Am Morgen des 21. August 1968 notierte der deutsche Schriftsteller Erwin Strittmatter fassungslos in sein Tagebuch, daß die Tschechoslowakei in der Nacht von Truppen des Warschauer Paktes besetzt worden war. Er, der einstmals so viel Hoffnung in einen deutschen respektive osteuropäischen Weg zum Sozialismus setzte, befand sich inzwischen im Status politischer Niedergeschlagenheit.
War der Tyrann Stalin auch 1953 gestorben – sein Geist, das unterstrich der Einmarsch der Sowjettruppen samt Verbündeter, lebte weiter in den Militär- und Parteibürokratien der Moskauer Einflußzone. Ein Grauen war dies für alle Gegner des Regimes, aber auch für alle einstigen Sympathisanten, denen die Aussicht auf ein besseres Morgen ausgerechnet von den ehemaligen Genossen und gerade nicht durch kapitalistische Antagonisten des Westens genommen wurde.
Strittmatter – zu diesem Zeitpunkt noch Sozialist und sich dem Mutterschiff des sowjetischen »Wir« zugehörig fühlend – zeigte sich konsterniert, »wie mittelalterlich der ganze Stalinismus ist«, der vor allem in Prag einem alternativ-sozialen Aufbruch ein Ende setzte: »Wir, die Glaubenden, sind die Engel, die Denkenden sind die Ketzer und die andere Ansichten haben als wir – sind die Teufel.«
Es war dies eine Feststellung, die auf jedes totalitäre System zutrifft – was man gewiß auch vor 1968 schