest wie Codes: Wer sie künf­tig nicht kennt, wer die Anspie­lun­gen nicht ver­steht, kann nicht ganz dazu­ge­hö­ren. Der »Bocks­ge­sang« befrei­te uns vor 25 Jah­ren von der Ein­bil­dung, daß klei­ne, wohl­durch­dach­te Trip­pel­schrit­te zu einem nen­nens­wer­ten Ziel füh­ren könn­ten. Er stell­te zugleich unse­rem Wunsch, aus­zu­grei­fen, eine denk­bar schlech­te Pro­gno­se. 

Wir wuß­ten nach der Lek­tü­re um die Aus­sichts­lo­sig­keit im Gan­zen, und das öff­ne­te zwei Türen: Die eine führ­te aus dem kon­ta­mi­nier­ten, rech­ten Gelän­de hin­aus in eine bür­ger­li­che Kar­rie­re, war mit­hin jener Aus­gang, den wähl­te, wer das Mach­ba­re ver­fol­gen und dabei nicht zu kurz kom­men woll­te. Die ande­re Tür führ­te zu dem, was wir »Hal­tungs­fi­gu­ren« nen­nen, und die alle­samt ver­kör­pert waren und sind unter den Rechts­in­tel­lek­tu­el­len: der Wald­gän­ger, der Sol­da­ten auf sei­nem ver­lo­re­nen Pos­ten, die Grup­pe im hor­tus con­clus­us, der Dich­ter, der noch das Blei­ben­de stif­ten kann, der Par­ti­san des Geis­tes, der Hüter eines ein­zi­gen Wer­kes, der maxi­mal Anstö­ßi­ge. 

Und jetzt ste­hen wir plötz­lich auf der Büh­ne, es ist unse­re Zeit: Das »Ange­rich­te­te«, von dem Strauß sprach, steht uns vor Augen:

Von der Gestalt der künf­ti­gen Tra­gö­die wis­sen wir nichts,

schrieb Strauß 1993 und:

Wir hören nur den lau­ter wer­den­den Myte­ri­en­lärm, den Bocks­ge­sang in der Tie­fe unse­res Handelns.

So war es, aber so ist es nicht mehr. Die Kata­stro­phe hat Gestalt ange­nomm­men, wir erle­ben als Akteu­re und Zuschau­er zugleich den Ablauf unse­rer Tra­gö­die. Es ist die Tra­gö­die des Abend­lan­des, und gera­de läuft der Akt, in dem die Zer­stö­rer von den Schalt­he­beln gedrängt und die Rück­stell­kräf­te akti­viert wer­den. Ob sie hin­rei­chen, weiß kei­ner. Zum Glück aber sind wir vor­be­rei­tet, wir Wäch­ter des Abends, und kön­nen im ange­schwol­le­nen Bocks­ge­sang unse­re Rol­le spielen.

Götz Kubitschek

Götz Kubitschek leitet den Verlag Antaios

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Kommentare (69)

Maiordomus

23. Juli 2018 22:50

Starker Text: "A-musische Menschen können zu keinem anderen Schluß kommen, sie wissen nichts vom 'tiefen Deutschland', über das Strauß schrieb und dessen Versinken er bis heute betrauert, dessen Versinken auch wir betrauern, wobei wir trauernd das tun, was jeder Baum auch tut: Die Wurzeln dem absinkenden Grundwasser hinterhertreiben." Dieses Grundieren nach Wurzeln kann sich natürlich nicht darauf beschränken, dass es in der Marxschen Analyse hoffentlich auch ein paar richtige Elemente und Momente geben könnte. Selbst das Nationale überzeugt als letzter und tiefster Wert nicht, auch wenn man sich gegen dessen Denunzierung verwahrt.

Aber: Botho Strauss hatte nun mal doch nicht das Zeug, ein deutscher Solschenizyn oder Sacharov oder Andrei Amalrik oder gar ein deutscher Orwell zu werden, fast glücklicherweise auch kein rechter Grass oder Böll. Objektiv hat er es wohl nicht zu den 100 bedeutsamsten Autoren der deutschen Literatur von sagen wir mal seit 1830 geschafft. Er hat sich aber doch zu einem wichtigen Zeitpunkt der neueren Geistesgeschichte mit der Andeutung einer Wende an ein ziemlich elitäres Publikum gewandt. Ich hatte aber in den letzten 25 Jahren nie einen Schüler, der mit einfachen Worten seinen Mitschülern hätte erklären können, was eigentlich der Autor mit diesem anschwellenden Bocksgesang sagen wollte. Da lob ich mir direkt das kommunistische Manifest oder "J'accuse" von Emile Zola.

Franz Bettinger

24. Juli 2018 01:10

@Maiordomus: Was Botho Strauß (BS) sagt? Dies:

Die Demokratie ist entartet, die Wirtschaft wird über- und das nationale und kulturelle Zusammengehörigkeits-Gefühl wird unter-schätzt. Alles Traditierte in Deutschland immer wieder abzuwürgen, war der größter Fehler der Nachkriegszeit. Er wird sich rächen. BS verhöhnt das Linke und Falsche und die alliierten Gesetze, die uns zur Güte, Lüge sowie zur Feindes- und Fremdenliebe verpflichten. Alles sei Berechnung. Das vom Staat und seinen (!) Medien vordergründig missbilligte Rechte wird ja von ihnen selbst großgezogen, gepäppelt, bisweilen sogar eingekauft (die V-Leute der NPD und des NSU) und ausgehalten (Antifa). Nie waren Nazis wertvoller als heute. Man braucht sie. Wozu? Na, wie immer: Um die größten Sauereien durch das (manipulierte) Volk gegen das (verdummte) Volk durchzusetzen. Welche Sauereien? Unsere Entwaffnung, ergänzt durch die schon stattfindende allumfassende Ausspähung (NSA) und die ins Haus stehende, auf Knopfdruck funktionierende, finanzielle Fessel des Plastikgeldes und der Kontensperrungen. Das werde, so BS prophetisch, zur Paralyse des widerständigen Bürgers führen. Auf den vier Säulen (Spionage, Propaganda, keine Waffen, kein Geld) versucht deep state, den großen Versklavungs-Plan der Weltbevölkerung aufzubauen. Wir sind (heute) nur noch einen Schritt von diesem Zustand der größtmöglichen Ohnmacht entfernt. Der Staat wird uns freiwillig nichts zurückgeben. Wir müssen es uns aktiv holen, vermutlich mit Gewalt. Feige Spießer kann man dabei nicht brauchen.

Der Rechte hofft auf einen tiefgreifenden und unter den Gefahren geborenen Wechsel der Mentalität und auf die endgültige Verabschiedung des 70-jährigen Selbstbetrugs, der unser Denken mit Spott und Frivolitäten (wie Gay und Gender) bevölkert und eine bigotte Gläubigkeit an das Politisch Korrekte geschaffen hat.

BS sieht, dass die Gesellschaft immer mehr in die Hände eines Schatten-Staates fällt. Dass hinter den schwachen Drahtziehern (Merkel, Junker) dann stärkere Drahtzieher (Soros und Draghi) auftauchen und die Neue Welt an die Kandare legen. BS sieht schon 1993, wie schnell der Feuerball der Narreteien wächst. Die Propaganda- und Lügenpresse braucht keine Köpfe mehr rollen zu lassen, heute sind die Gutmeinenden gemeiner als jeder Blödsinn eines Böhmermanns.

Dabei sei Widerstand gar nicht so schwer, glaubt Botho Strauß. Dabei fällt mir Schnellroda ein. Das einzige, was man brauche, sei der Mut zur Sezession, zur Abkehr vom Mainstream. Ein versprengtes Häuflein inspirierter Nicht-Einverstandenen reicht aus für den Erhalt unseres Wesens. Missachtung tut Not. Es ist völlig gleichgültig, was auf den TV-Kanälen ausgestrahlt wird, wenn einmal die Stränge dahin gekappt sind. Die Sinne lassen sich nur betäuben, nicht abtöten. Irgendwann wird es zu einem gewaltigen Ausbruch gegen den Sinnen-Betrug kommen.

Und dann wird Botho Strauß ganz aktuell: Eines Tages werden die Mainstream-Medien allesamt ihren Einfluss verlieren. Zwar werden noch unglaubliche Anstrengungen unternommen, um das Publikum wieder einzufangen, es erneut zu illusionieren und einzupegeln, doch sie werden vom Puplikum nicht mehr goutiert. Das mediale Lügen- und Gunstgewerbe wirkt auf einmal wie ein verstaubter Zirkus und hat auf einen Schlag alle suggestive, realitäts-zersplitternde Macht verloren. In den TV-Kästen werben sie noch mit todes-ängstlicher Anstrengung, doch das Volk lächelt unerbittlich; es glaubt nichts mehr davon. Ha, was einmal die dumpfe Masse gewesen war, wird bald schon die aufgeklärte Masse sein. - So Botho Strauß.

Ist das nur Pfeiffen im Wald? Vielleicht. Vielleicht kommt das Pfeiffen auch einfach zu spät. Ich weiß es nicht.

Maiordomus

24. Juli 2018 11:06

@Bettinger. Instruktive Perspektiven, auch der Artikel von Kubitschek scheint mir tiefsinnig; noch interessant der Bezug auf einen literarischen Salon im Zusammenhang mit Autorensohn Simon Strauss. Gewinnt aber sicher nicht das Gewicht des einstigen George-Kreises. Ein Vergleich der Georgeschen Gedichte "Das Neue Reich" mit dem Bocksgesang würde natürlich arg hinken, ausser dass das Ganze ziemlich esoterisch verblieben ist. Dieser mein Einwand konnte nicht entkräftet werden, hat sich noch verstärkt. Mutmasslich weniger als 1 Promille der Bevölkerung können mit dem "anschwellenden Bocksgesang" etwas anfangen. Mit Bettingers Kommentar immerhin alle, die ihn gleich hier zur Kenntnis nehmen.

Franz Bettinger

24. Juli 2018 11:42

Hier ein kürzerer Versuch zum Bocksgesang:

B. Strauß liefert eine mehr-perspektivische, scharfe und kluge Lage-Beurteilung und Zukunftsprognose der brd von Rechts, eine - wie ich finde (denn sonst hätte der Spiegel den Bocksgesang gar nicht abgedruckt) - überparteiliche Einschätzung, die 1993 auch Linke aufhorchen ließ. Mit Appellen wie "Kehrt dem System den Rücken!" "Sabotiert, was euch kaputt macht!" und "Werdet rechte Hippies!" habe ich für mich den Bocksgesang zu einem Kampfschrei kondensiert. Für meine Welt hat das funktioniert. Klar, ich weiß auch, dass solche Parolen überrissen und verkürzt sind, aber so sind nun einmal Schreie; nichtsdestoweniger erfüllen sie einen Zweck. Man kann natürlich auch brav, von Rechts her dem Schweine-System weiter in die Hände arbeiten. Ego non!

G.K. Chesterton, den Matthias Matussek dankenswerter Weise in seinem brillanten Buch White Rabbit (eine Perle im Schrott der Zeit) für uns wiederbelebt hat, der famose Chesterton also sagt über die Tradition, der ja auch Botho Strauß nachtrauert: "Sie lässt sich als erweitertes Stimmrecht fassen. Tradition bedeutet, dass man der am meisten im Abseits stehenden Klasse, unseren Vorfahren, Stimmrecht verleiht. Tradition ist Demokratie für die Toten. Sie ist die Weigerung, der kleinen anmaßenden Oligarchie (FB: der Modernisten), die zufällig gerade auf der Erde wandeln, das Feld zu überlassen." Bravo, schön gesagt! Das könnte auch von Botho Strauß stammen.

Maiordomus

24. Juli 2018 11:50

Die Gemeinschaft der Lebenden und der Toten ist etwa beim Ahnherrn des angelsächsischen Konservatismus, Edmund Burke, ein durchaus tragender Gedanke. Er findet sich auch beim süddeutschen jüdischen Heimatschriftsteller Jakob Picard, der auf dem Friedhof von Wangen/Hoeri beigesetzt ist, auch wie Leopold Ziegler, Friedrich Georg Jünger, Martin Walser, Bruno Epple und Arnold Stadler Bodenseeliteraturpreisträger der Stadt Überlingen

Michael B.

24. Juli 2018 12:21

> weniger als 1 Promille der Bevölkerung können mit dem "anschwellenden Bocksgesang" etwas anfangen.

Ich persoenlich habe ueberhaupt kein Problem damit. Ich kannte den Namen des Textes, hatte ihn aber nie gelesen.
Ironischerweise war war ein mir als unangenehm wahrgenommener Elitarismus in Kubitscheks Artikel der Anlass dafuer, das zu tun und das Gegenteil zu finden:
Ist gar nicht elitaer, der Text selbst ist auch nicht 'esoterisch', im Gegenteil ist er voellig klar. Diese Klarheit ist aber die Besondere und Seltene des eigenstaendigen Gedankens.

Ich bin in der Lage, die allermeisten Texte als Matrix zu lesen. D.h., ich erfasse einen Block an Zeilen oder einen Absatz, ohne auf diese Zeilen selbst, Saetze oder gar Worte zurueckfallen zu muessen. Das geht mir auch bei vielen Drechseleien in den Artikeln und Kommentaren hier so, weil sie eben nicht originaer, sondern sehr erwartbar sind - egal wieviel Gebildetheit die Verfasser darbieten meint zu muessen. Der Wunsch nach Darbietung ist nicht uebersehbar und entwertet. Oder besser, nach seinem Abzug bleibt nur ein sehr uebersichtlicher Kern.

Strauss' Text dagegen erfuellt etwas, was Musil einmal als Prinzip des maximalen Gehalts (oder aehnlich) bezeichnet hat. Er selbst hat danach seinen "Mann ohne Eigenschaften" bis zum Erbrechen um- und umgeschrieben und den gewuenschten Effekt trotzdem nur punktuell erreicht, vielleicht weil er sich so bemueht hat.

Manchmal aber gibt es Texte - und ein solcher ist der von Strauss - die das scheinbar aufwandlos sofort schaffen. Fast jede Formulierung ist 'dicht' und 'maximal' und verursacht Neugier. Diese Art Texte sind selbstlos (s.o.) und auf eine tief begruendete Art vertrauenerweckend.

Maiordomus

24. Juli 2018 13:14

Unbestrittenermassen gibt es im Bocksgesang prophetische Stellen, die man heute noch besser versteht als vor 25 Jahren, ändert aber nichts, dass der Text als Ganzes etwas in sich Geschlossenes und Abgeschlossenes, eben Esoterisches hat. Programmatisch aber natürlich die folgende Stelle:

"Wir warnen etwas zu selbstgefällig vor den nationalistischen Strömungen in den osteuropäischen und mittelasiatischen Neu-Staaten. Daß jemand in Tadschikistan es als politischen Auftrag begreift, seine Sprache zu erhalten, wie wir unsere Gewässer, das verstehen wir nicht mehr. Daß ein Volk sein Sittengesetz gegen andere behaupten will und dafür bereit ist, Blutopfer zu bringen, das verstehen wir nicht mehr und halten es in unserer liberal-libertären Selbstbezogenheit für falsch und verwerflich.
Es ziehen aber Konflikte herauf, die sich nicht mehr ökonomisch befrieden lassen; bei denen es eine nachteilige Rolle spielen könnte, daß der reiche Westeuropäer sozusagen auch sittlich über seine Verhältnisse gelebt hat, da hier das "Machbare" am wenigsten an eine Grenze stieß. Es ist gleichgültig, wie wir es bewerten, es wird schwer zu bekämpfen sein: daß die alten Dinge nicht einfach überlebt und tot sind, daß der Mensch, der einzelne wie der Volkszugehörige, nicht einfach nur von heute ist. Zwischen den Kräften des Hergebrachten und denen des ständigen Fortbringens, Abservierens und Auslöschens wird es Krieg geben.
Wir kämpfen nur nach innen um das Unsere. Wir werden nicht zum Kampf herausgefordert durch feindliche Eroberer. Wir werden herausgefordert, uns Heerscharen von Vertriebenen und heimatlos Gewordenen gegenüber mitleidvoll und hilfsbereit zu verhalten, wir sind per Gesetz zur Güte verpflichtet. Um dieses Gebot bis in die Seele der Menschen (nicht nur der Wähler und Wählerinnen) zu versenken, bedürfte es nachgerade einer Rechristianisierung unseres modernen egoistischen Heidentums. Da die Geschichte nicht aufgehört hat, ihre tragischen Dispositionen zu treffen, kann niemand voraussehen, ob unsere Gewaltlosigkeit den Krieg nicht bloß auf unsere Kinder verschleppt. "

Sandstein

24. Juli 2018 14:15

@ Michael B.

Es geht ja aber nicht darum, wie "dicht" oder "klar" der Text Strauß`ist, sondern wie dicht und klar noch diese Bevölkerung ist.

Der Verrat der CDU ist nicht wieder gut zu machen, die AfD wird, aus diversen Gründen die allen geläufig sein sollten, in absehbarer Zeit das auch nicht auffangen können.

Als ich neulich was von Zukunft in Sibirien faselte wurde das als Spinnerei abgetan.
Spinnerei ist es für mich, zu glauben, dass wir nochmal Zugriff auf die BRD bekommen.

Die Ausgangslage ist ja, dass diese BRD nie für "uns" aufgezogen wurde. Es gibt kein richtiges Leben im Falschen, und es gibt keine deutsche Zukunft in einem Land, dass genau diese Zukunft auf allen Ebenen abkappt.

Auf achgut. erschien heute ein Artikel, der darlegt wie der "deep state" sich dem politischen Überbau immer unterordnet. Wenn ich mir die letzten BTW-Ergebnisse angucke, dann sehe ich aber nicht, dass wir in 10-20 Jahren diesen Überbau maßgeblich mitprägen.

Und dann wird der Drops gelutscht sein, und wir können uns alle freuen, den Bockgesang gelesen zu haben. Insofern verstehe ich absolut nicht, was Sie unter "vertrauenerweckend" und "maximal" verstehen. Aussagen fallen immer auf den Verfasser zurück, polemisch: als Kern Ihrer Aussage bleibt, dass Sie den Bockgesang jetzt gelesen haben und für gut befinden.

Hätten Sie unter Beachtung Ihrer Prinzipien in einem 2 Zeiler schreiben können. Haben Sie aber nicht.

Michael B.

24. Juli 2018 14:59

> Es geht ja aber nicht darum, wie "dicht" oder "klar" der Text Strauß`ist,

Mir schon, das muessen Sie mir schon lassen.

> Insofern verstehe ich absolut nicht, was Sie unter "vertrauenerweckend" und "maximal" verstehen.

Das kann ich Ihnen vielleicht erklaeren. Es gibt Texte, die den Kern einer Realitaet beschreiben. In den passenden Worten. Die sind wie gesagt selten. Eines der Kriterien dafuer ist Ehrlichkeit des Verfassers. Als Mathematiker - nicht hinreichend, aber notwendig. Nichts Pompoeses, voellige Zuruecknahme der Person, deutlich erkennbares verarbeitetes Wissen aber kein Rueckgriff auf Autoritaeten (ich muesste jetzt nachsehen, aber in dem gesamten Text faellt kein Personenname - Hitler aussen vor - zumindest nicht als Bestaetigung eigener Gedanken).
Immer noch nicht hinreichend, aber schon stark in der Naehe sind Punkte die eigenes Denken triggern und beruehren, obwohl die Formulierung voellig andersartig ist. Mein konkretes Vokabular ist ziemlich verschieden von dem von Strauss, die unterliegenden Gedanken trifft er aber und loest andere voellig natuerlich aus. Und diese Gedanken sind nicht singulaer und haben Beruehrungspunkte mit jeder Bevoelkerungsschicht mit ganz unterschiedlichem intellektuellen Niveau und Ausdrucksvermoegen. Das betrifft uebrigens nicht nur die 'dafuer', sondern auch die 'dagegen'. Die Ehrlichkeit schafft das besagte Vertrauen, denn es versucht nicht zu manipulieren. Die Beruehrung - kein Wahlverhalten oder aehnliche politische Aussagen machen das hinfaellig - zeigen das Allgemeine, Verbindende im Sinne des dieses Volk Angehende.

Zu 'maximal' oder 'dicht' kann ich nicht viel mehr sagen als schon geschrieben.

> Hätten Sie unter Beachtung Ihrer Prinzipien in einem 2 Zeiler schreiben können.
Haben Sie aber nicht.

Ich wollte auch kein wesentliches Werk verfassen, sondern ein solches nur kommentieren. Dazu muss ich mich natuerlich in Sprache und Form bei Bedarf auf das Niveau widerstrebender Leser buecken :)

Sandstein

24. Juli 2018 15:21

@ Michael B.

"Mir schon, das muessen Sie mir schon lassen."

Ich lasse das Ihnen auch, versuchte nur klar zu machen, dass es schon ziemlich schmerzbefreit auf mich wirkt, einen Text als Selbstzweck zu betrachten. Eben darum kann es ja nicht gehen.

Was das Niveau angeht ziehen Sie jetzt aber das allerletzte Register, um zu verdecken, dass Sie natürlich dem eigenen Anspruch nach Bescheidenheit nicht gerecht werden.

Das ist unredlich.
Im übrigen bin ich kein "widerstrebender Leser", sondern einfach aufmerksam.

Dass Sie sich nach Ihrem Selbstverständnis bücken müssen, quasi aus Ihrer Matrix heraus, konterkariert ja alles was Sie an Strauß` Text so vertrauenerweckend finden.

Sie können unsere kleine Debatte in der Debatte jetzt gerne schließen, lassen Sie uns die anderen Leser nicht langweilen. Habe auch alles gesagt nun.

Gruß.

Michael B.

24. Juli 2018 15:31

@sandstein,

Ich stelle noch einen smiley dick dazu, aber den wollen Sie mit Gealt nicht sehen, oder? Vielleicht sollten wir mal ein Bier trinken. Bei Ihrem nick durchaus moeglich, Sandstein gibt es jede Menge hier unmittelbar stromaufwaerts.

Sandstein

24. Juli 2018 15:53

@ Michael B.

Jetzt wollte ich Ihnen einen starken Schluss überlassen, und Sie beginnen und enden mit einer Frage. Super ;)

Den Smiley habe ich tatsächlich nicht wahrgenommen, die Einladung zum Bier hingegen jederzeit gerne. Dafür müssten Sie aber nach Berlin oder Potsdam kommen.

Gruß

Fritz

24. Juli 2018 17:21

Übrigens Herr Kubitschek: Glückwunsch zum Interview in "El País":

https://elpais.com/internacional/2018/07/20/actualidad/1532101868_328857.html

Die linksliberale Tendenz des Blattes kommt natürlich durch, sie relativieren natürlich den Holocaust und appellieren an Ängste usw.

Die Kommentare machen aber deutlich, dass die spanischen Leser viele Sympathien für ihre Position haben.

Michael B.

24. Juli 2018 17:50

Gut, dass das aus der Welt ist @Sandstein. Forenkommunikation hat ihre Tuecken.

In dem Zusammenhang eine Frage an die Betreiber:

Ich hatte heute bei Tichy einen Artikel von D. Wegner kommentiert und u.a. auf den Beitrag hier verwiesen (noch nicht einmal verlinkt). Ich habe mich in dem Zusammenhang auch gewundert, dass "Sezession" nicht in der Liste "Freier Denker" von Wegner auftaucht. Der gesamte Anteil wurde aus meinem posting gestrichen und das Ganze verkuerzt veroeffentlicht. Nachfrage mit Verweis auf Tichys eigene Kommentarregeln: keine Antwort, keine Aenderung. Gibt es dahingehend Probleme, die man kennen sollte?

Stresemann

24. Juli 2018 18:12

@ Sandstein: Zur Zweckhaftigkeit: M.E. haben Sie Recht und Unrecht gleichermaßen. Texte, auch Musik, andere kulturelle Artefakte sind dann hochwirksam, wenn sie als etwas Zweckfreies in der Welt sind. Sie können dann etwas entfachen, was auch hochwirksam wird - im Alltag, in der Politk,... . Mehr Romantik wagen! (ich meine ganz sicher nicht Kitsch). Meine Erfahrung ist - ich bin immer wieder mal quer durch Deutschland unterwegs - , dass es viel Menschen gibt, die täglich Widerstand leisten gegen den Ausverkauf unseres Landes. Ich weiß auch nicht, wie zuversichtlich ich sein soll, aber verloren geben kann ich meine Heimat deshalb auch nicht.

Andreas Walter

24. Juli 2018 21:58

@Kubitschek

Was wollen Sie von dem Troll? Ihn studieren, rausfinden, wer das ist, wer das sein könnte? Sie wissen doch wohl, wie man mit solchen Leuten umgeht, oder? Ich will nur wissen, ob Sie es schon bemerkt haben. Denn nur ein Angeber ist er nicht, das könnte man dem Wicht dann ja noch verzeihen.

frage kubitschek: wen meien Sie mit troll?

RMH

24. Juli 2018 22:17

Ich habe damals, bei der Erstveröffentlichung, noch Spiegel gelesen und habe den Text von Botho Strauß damals Wort für Wort, Zeile für Zeile gelesen, vermutlich weil ich zu blöde für eine "Matrixlesung" war (evtl. ja zum Glück, denn bei Strauß kommt es, wie bei den meisten Autoren mit großem Deutungsvolumen, zu nicht unerheblichen Teil auf jedes Wort an). Ich war damals positiv überrascht und angetan, aber dieser Erleuchtungseffekt, wie er hier beschrieben wurde, blieb bei mir aus. Ich habe mir dann später noch den Text in einem kleinen Bändchen gekauft, da der Spiegel längst im Altpapier lag (wo er auch hin gehört), aber zu meinen "Hausheiligen" wurde B.S. nie und der anschwellende Bocksgesang (der Titel für sich genommen/betrachtet ist m.M.n. eine Vorwegnahme auf die Thymos-Theorie des Sloterdijk-Schülers Jongen) schon gleich gar nicht. Von der einstmals veröffentlichten "Division Antaios",

https://sezession.de/13903/wer-ist-wer-in-der-division-antaios

bei der als Bock selbstredend auch Herr Strauß seine Aufnahme fand, wurden jedenfalls andere deutlich mehr in mein Brevier aufgenommen (kleiner Tipp für alle, die sich erst seit Kurzem hier eingefunden haben oder mitlesen: Nehmt diese Aufstellung der Division Antaios ernst und lest von den dort genannten Autoren! Arg viel mehr braucht man fast nicht tun, um den hiesigen Geist ein Stück weit fangen zu können - und lasst die Finger von den Sekundärliteraten!).

Um es kurz zu machen: Der Text hatte einen großen Leserkreis und sicher hatten einige dadurch auch eine Art von Damaskuserlebnis - ich gehörte und gehöre nicht dazu. Ein Text wie Fahrenheit 451 (Montag ist Teil der Division Antaios) und auch noch vieles mehr, was keine Aufnahme in die "Division" gefunden hat, haben mich bspw. mehr berührt und geprägt. Beim Jahre später veröffentlichten Text "Lichter des Toren: Der Idiot und seine Zeit" von B.S. bin ich dann sogar irgendwann mal ausgestiegen, da er mir zu verstiegen war - bzw. bekam der Autor von mir deswegen sogar das Prädikat "überbewertet". Aber das war jetzt natürlich subjektiv. Bei Strauß vermisste ich die Hoffnung.

0002

24. Juli 2018 23:01

Vielleicht bin ich auch a-musisch. Jedenfalls habe ich mehrfach versucht den Bocksgesang vollständig zu lesen und zu verstehen. Beim letzten Versuch habe ich es sogar fast geschafft.

Andreas Walter

25. Juli 2018 05:00

Ich denke das Problem ist dass die meisten ... - verschiedene Gruppen das Erwachen auch der Deutschen fürchten.

Was ich verstehen kann, denn auch ich war wahnsinnig entsetz, tief betroffen und sehr verletzt durch das was ich erfahren habe. Wie so etwas sogar auf nationaler und auch internationaler Ebene vor allem emotional gehandhabt werden könnte, ohne dadurch eventuell eine Katastrophe auszulösen ... kann ich derzeit auch nicht beantworten.

Das Dilemma ist eine Catch-22 Situation, die, wenn bis zu Ende gedacht und nicht gelöst wird, sogar für alle Weissen langfristig die Vernichtung bedeutet.

Zum Bock gemacht wurden ja nach 1945 nicht nur die Deutschen, sondern ab 1500 auch alle Europäer, weiter zurück braucht man aktuell eigentlich nicht zu blicken.

Bockgesang ist ein Begriff aus der jüdischen Kultur und könnte wohl am besten mit Klagelied gleichgesetzt werden. Mit dem Bock ist der Sündenbock gemeint, als der sich die Juden schon seit Jahrtausende sehen, ritualisiert im Judentum auch als Asasel bekannt.

Nach 1945 wurde jedoch eine andere Gruppe zum Dämon erklärt, für alles verantwortlich gemacht, was in den 12 Jahren davor passiert ist, einschließlich auch der Zeit und Ereignisse und der Wegbereiter ab 1871, die angeblich nur dazu geführt haben. Was aber eben nur die halbe Wahrheit ist, oder sogar nur ein Teil davon, bei so vielen Mitspielern.

Die wahre Geschichte ist jedoch viel komplizierter und beschreibt eigentlich eine Tragödie, der sich fast kein Mensch im Leben zu entziehen vermag. Weil es niemand gibt, fast niemand auf der Welt, der ohne Sünde, ohne Schuld ist, wenn man allen Dingen auf den Grund geht. Es liegt sozusagen in unserer Natur, und das nicht nur in unserer Psychischen, sondern auch in der Physischen, die auch sehr wirkmächtig ist.

Darum werde ich mich bei niemand entschuldigen, dass auch ich um mein Recht zu Sein, um mein Existenzrecht kämpfe, um meine Freiheit und um mein Wohlbefinden, auch wenn ich Deutscher bin. Ich bin nicht euer neuer Sündenbock für gar nichts, was vor 1965 passiert ist. Ich protestiere auch seit dem ich mit 16 nach Deutschland kam gegen den Schwachsinn, der mit den Deutschen gemacht wird. Damals noch ohne genau zu wissen, was hier überhaupt los ist und warum. Lange Zeit dachte ich sogar, es würde an mir liegen, weil ich in mehreren Kulturen aufgewachsen bin. Heute weiss ich, dass weite Teile der Welt bewusst programmiert, indoktriniert worden sind, nur auf eine bestimmte Art und Weise zu denken. Nicht nur im Osten, bei den Kommunisten, sondern auch im Westen, bei den Kapitalisten, was man auch gerne mit links und rechts bezeichnet, was aber auch nur eine infantile Vereinfachung ist, so wie gut und böse, was es aber beides isoliert so nicht gibt, in der Wirklichkeit, wie es auch Schatten nicht ohne Licht geben kann, oder Nacht nicht ohne Tag.

Darum wehre ich mich, gegen die Dämonisierung meiner Person, gegen die Dämonisierung meines Volkes, die Dämonisierung der mir Ähnlichen und die Dämonisierung meiner Vorfahren. Gegen die ständige Propaganda seit 70 Jahren, die immer nur die halbe Wahrheit erzählt, mir aber mit Gefängnis und Strafe droht, wenn ich die andere Hälfte erzähle, oder sogar nur Teile davon. Gegen politische Gefangene, die genau aus dem Grund jetzt gerade im Gefängnis sitzen. Weil sie auch die Schnauze voll haben von halben Wahrheiten, die mittlerweile in Folge sogar die Existenz unseres Volkes als eigenständige, unverwechselbare Kultur und sogar Ethnie bedrohen, als Weisse. Ich fordere das, was auch Spanier von den Muslimen gefordert haben, oder Polen und der Völkerbund von Russen, Deutschen und Österreich-Ungarn. Was Juden von den Briten gefordert haben, später auch von den Palästinensern. Eine Heimstätte für Deutsche, in der sie auch als Deutsche leben können, nach ihrem Glauben, ihren Vorstellungen und ihren Werten. Ohne ständig von Marxisten, Globalisten, Imperialisten oder sonst was für Gruppen bedroht und gestört, genervt zu werden.

Bekommt man nicht geschenkt? Dann verurteilt nicht unseren Kampf.

Das war jetzt ein (vorwurfsvoller) anschwellender Bockgesang. Geweint habe ich schon, als ich die Wahrheit erfahren habe. Um meinen Opa, dem ich unrecht getan habe, aus Unwissenheit. Das tut mir am meisten weh.

P.S.: Aus dem Grund können auch die '68 ihren Fehler nicht einsehen, der sogar ihre Väter und Mütter betrifft. Sie würden den Schmerz nicht aushalten. Über das Unrecht, was sie sogar ihren eigenen Eltern angetan haben.

Andreas Walter

25. Juli 2018 06:02

"Die Flüchtlingskrise wird bei Strauß zu einem veritablen Endkampf zwischen einer aussterbenden Kulturnation (die gänzlich ohne das Zutun fremder Einflüsse von außen die eigene Identität vergessen hat) und den jungen vitalen "Entwurzelten"."

Eine Frage an die Experten:

Der Satz in der Klammer, beschreibt das Botho Strauß so, oder ist das eine Ergänzung der Autorin für den Freitag Marlen Hobrack?

Der_Juergen

25. Juli 2018 08:24

Ich habe den "Bocksgesang" seit vielen Jahren wieder gelesen und war überrascht über seine brennende Aktualität. Ein wichtiger Text, wenngleich nicht ohne Fehler, darunter einen schweren.

@Andreas Walter

Glückwünsch zu Ihrer Wortmeldung von 05.00. Manchmal hat Morgenstund in der Tat Gold im Mund, oder wenigstens in der Feder.

Maiordomus

25. Juli 2018 08:43

@Andreas Walter. Ihr Beitrag hat Substanz, man sieht besser als auch schon, worauf Sie hinauswollen. Das mit dem Bock als Bestandteil der jüdischen Kultur ist aber nur das eine, um Botho Strauss zu verstehen. Es geht auch nicht nur um den Sündenbock.

Nicht vergessen darf man, dass das griechische Wort "Tragödie" eigentlich "Bocksgesang" bedeutet, insofern habe ich den Text von Strauss, den ich damals bei seinem Erscheinen auch bereits zur Kenntnis nahm, ohne ihn zu überschätzen, als Erneuerung dessen gedeutet, was der spanische Philosoph Miguel de Unoamuno, der Erwecker Reinhold Schneiders (über den in einem der neuesten Sezession-Hefte ein Artikel steht und Freund von Jochen Klepper, Lieblingsautor von Kubitschek), was also der spanische Philosoph am Vorabend des Bürgerkrieges "el sentimiento tragico de la vida" nannte, das tragische Lebensgefühl. Jenseits des Sinnes für das Tragische scheint mir grosse Literatur kaum mehr möglich, wobei freilich heute das Tragische unentwirrbar mit dem Grotesken verquickt ist, weswegen ich dazu neige, in meinem Landsmann Friedrich Dürrenmatt den wohl bedeutendsten deutschsprachigen Autor der letzten 65 Jahre zu sehen. Botho Strauss ist es bis heute jedoch noch nicht gelungen, ein wirklich bleibendes und Massstäbe setzendes Werk der deutschen Literatur zu schaffen, also sagen wir mal mit Brecht und Dürrenmatt gleich zu sehen, wobei Botho Strauss' Freund Thomas Hürlimann das immerhin versuchte, wiewohl es ihm andeutungsweise vielleicht nur mit dem Stück "Der Gesandte" gelungen ist. Wir sind uns aber durchaus einig, dass der "Anschwellende Bocksgesang" ein hochbedeutsamer Text bleibt, der wie wenige Texte der letzten 50 Jahre noch Jahrzehnte nach seinem Erscheinen an Bedeutung dazugewonnen hat. Aber sagen wir mal nicht weitreichender als Dürrenmatts späte Erzählung "Der Versuch", wo aus der Perspektive des Jahres 10 000 aus Mutmassungen von Archäologen die Situation um das Jahr 2000 geschildert wird. So nebenbei wird erwähnt, dass die Weissen in Europa etwa ums Jahr 2500 verschwunden seien, was als Prophezeiung ähnlich naiv daherkommt wie vieles, was man in Orwells "1984" nachlesen kann. Zumal eher negative Utopien gehen in der Regel schneller in Erfüllung als ihre Verfasser es sich hätten vorstellen können.

Persönlich bedaure ich, trotz täglicher Lektüre eines Buches, dass in den letzten 25 Jahren in deutscher Sprache nur sehr wenige Werke von nennenswertem literarischem Rang gedruckt worden sind, umgekehrt proportional angesichts des masslosen Publizierens. Nur schon einige Seiten Fontane belehren einen jeweils über diesen Befund, wobei ich zumal dessen "Wanderungen durch die Mark Brandenburg" nicht unterschätzen würde. Es ist dort u.a. von der Einwanderung von Berner Bauern nach dem dreissigjährigen Krieg die Rede, welche übrigens mindestens vorübergehend ihre Gemeinderechte in die Mark mitnehmen durften. Eine Sorte Einwanderung, die in vielem das krasseste Gegenteil dessen darstellt, was heute geschieht. Auch als skeptischer Schilderer des Kulturwandels scheint mir Fontane unübertroffen. Es ist schon wertvoll, wenn gute Autoren von heute 5% Fontane hinkriegen. Dabei müssen wir uns aber nicht in bildungsbürgerlichen Geschmäcklereien ergehen, für die ein Reich-Ranicki bei aller arroganten Parteilichkeit immerhin noch Sinn bekundete. Um auf den "Bocksgesang" zurückzukommen: den Sinn für das Tragische wiederzugewinnen wäre für eine neue Generation eine nicht unbedeutende Aufgabe, auch mit metapolitisch vielleicht fruchtbar zu machenden Folgen.

Zu den Autoren und Autorinnen, bei welchen wir uns ins Exil begeben könnten, gehören wohl auch Arthur Schopenhauer und die skeptische Christin Annette von Droste-Hülshoff. Ihre Erzähltechnik bei der "Judenbuche" ist in Sachen Modernität wohl bis heute nicht übertroffen, zu schweigen von ihrer Vision in der Elegie "Die ächzende Kreatur", welche man sich vor dem Fürstenhäusle oberhalb Meersburg vergegenwärtigen sollte. Das war und ist ein "Bocksgesang", mit dem auch ein Botho Strauss nun mal nicht mithalten kann, die Klage über "die Schuld des Mordes an der Erde Lieblichkeit und Huld", im weitesten Sinn auch eine grandiose Heimatdichtung. Will man sich über den Tag hinaus über deutsche Literatur und Geschichte orientieren, wäre es wohl wertvoll, die Literaturgeschichte von Eichendorff zu lesen, ausserdem auch all dies, was er über den deutschen Osten schreibt unter dem Stichwort "Grösse, Schuld und Busse". Er war, um die tragischen Proportionen zu sehen, auf keine Holocaust-Ideologie angewiesen.

Im Ganzen finde ich es aber gut, dass man sich vom "Anschwellenden Bocksgesang" wieder mal anregen lässt, hoffentlich nicht nur zu kurzfristigen politischen Parolen, wiewohl Widerstand im Alltag gewiss mehr und mehr zu einer Haltung wird, die not tut.

Michael B.

25. Juli 2018 08:52

Zum Troll: Obwohl ich es nicht erklaeren kann, habe ich das dunkle Gefuehl, gemeint zu sein. Unabhaengig davon koennte sich der Schreiber im Sinn der schon gestellten Frage einmal zu seinem Vorwurf aeussern, auch wenn ich nicht das Objekt der Begierde sein sollte. Das sollte man schon klarstellen.

"Matrixlesung": Ich wollte die hier nicht einfach mal so heraushaengen lassen, das ist zuerst einmal ein persoenliches Kriterium in Bezug auf die Guete von Texten (*), weil - das stand nicht explizit da - ich den Strauss eben auch nicht so lesen kann, das laesst er nicht zu. Das ist sehr selten und dann irgendwie auch sehr angenehm. Ich finde weiterhin, dass der Text eine grosse Einfachheit hat wenn man sich auf ihn einlaesst, aber die ueberhaupt nicht im Sinn von simpel.

(*) Ich glaube, es ist eher der kleine Seitenhieb auf Teile der Artikel und Kommentare hier, der manchem sauer aufstoesst. Das ist OK, damit kann ich leben. Zentral ist das inhaltlich nicht.

Maiordomus

25. Juli 2018 08:59

Zu Botho Strauss: Gemeint war mit dem Satz im oberen Abschnitt gemeint: Es sei ihm leider bis anhin nicht gelungen, mit einem wirklich grossen und wennmöglich bleibenden Werk der deutschen Literatur mit Brecht und Dürrenmatt g l e i c h z u z i e h e n. Natürlich geht es nicht geschmäcklerisch und bloss kulinarisch um Gleichziehen, aber ohne ganz grosse Dichtung ist ein Volk dem geistigen Hungertod ausgeliefert. Das Grosse kann freilich ganz unscheinbar daherkommen, etwa wie bei Stifter oder bei Goethes unglaublich aktuellen "Unterhaltungen deutscher Ausgewanderter", welches Werk für Werner Bergengruen die wichtigste Erzählung Goethes war.

Maiordomus

25. Juli 2018 09:03

@Michael B. Die Frage nach dem literarischen Rang und überhaupt mehr literarische Diskussionen scheinen das zu sein, was Ihnen bei einem Teil der Debatte hier "sauer" aufstösst, habe mich oben dazu im Zusammenhang mit Geschmäcklerischem und Kulinarischem geäussert. Die Frage ist bei Botho Strauss sicher nicht die Hauptfrage, kann aber trotzdem nicht ausgeklammert ist. Unbestritten bleibt er einer der bedeutendsten Autoren unserer Zeit, kein Vergleich etwa zu gewissen neueren deutschsprachigen Nobelpreisträgerinnen.

Maiordomus

25. Juli 2018 09:16

Korr. kann aber doch nicht ausgeklammert werden. (Nämlich die Frage nach dem literarischen Rang)

Franz Bettinger

25. Juli 2018 10:04

@Andreas Walter:
Den Catch 22 (Un-Schuld durch Sühne) zu Ende gedacht:

Nur mal so eine Vorstellung: Wenn vor deinem Haus ein Dutzend Geflüchtete gegen die Tür hämmerten, würdest du öffnen und sie willkommen heißen? Sie bei dir wohnen lassen? Und sie versorgen? Und ihre Familien nachkommen lassen und ihnen die Hälfte deiner Rente abgeben? Anders gefragt: Würdest du dich belasten, um jene zu entlasten? Ja? Und warum tust du es nicht? Wie das gehen soll? Na, die Hälfte deines Kontos in den Kongo überweisen. Das wäre nur ein Tropfen auf einen heißen Stein? Na dann: Überweise dein ganzes Konto nach Afrika, dann sind es schon zwei Tropfen auf den heißen Stein; das kühlt. Reicht immer noch nicht? Dann verkaufe dein Haus und alles, und enterbe deine Kinder. Schick den ganzen Erlös nach Afrika. Noch nicht zufrieden? Dann fahre runter, und arbeite für sie, gutes Merkel, dummes Kind! Ja, ja, human sein, kann weh tun. - Nicht missverstehen! Sie, verehrter AW, sind nicht gemeint!

Michael B.

25. Juli 2018 11:32

@Michael B. Die Frage nach dem literarischen Rang und überhaupt mehr literarische Diskussionen scheinen das zu sein, was Ihnen bei einem Teil der Debatte hier "sauer" aufstösst

Eine bestimmte Form davon (aber dafuer gibt es ja die Matrix). Kuerzlich von einem Kommentator zu einem anderen Artikel hier so charakterisiert:

"Sprach's [...] und fuhr fort, aus seinem Zettelkasten vorzutragen."

Ganz anders zum hier besprochenen Artikel z.B. der Bettinger in seiner Interpretation, bleibt beim Inhalt, egal wer dieser Strauss nun noch war, nicht war, sein koennte, oder welchen Rang seine Person auf der kulinarischen (passt schon das Wort, wenn wohl auch nicht wie von Ihnen gewuenscht) Richterskala er einnimmt und was auch immer noch.

Sandstein

25. Juli 2018 11:57

@ Stresemann

hmm, interessante Gedanken.
Ich möchte nicht defätistisch wirken, aber ich lebe nun mal in Berlin und sehe, wie wir wegrationalisiert werden.
Als noch junger Mann gebe ich dieses Land auch nicht preis, und ich engagiere mich, an der Uni, wie im Beruf.

Romantik? Also mich nennen Nachbarn liebevoll (das ist ernst gemeint) "Deutscher" oder "blonder Kanacke". Weil Sie ja selber merken, dass ich im Straßenzug einer der letzten Autochthonen bin.

Das ist meine Romantik...

Andreas Walter

25. Juli 2018 12:09

Der literarische Rang einer Information ist mir Schnuppe.

Sui generis entscheide ich selbst, was mich unterhält, mir glaubhaft erscheint oder ich als wertvoll, interessant oder einer Betrachtung oder sogar Analyse wert erachte.

In Zeiten, in denen der Holocaust sogar bereits per Comic vermittelt wird, mit einem Vorwort von Ana Carbajosa, erscheint mir dieser Weg heutzutage am sinnvollsten.

Zumindest kennt man Herrn Kubitschek deshalb jetzt schon auch auf der Iberischen Halbinsel und in ganz Iberoamerika.

Waren allerdings Bezeichnungen wie Rechtsextremist und Ultranationalist vorher abgesprochen, Herr Kubitschek?

@Michael B.

Dann lassen Sie sich auch von dunklen Gefühlen nicht täuschen, sondern analysieren Sie nur Ihre Selbstzweifel. Ich bewundere Sie sogar, für eine Fähigkeit, die ich (noch) nicht besitze.

Maiordomus

25. Juli 2018 12:29

@Sandstein. Bei der Betrachtung eines Textes geht es nie darum, diesen als Selbstzweck zu betrachten. Es ist aber klar, dass der "Anschwellende Bocksgesang" nie als bloss journalistische Leistung oder auch nur ausschliesslich als politische Rhetorik gemeint war. Das ist auch der Grund, warum er 25 Jahre nach seinem Erscheinen an Bedeutung eher gewinnt. Sie selber wirken bei Beschreibung Ihres Erscheinungsbildes in Berlin und bei Ihrem Begriff von "Romantik" weder auf Zeilenkommentare auf Fichtes Reden an die deutsche Nation noch an solche betreffend den "Anschwellenden Bocksgesang" angewiesen. Bei Ihrer Einschätzung war es wohl nicht nötig, dass Sie auf diesen Text gewartet haben und Sie haben wohl mit demselben auch nicht gelebt. Es gibt aber durchaus deutsche Intellektuelle, für die ein solcher Befund im existentiellen Sinn durchaus zutrifft, eben dass es sich um einen Erweckungstext handelte.

Stefanie

25. Juli 2018 12:31

Das, was den "Bocksgesang" in den Augen der 99% zu "Geraune" macht, ist das Spiel mit Andeutungen, Allegorien und anderen leicht daneben gesetzten Vergleichen, die einen zwingen, das Gemeinte aus dem eigenem Fundus der Erfahrungswerte , quasi wie in einen Lückentext einzusetzen. (Z.B. "der faule Befreiungszauber und subversiver Gemütskitsch mit endloser Prolongation und technischer Wiederaufbereitung") Man braucht schon einen gewissen Hintergrund, um das sinnvoll tun zu können. Sonst bleibt er unverständlich bzw. uninterpretierbar oder wird für einen, der es mit umgekehrten Vorzeichen denkt zu "Hetze und Relativierung" (So wie auch bei Sieferle der "Gründungsmythos" )
Vor ein paar Jahren sorgte mal eine Abiturientin für einen medialen Sturm im Wasserglas, weil sie statt Gedichtinterpretationen lieber gelernt hätte Mietverträge etc. zu deuten. Doch wenn man mit schon mit ein paar poetischen Stilmitteln überfordert ist, wie soll man da mit den Spitzfindigkeiten der Juristerei zurechtkommen-geschweige denn selbst einen Text lesen und interpretieren, den einem ein wohlmeinender Journalist gerade zerpflückt hat?
Deshalb auch Dank an @Franz Bettinger für Ihren Interpretationsansatz. Vielleicht hilft er ja manch einem auf die Sprünge.
Eben dieser Stil führt aber auch dazu, daß der Text zeitlos bleibt: ein jeder setzt seine eigenen aktuellen Erfahrungen damit in Bezug. ("Der Waldgang" lebt von einem ganz ähnlichen Ansatz und ist wahrscheinlich auch Vorbild für diesen Text gewesen.) Damit bleibt er über Jahre und Jahrzehnte aktuell - wie das wirklich guter Literatur so eigen ist. Dazu würde ich den "Anschwellenden Bocksgesang"schon zählen , auch wenn ich von Botho Strauß auch sonst nichts kenne.

Michael B.

25. Juli 2018 13:15

> Dann lassen Sie sich auch von dunklen Gefühlen nicht täuschen, sondern analysieren Sie nur Ihre Selbstzweifel. Ich bewundere Sie sogar, für eine Fähigkeit, die ich (noch) nicht besitze.

Ehrlich gesagt verstehe an diesen Saetzen nur, dass ich der gemeinte Troll sein soll.
Ich bin nun seit ca. 1990 in diesem Netz unterwegs, ich habe recht umfangreiche Erfahrungen mit diesem Typus. Was er nie macht, ist der Versuch, seine Position zu erklaeren und/oder zu versuchen, Dinge geradezuruecken - zumindest partiell, man muss ja nicht mit jedermann voellig uebereinstimmen.
Ein Troll dagegen wirft ein paar mehr oder weniger geschickte Brocken hin und geniesst die Show. Insofern, noch mal ueberpruefen, was Sie eigentlich so stoert.

Andreas Walter

25. Juli 2018 13:54

@Franz Bettinger

Eben. Wer zuviel hat und darunter leidet, der darf es auch gerne mir heimlich zukommen lassen. Wobei auch mir bis etwa 200 Euro im Monat sogar ohne Abzüge zusätzlich zugestanden wird. Dann könnte ich sogar Bücher kaufen.

Ist zwar ein anderes Dilemma, als jenes an das ich dachte, doch das was Sie beschreiben ist auch richtig.

In der jetzigen Situation wäre es sogar globaler Selbstmord, weil dann die bereits jetzt noch (schon) existierenden Strukturen zum erliegen kommen würden. Es würde dann genau das passieren, was auch den Sowjets und kurze Zeit später den Chinesen passiert ist. Nur dann eben in globalen Dimensionen. Millionen Hungertote, ich vermute mal dreistellig. Eine Weltwirtschaftskrise heute noch globaler als die von 1928 hätte allerdings den gleichen Effekt. Allein darum ist Nationalismus und ein möglichst hohes Mass an Autarkie allen anderen Systemen vorzuziehen. Zumindest bei der Grundversorgung, also Wasser, Nahrung, Energie (Kondome, Suchtmittel, Medikamente, Pfefferspray Gel und Waffen).

Kleiner Scherz.

Durch ihr Lügen, Geheimhaltung und Angeberei habe die Sowjets dadurch im Grunde die Chinesen sogar ins offene Messer laufen lassen. Ist mir gerade noch aufgefallen.

Was die Marxisten daher auch alles verbockt(!) haben darf man auch nicht aufrechnen. Halten sich aber immer noch für die Größten.

Maiordomus

25. Juli 2018 14:37

@Stefanie. Jenseits dessen, was einige vielleicht als literarische Klugscheisserei missverstehen könnten, verweisen Sie in vorzüglich geglückter Vereinfachung auf das Wesentliche einer Textgestalt, wie sie BS geschaffen hat. Inhalt und Form können bei einem Text dieser Art letztinstanzlich nicht getrennt werden. In diesem Sinn muss man denn vor allzu vordergründiger Beanspruchung warnen.

Andrenio

25. Juli 2018 14:40

Wie war es beim ersten Mal?
Ich erinnere mich, dass mir bei der Erstlektüre der Blutdruck plötzlich anstieg, ich meinen Herzschlag hören konnte.

Wie konnte ein Mann wie BS eine tief empfundene Realität so meisterhaft in Worte fassen? Auch bei der nochmaligen Lektüre ließ das elektrisierende Gefühl nicht nach.

Nach dem glanzlosen Verschwinden von Criticón, leider noch zu Lebzeiten seines Gründers, war ich ähnlich hoch beglückt, als ich das erste Exemplar von Sezession in der Hand hielt. So hatte der Ursprungstext doch seine konkrete Auswirkung!

Mein Sohn berichtete mir von einem neugewonnenen Freund, wohl unter 30, der den anschwellenden Bocksgesang komplett auswendig gelernt hat - so wichtig erschien ihm dieser Text.

@Andreas Walter

Ich singe dieselbe Eloge auf Ihren frühmorgentlichen Text! Wo Sie wohl aufgewachsen sind?

Nath

25. Juli 2018 15:45

Vorab eine persönliche Bemerkung: Bei keinem anderen zeitgenössichen Text hat sich mir jemals zuvor das "de te fabula narratur" mit jener Intensität bekundet wie seinerzeit beim "Anschwellenden Bocksgesang". Bis dahin war es immer das lesende Zwiegespräch mit "Toten" gewesen, das mir neue Horizonte eröffnete.
Dies vorausgeschickt, scheint mir die eigentliche Bedeutung von Strauss im Bereich der Essayistik zu liegen, einem Genre, welches in Deutschland nie jenes Ausmaß an Tiefenschärfe erreichte wie es in Frankreich der Fall war. Ich glaube daher, dass erst der "späte" Strauss das ihm gemäße literarische Element gefunden hat, und hier mag eine zukünftige geschichtliche Betrachtung seine eigentliche Größe entdecken, die dem Dramatiker Strauss vielleicht nicht zugesprochen werden kann. Ich möchte daher denjenigen, welchen die auf den "Bocksgesang" folgenden essayistischen Texte nicht ohnehin geläüfig sind (z.B. "Die Fehler des Kopisten), diese besondes ans Herz legen.
Sicherlich, ein grundsätzliches Unbehagen an Straussens Überhöhung des Rück-wärtigen kann derjenige nicht verhehlen, der verstanden zu haben glaubt, dass "die ekstatische Zeit aus der Zukunft her geschieht." ("Sein und Zeit"), beispielsweise wenn jener Zuflucht nimmt zu rhetorischen Figuren wie der positiven Begriffsumkehrung des "Reaktionärs" und mit einer solchen semantischen Ambivalenz ästhetisch spielt, oder wenn er dem verhassten Moderierungs-Zeitgeist schroffe Kirchenväterzitate entgegenschleudert.
Oft habe ich, ein Gespäch mit Strauss imaginierend, Fragen an ihn formuliert, wie etwa diejenige, ob derartiges Renegaten-Pathos eines ehemaligen Linken mit solchen Rückgriffen auf das vermeintlich Ewig-Wahre nicht der Gefahr unterliegt, die eigene Sehnsucht wie die des Lesers auf falsche Fährten zu locken, damit (unbewusst?) der arglistigen Empfehlung Nietzsches folgend, ein moderner Frommer müsse es verstehen, die Zeitgenossen mit soteriologischem Gedankengut zu verführen, statt zu ermahnen.
Doch solche und andere Einwände relativieren sich letztlich, wenn man sich darauf besinnt, dass die Art von Gestimmtheit, an welcher der Leser hier teilzunehmen Gelegenheit hat, nur möglich ist, weil der Schreibende dem Zu-Erinnernden auf der Spur ist.

Andreas Walter

25. Juli 2018 15:58

@Michael B.

OK, bevor Sie mir noch verrückt werden oder sich weiter das Hirn zermarterten muss ich Sie da rausholen:

Sie waren nicht gemeint.

Ich habe keine Ahnung, was oder wodurch ich ausgerechnet Sie getriggert habe, oder warum Sie sich angesprochen fühlen, gefühlt haben.

Das Missverständnis war aber eine gute Demonstration dafür, wie schnell solche bei Metakommunikation oder beim schreiben in Symbolen oder indirekter oder diffuser Ausdrucksweise zustande kommen können. Woraus man übrigens auch eine Kunst machen kann, wenn man sich darauf versteht. Die man allerdings ebenso auch missbrauchen kann, wie zum Beispiel in der Politik oder Werbung, also Propaganda (oder entsprechend Antiganda). In der man ja bewusst möglichst viele Menschen ansprechen, triggern will, damit sie sich in eine bestimmte Richtung bewegen, oder bestimmte Dinge tun oder kaufen, glauben oder daran zweifeln, meiden oder sogar bekriegen.

Lotta Vorbeck

25. Juli 2018 17:06

@Andreas Walter - 25. Juli 2018 - 03:58 PM
an @Michael B.:

Sie waren nicht gemeint.

___________________________

Glaube zu wissen, wen Sie meinen.
Mich nervt er ebenfalls ungemein.
Er scheint nahezu unbegrenzt über nicht ausgefüllte FReizeit zu verfügen und schreibt (neuerdings wieder) nahezu jeden SiN-Kommentarsstrang mit nahezu substanzloser Bildungsprahlerei richtiggehend kaputt.

Michael B.

25. Juli 2018 17:12

@Andreas Walter

> muss ich Sie da rausholen

Danke. Noch einmal langsam gelesen, steht da auch nicht, was ich zu sehen meinte. Wohl doch zu heiss heute. Bitte um Nachsicht und gegebenenfalls um Entschuldigung.

RMH

25. Juli 2018 20:10

@Lotta Vorbeck,
mich nervt es nicht - hab auch schon die eine oder andere gute Lektüre-Anregung dadurch erhalten.

nom de guerre

25. Juli 2018 21:57

@ Lotta Vorbeck
Wie schreibt man denn einen Kommentarstrang kaputt? Ich meine, es ist doch nicht so, dass Sie oder andere Foristen durch die Kommentare der Person, die Sie vermutlich meinen (deren Beiträge ich selber übrigens meist ganz interessant finde), daran gehindert würden, weiterzudiskutieren - zumindest solange die Moderation es mitmacht. Wen etwas nervt (und mich nervt auch so manches), der braucht es ja nicht zu lesen.

Fredy

25. Juli 2018 22:21

Ich empfehle bei Texten des Hausmeiers die "Matrixlesung".

Cacatum non est pictum

25. Juli 2018 23:04

@Andreas Walter

"... Aus dem Grund können auch die '68 ihren Fehler nicht einsehen, der sogar ihre Väter und Mütter betrifft. Sie würden den Schmerz nicht aushalten. Über das Unrecht, was sie sogar ihren eigenen Eltern angetan haben."

Wo Sie das gerade erwähnen, fällt mir ein, daß mein Vater sich neulich in dieser Richtung geäußert hat. Er sagte mir, daß er heute - im fortgeschrittenen Alter - zuweilen bedauert, welch massive Vorwürfe er seiner verstorbenen Mutter zu Lebzeiten gemacht hat. Ihr, die sie im Krieg und danach viele Jahre auf ihren Ehemann verzichten mußte, bevor er nach langjähriger Gefangenschaft in die Heimat zurückkam; die später als leider junge Witwe unsagbare Anstrengungen auf sich genommen hat, um ihre zahlreichen Kinder großzuziehen.

Den 68ern wurde Gold in die Wiege gelegt. Sie konnten sich nähren am Wirtschaftswunder und an den Segnungen des neuen Wohlstands. Zukunftssorgen kannten sie nicht. Ihnen hatte man noch keine Millionen von orientalischen Einwanderern ins Land geschickt, von denen sie kulturell und politisch unter Druck gesetzt worden wären. Und dennoch: Eines Tages wird man zurückblicken und feststellen, daß genau diese Generation die Pforten zur Hölle aufgerissen hat. Die Nibelungentreue der Vorväter zu einem autokratischen Reichskanzler wird dann nicht mehr der Rede wert sein.

Fredy

25. Juli 2018 23:31

@Cacatum non est pictum

Exakt die Generation ist es, die heutigen Rentner. 60 bis 75. Totengräber. Wohlhabend, überheblich, moralisierend, schwach, denkfaul. Aber es gab auch Ausnahmen, wie meine Eltern.

Lotta Vorbeck

25. Juli 2018 23:36

@nom de guerre - 25. Juli 2018 - 09:57 PM

@ Lotta Vorbeck
Wie schreibt man denn einen Kommentarstrang kaputt? Ich meine, es ist doch nicht so, dass Sie oder andere Foristen durch die Kommentare der Person, die Sie vermutlich meinen (deren Beiträge ich selber übrigens meist ganz interessant finde), daran gehindert würden, weiterzudiskutieren - zumindest solange die Moderation es mitmacht. ...

______________________

Es mag zwei bis drei Jahre zurückliegen, als "die Person die ich vermutlich meine" hier vom SiN-Bademeister schon mal mit einer zeitweiligen Schreibpause belegt worden ist ...

Cacatum non est pictum

25. Juli 2018 23:54

@RMH

"mich nervt es nicht - hab auch schon die eine oder andere gute Lektüre-Anregung dadurch erhalten."

Dito. Bei allem Oberlehrerzungenschlag in den Wortmeldungen unseres wandelnden Zettelkastens - seine Beiträge sind nie ohne Substanz. Und sie haben mich manchesmal zur Literaturrecherche angeregt. Ferner glaube ich, daß dieser Gelehrtentypus bald aussterben wird. Professoren und Lehrer mit einer derartigen Bandbreite an klassischem Bildungswissen wird es in absehbarer Zeit nicht mehr geben. Ein unverstellter Blick in unsere Bildungsanstalten läßt keine Zweifel daran aufkommen. Ich lasse mich von diesem Wissen gern inspirieren, auch wenn ich nicht selten anderer Meinung bin als Maiordomus.

0002

26. Juli 2018 01:12

Fundstück:

https://sezession.de/40096/20-jahre-anschwellender-bocksgesang

Caroline Sommerfeld

26. Juli 2018 08:10

Ich bin auch eine Infizierte, aber mit äußerst verlängerter Latenzzeit. 1993 bekam ich den "Anschwellenden Bocksgesang" in der Schule zu lesen, da war ich 18. Das kam so: in meinem Heimatort, der zu den berühmt-berüchtigten der "Ausländerfeindlichkeit" der 90er zählt, bildete sich bald am nächstgelegenen Gymnasium eine "AG Miteinander Leben", aus der irgendwann eine "Literatur-AG Miteinander Leben" hervorging, wo wir unsägliche Produktionen von Migranten lasen, ich erinnere mich nur mehr an Rafik Schami. Irgendwann gab es Schüler, die das zu langweilig fanden, und wir baten den jungen Lehrer, ob er auch mal "was ganz anderes" bringen könnte. Ja, und das war Botho Strauß. Ich hab ganze Passagen in mein Tagebuch abgepinselt, das existiert noch. Klar war ich gemeint, eine Einzelne, Massenfeindliche, Durchblickerin und an einen langen geschichtlichen Strom Gleichgesinnter Angeschlossene. Danach brachte der Lehrer noch Enzensbergers "Die Große Wanderung", auch so ein prophetischer Text, es lohnt sich, ihn noch mal zu lesen, 25 Jahre später.
Und warum ich nicht bei Strauß blieb? Nicht vergessen, da war ich 18 und da sind die Gründe simpel: Weil der nächste kluge Mann, in den mich verliebte, gründlich links war und mir anderes zu lesen gab, den halben Merve- und Wagenbachverlag.

Der Gehenkte

26. Juli 2018 10:14

@ Fritz

Vielen Dank für den Link zu El País! Das ist ein wirklich starker Artikel, der auch zeigt, wie man in die linke Presse und damit an die Massen heran kommt. Natürlich nicht durch den journalistischen Text, sondern durch die wörtlichen Wiedergaben. Kubitschek ist hier mit einigen klaren, direkten, ehrlichen und jedermann einsichtigen Aussagen wiedergegeben, die den Erklärtext - für den, der lesen kann - obsolet machen. Die Leute, die sensibel sind, werden das begreifen, zumal die Differenz zwischen der dargestellten Person, die als gefestigt und intelligent erscheint und der Erklärerei offensichtlich ist.

Hier über Botho Strauß nachdenken, im kleinen Kreis, und dort mit griffigen Ideen auf die Menge einwirken. Das sind zwei der wichtigsten Wege.

RMH

26. Juli 2018 10:25

Um es jetzt einmal polemisch auszudrücken:

B.S. spricht eine Elite an - aber eine, die zu den Verlierern gehört und mittlerweile (anno 93 waren zumindest noch Reste davon da) schon länger keine echte Elite im Staate mehr bildet (eine Elite des Geistes, die aber nichts zu melden hat, ok, dass gibt es in geringem Maße noch - aus diesem Grund mag der Text heute sogar noch wichtiger sein als damals, anno 93). Das Ansprechen von Verlierern einer gesellschaftlichen Veränderung bzw. von Menschen, die zumindest befürchten, Verlierer zu werden, ist spätestens seit dem kommunistischen Manifest ein alter, aber äußerst wirkungsvoller Hut. Das kommunistische Manifest verwendet aber eine deutlich klarere und logischere, verschwurbelungsfreie Sprache und konnte daher auch deutliche größere Kreise ansprechen. Aber B.S. schreibt ja offenbar nicht für "deutlich größere Kreise". Das mich persönlich der "Bocksgesang" und auch weitere Texte von B.S. nicht so besonders ansprachen, erklärt sich für mich persönlich damit, dass ich offenbar eine zu kleinbürgerliche Herkunft habe, um mich je zu "denen da oben" oder gar zur Elite (gleich welcher Art) zu zählen und ich zu dem keine Verlustängste brauche, um kritisch zu denken oder mich politisch motivieren zu müssen. Ich brauche auch keine besonders komplexe oder verdichtete Sprache, um einen mir damit mitgeteilten Inhalt gut, besonders oder gar überragend zu halten (da schlägt wohl ein kleinbürgerliches Ressentiment bei mir durch). Ich bevorzuge einen anderen Schreibstil.

Unterm Strich: Wichtiger Text mit eben seinem ganz eigenen Stil, keine Frage, aber ganz so hoch braucht man ihn nun auch nicht aufzuhängen.

Brettenbacher

26. Juli 2018 10:33

@
Caroline Sommerfeld u.v.a.
(mit forciertem Schmunzeln geschrieben): dann seid ihr es also doch- mobile qual piume al vento?!

im Vollernst:
Es wäre Botho Strauß vielleicht doch länger als ein Sommer Ihr Gast gewesen, wäre Ihnen das hiermit angespielte Gedicht in das Blickfeld geraten, nämlich " Diese Erinnerung an einen, der nur einen Tag zu Gast war ".
Innig.Bewegt.Schön. (Und die Flipper tillten.)
Und es wäre dieser Text durchaus als ein Intermezzo * im "Bocksgesang" zu hören.

*Foristen, denen Musik intelligibel ist, mögen einen glücklicheren Ausdruck setzen.

0002

26. Juli 2018 11:16

Bzgl. Schullektüre: Max Frisch hat ja den Typ Mensch, der einen erschwerten Zugang zu Werken wie dem „Bocksgesang“ haben dürfte, mal in seinem Roman „Homo Faber“, den wir in der Schule lesen mußten, kritisch beschrieben. Ich erinnere mich noch daran, daß mir die Figur des Walter Faber nicht ganz unsympathisch war.

Maiordomus

26. Juli 2018 13:10

Wer statt über Literarisches und Geschmäcklerisches einschliesslich auch persönliche Rempeleien im SiN-Lager wieder lieber über konkret Politisches diskutieren möchte, sollte sich allenfalls in Lichtmesz zwar einige Tage zurückliegenden und glücklicherweise noch nicht geschlossenen Blog betr. den Prozess gegen die Identitären in Österreich einklinken, der weitestgehend mit Freisprüchen endete und insofern meine dort geäusserte Befürchtung über den Tiefpunkt des Rechtsstaates etwas relativierte. Es gibt dort aber gewiss noch Konkreteres zu diskutieren als hier, wo die Sache abgesehen von Sommerfelds Bemerkung und dem Hinweis auf Max Frisch sich etwas totgelaufen zu haben scheint.

simple

26. Juli 2018 17:38

@Maiordomus
Für jemand, der sich für Texte wie den von Botho Strauß, als “Anschwellender Bocksgesang” ganz trefflich überschrieben, interessiert und keine Gelegenheit auslassen möchte, um zu demonstrieren, auf welche Weise er in der Lage war, diesen Text zu lesen und zu verstehen, kurz, für jemand, der es vermag, innezuhalten und ein paar Zeilen eines Autors zur Kenntnis zu nehmen und sogar über diese nachzudenken, ist es kein Wunder, nur leider eben nicht der Rede wert, wie dieser Autor mit seinem kurzen Text zum Spielball verschiedener, ich sage einmal lapidar, Leute, geworden ist. Allein der Vorwurf (egal, wie man es nennt), Botho Strauß hätte sich damit als rechts offenbart, illustriert das Lächerliche sehr gut.
Ich weiß nicht, wer den Begriff der einfältigen Kommunardenkreise geprägt hat, aber ich verwende ihn gerne, wenn ich zu einer Gruppe spreche, die damit leicht ironisch und keineswegs abwertend gemeint sein könnte. Ich will auf Propaganda und Agitation hinaus und auf real existierende Tabus in Diskussionen, von denen mir die Leugnung (wovon auch immer) am unwichtigsten geworden ist. Dazu ein paar Fragen:
Erstens: Trifft es zu, daß versucht wird, uns (oder wen auch immer) propagandistisch und agitatorisch zu beeinflussen (in welche Richtung auch immer)?
Zweitens: Seit wann gibt es Agitation und Propaganda? Seit 33, seit 1917, seit Marx, seit Sokrates? Seit wann?
Drittens: Wie effektiv sind Agitation und Propaganda heute und wie effektiv waren Agitprop womöglich früher? Soll heißen: Was ist wahr von dem, was erzählt wurde, was erzählt wird?
Viertens: Sind die Einteilung politischer Haltungen, Meinungen, Aktionen und Reaktionen in links und rechts nicht auch ein Werk der Propaganda, auch wenn es witzig mit der Sitzordnung im Parlament erklärt sein soll?
Für mich habe ich einige Fragen beantwortet, ohne dabei in die Tiefe gegangen zu sein. Ich gehe davon aus, daß weit vor dem ersten Weltkrieg in großem Stile auf diese Manipulationsmethoden zurückgegriffen wurde. Demzufolge müßten besonders wichtige und die heutige Zeit prägende historische Ereignisse respektive die Geschichtsschreibung zumindest kritischer gesehen werden als es geschieht. Es wird kein einzelner Akt gewesen sein, in dem der Gegenspieler Gottes (oder wer auch immer) seine Diener, die Wahrnehmungsschwäche und die Verführung, um nur zwei zu nennen, auf die Erde warf. Bis zum heutigen Tage sind sie mächtig und erfolgreich. Sie erfassen nur denjenigen nicht, der sich strikt an Gottes Wort hält und nicht einer durchs Dorf getriebenen Sau nachrennt. Es kann durchaus Freude bereiten, einen guten Text zu lesen und ihn für sich einzuordnen. Einer Vereinnahmung (durch wen auch immer) entziehen sich aber gute Schriften, wie an der Bibel einmal anschaulich zu demonstrieren wäre, in der Regel.

Im Falle vom alternden und weiseren Botho Strauß sehe ich, daß es für eine passende Klientel sinnvoll sein kann, zu versuchen, sich zu separieren, obwohl es vielleicht für einen Autoren auch aus Gründen der natürlichen Eitelkeit etwas kompliziert werden dürfte, diesem Eindruck konstant Glauben zu verleihen. “Wir sind in die Beständigkeit des sich selbst korrigierenden Systems eingelaufen.”, schreibt Botho Strauß gleich zu Beginn. Aus meiner Sicht irrt er sich hier folgenlos zum ersten Male aus oben genannten Gründen. Wie dem auch sei. Ein Franz Bettinger jedenfalls sollte in das Autorenkollektiv der Sezession aufgenommen werden. Seine Fähigkeit, mit Herz, Gefühl und Abstraktionsvermögen die Dinge aus seiner Sicht zu beschreiben, ist sicher nicht nur für mich ein Gewinn.

Michael B.

26. Juli 2018 22:35

@RMH

Nicht so bescheiden. Meine Mutter entstammt einer Arbeiterfamilie, mein Vater einer von Gebirgsbauern. Ich selbst habe 7 Jahre in einem bodenstaendigen Beruf verbracht, bevor ich studiert habe. Alles kein Grund, den Strauss nicht zu verstehen. Und wie gesagt, verschwurbelt ist zumindest an diesem Text m.E. gar nichts - im Gegenteil.

Maiordomus

26. Juli 2018 23:04

@ simple. In der Tat, so sollte man die Auseinandersetzung mit dem vielschichtigen Text führen. Auch das Kompliment an Bettinger ist verdient.

0002

27. Juli 2018 00:00

Für mich die bisher sinnfälligste Interpretation. Strauss wollte den alten Organismus BRD, den er nach eigenem Bekunden bewunderte und zu dem er zweifellos auch selbst gehörte, retten:

„Zurückblickend taucht das Bild eines Luftschiffs auf. Einer geistigen Elite in ihrem postnationalen, posthistorischen Traum. Einer laborreinen Aufklärung, gesäubert von allen Spurenelementen älterer Schichten. Das Schiff schwebt. Es hat die Leinen gekappt. Einer aber hängt halb über Bord und versucht verzweifelt, Anker zu werfen, zu erden, zu wecken: Wacht auf, wir kentern.“

https://www.welt.de/kultur/literarischewelt/article113162774/Was-vom-anschwellenden-Bocksgesang-uebrig-blieb.html

0002

27. Juli 2018 00:10

Und deswegen konnte der Text auch im Spiegel erscheinen.

Maiordomus

27. Juli 2018 08:37

0002. Gut, machen Sie auf das erstmalige Erscheinen im SPIEGEL aufmerksam. Ohne diesen Befund hätte der Text nicht 5% seiner Aufmerksamkeit gefunden und nicht wie eine Bombe einschlagen können. Vgl. die obigen durchaus nicht unbegründeten Debatten über das hochliterarisch Esoterische bei Botho Strauss, nunmal wirklich von der Diktion her weder ein kommunistisches Manifest noch ein J'accuse. Der Spiegel würde unter Jakob Augstein so was nicht mehr bringen.

0002

27. Juli 2018 10:28

@Maiordomus
Der Bocksgesang mußte im Spiegel erscheinen (wegen der Aufmerksamkeit).
Der Bocksgesang konnte im Spiegel erscheinen (um das Luftschiff zu stabilisieren).

Das paßt doch hervorragend zusammen. Auch der bisweilen überhebliche, bzw. abgehobene Ton (um im Bild zu bleiben) des Textes paßt sehr schön zum Spiegel.

heinrichbrueck

27. Juli 2018 11:57

Der "Bocksgesang" ist ein interessanter Text, aber er bleibt unbefriedigend. Warum der Westen nicht zu retten ist, haben die Russen in angenehmeren Formen analysiert. Die "Welt"-Lügen sind Müll.

Die Deutschen würden diese Form von Demokratie niemals angenommen haben, hätte man ihnen nicht die Schuld einer totalen Niederlage aufgezwungen.

0002

27. Juli 2018 13:10

Durch die Luftschiff-Interpretation ergeben folgende Punkte zusammen ein sinnvolles Bild:

- Die Sozialisation des Autors
- Die Wahl des Mediums
- Die Kooperation des Mediums
- Die ausgesprochene Bewunderung
- Das Vernehmen des Knirschens
- Die Analyse des Knirschens
- Die Kritik am Kappen der Seile
- Die Warnung vor dem Kentern
- Das weitere Verhalten des Autors bis heute: Ein desillusionierter Linker, der gemerkt hat, daß an den rechten Analysen was dran ist und sich bockig zurückzieht .

Maiordomus

27. Juli 2018 18:15

0002. Mag Ihre Interpretation auch einseitig sein, was Sie sehen, sehen Sie zweifellos perspektivisch richtig. Das Luftschiff-Motiv ist interessanterweise in der grossen deutschen Literatur vor über 200 Jahren von Jean Paul am eindrücklichsten Literatur geworden, und zwar als Weltschau. Geht doch auf! Im Jahre 1968 im Herbst las ich "Des Luftschiffers Gianozzo Seebuch" vom genialen Autor aus Wunsidel, Schwarzenbach an der Saale und Bayreuth. Die dortigen Jean-Paul.Museen sind jederzeit eine Reise wert!

Maiordomus

29. Juli 2018 10:07

Es ist wichtig, wie diese Debatte zeigt, dass es schöngeistige Rechtsintellektuelle gibt, wobei es sich bei der Auseinandersetzung mit Literatur keineswegs um einen Luxus handelt. Dichter sind, wie Clemens Brentano betonte, solche, die den Katarakt aus der Ferne hören. Mit andere Worten: Sie sind ein unentbehrlicher Bestandteil im geistigen Haushalt einer Nation und eines Volkes.

Hier in der Sezessionsgesprächsrunde gibt es jedoch einige, längst nicht alle, die lieber über konkrete politische Fragen Erörterungen machen und das dann mit Funden aus dem Internet anreichern. Mit einem rechtsintellektuellen Diskurs hätte dies noch nicht viel zu tun. A propos Rechtsintellekuelle, welche weniger von der schöngeistigen Seite kommen: als einen solchen schätzte und schätze ich Dr. Bruno Bandulet ein, Verfasser eines soeben erschienenen nicht unbedeutenden Aufsatzes in der Jungen Freiheit über die CSU, mit dem ich mich im Frühherbst 1967 als Student in brieflichem Austausch befand. Was Bandulet dieser Tage über Bayern schreibt, ist eine in der Tat kenntnisreiche vernünftige realpolitische Analyse, wobei er in der Kritik an der CSU von heute unhysterisch- behutsam bleibt, wiewohl zwischen Zeilen alles Wichtige und schmerzvoll zur Kenntnis zu Nehmende durchscheint.

In Sachen politischer Erfahrung und Knowhow und Augenmass ist Bandulet, der sich als äusserst gut informierter und in den Sachwissenschaften (incl. Finanzwesen usw.) gelehrter Rechtskonservativer über all die Jahrzehnte nie verbogen hat, von einem Format, das den Tüchtigsten unter den jungen Rechtsintellektuellen bei Sezession vielleicht in 20 bis 30 Jahren zuzutrauen wäre. Natürlich stellt sich mit Recht die Frage, ob wie überhaupt noch so viel Zeit haben. Wiewohl es immer falsch ist, den nahen Untergang Deutschlands vorauszusetzen, den seinerzeit auch Adenauer und auch der Kalte-Kriegs-Publizist bei Springer, William S. Schlamm, immer wieder mal befürchtet haben.

PS. Clemens Brentano gehört für mich in der deutschen Literatur ähnlich wie Grillparzer zu den Autoren aus der Zeit von Klassik und Romantik, aus denen ein enormer metapolitischer Gehalt zu "destillieren" wäre. Das meine ich nicht als Relativierung von Botho Strauss.

Teufel

30. Juli 2018 12:50

Botho Strauss kann nicht schreiben. Der Text erinnert mich an die ersten, unbeholfenen Versuche, dem inneren Gefuehl Ausdruck zu verleihen. Bevor man in der Lage ist, die Dinge klar zu sehen und als solche zu formulieren. Wenn man auf dieser Stufe stehenbleibt, dann ergoetzt man sich an der schwebenden Ambivalenz des Verfassten - denn es haelt ja den Raum offen fuer wirklich hoeheres - und kann das gleichzeitig dazu benutzen, jeder Kritik mit Hinweis auf die angebliche Andersgemeintheit des Textes zu entgegnen. Ernst Juenger hatte einen aehnlichen "Stil". Solcherart Texte bedeuten alles und nichts und das ist auch der Grund, warum er in dieser Zeitung erscheinen konnte. Es ist bequem, wenn jeder alles in diese Aussagen hineininterpretieren kann, ueber verneinte Verneinung, dann erreicht man alle, man wird von allen gesehen, aber der kleine Junge spuckt diesen Kieselstein nach einigem Umrunden am Ende doch wieder aus. Der Text bleibt nackt. Am Ende eine Kapitulation vor dem unzureichend reflektierten Selbst. "Ich weiss nicht, wer ich bin und was ich will." Go hohm Bodo.

Maiordomus

30. Juli 2018 13:22

Ob w i r überhaupt noch so viel Zeit haben, ist in der Tat eine berechtigte Frage. Und zwar jenseits von Naherwartungsneurosen vom Untergang Deutschlands. Auch die Schweiz ist daran, so wie war, sich sachte aufzulösen, lebt stärker denn je von immerhin noch vorhandenen geistigen und natürlich auch ökonomischen Reserven. Die direkte Demokratie wird aber immer mehr zur Folklore herabgestuft, wir können gerade noch über die Frage, ob Kühe Hörner tragen sollen, abstimmen und noch darüber, wie wir die Kehrichtsäcke entsorgen wollen, föderalistische Vielfalt pflegen.

0002

30. Juli 2018 15:18

„Ernst Juenger hatte einen aehnlichen ’Stil’.“

Das empfinde ich (teilweise) auch so. Es ist ein bißchen wie mit moderner Kunst. Sie kann ganz nett sein, wird aber oft maßlos überschätzt. Oft nach dem Motto: Schwer verständlich, also muß es etwas ganz Großes sein.
Einen Vorteil hat dieser Stil aber schon. Der Leser kann durch den Verarbeitungsprozeß u.U. dazu angeregt werden, selbst hergeleitete „Aha-Erlebnisse“ zu haben. Ob das dann die „richtigen“ bzw. gewünschten Erkenntnisse sind ist allerdings eine andere Frage.

Maiordomus

30. Juli 2018 21:13

@Teufel. "Ernst Jünger hatte einen ähnlichen Stil." Beachten Sie die Genauigkeit von dessen phänomenologischen Beschreibungen etwa in der 2. Fassung von "Das abenteuerliche Herz", so zum Beispiel "Das Entsetzen" oder "Das Rotschwänzchen". Seine Käfer- und Pflanzenbeschreibungen haben Sie wohl, wenn Sie schon so urteilen, wohl kaum gelesen, sonst könnten Sie keinen solchen Unsinn von sich geben. Kommt dazu, dass von Jünger im 2. Pariser Tagebuch die wohl konkreteste und wirklich entsetzlich genaueste Beschreibung einer Erschiessung im 2. Weltkrieg nachzulesen ist, das wird man im Gegensatz zu Botho Strauss auch in 500 Jahren noch lesen. Diese unheimliche Stelle berührte Heinrich Böll genau so stark wie zum Beispiel den Schweizer Schriftsteller Jürg Federspiel. Ich gehe davon aus, dass Sie die Klettsche Gesamtausgabe der Jüngerschen Werke, die ich in der Schweiz schon vor 30 Jahren rezensierte, als Lektüre eher noch vor sich haben. Natürlich gibt es von Jünger auch etwas schwächere, eher raunende Texte. Aber in Sachen Exaktheit von phänomenologischen Beschreibungen, zum Beispiel auch Drogenerfahrungen betreffend, macht es Jünger eigentlich kein neuerer deutschsprachiger Autor nach. Ausserdem ist er ein meisterhafter Aphoristiker und auch Lehrer von Autoren, vergleiche sein Buch "Autor und Autorschaft". Sowieso ist Ihre Formulierung "Botho Strauss kann nicht schreiben", eher unter aller Kanone. Sie etwas würde ich auch nicht mal über den auf diesem Blog von mir mehrmals ziemlich stark kritisierten Deutschtürken Feridun Zaimoglu absondern. Es ist aber gut, dass Ihr Beitrag geschaltet wurde, weil es natürlich für jeden Gesprächsteilnehmer von Bedeutung bleibt, dass er sein Verhältnis oder Nichtverhältnis zur Literatur dartun kann. Es gab auch Leute, die sinngemäss und sogar mit literaturtheoretischen Begründungen behaupteten: "Adalbert Stifter kann nicht schreiben."

Noch für die Schweizer oder vielleicht Schillerfreunde hier im Blog. Empfehle morgen Dienstag den Kauf der Basler Zeitung mit einer ganzen Seite über die Hintergründe einer Gestalt wie Wilhelm Tell. Übermorgen feiert die Alpenrepublik bekanntlich ihren Nationalfeiertag. Die Geschichte vom Tell bleibt eine Magna Charta der Freiheit.

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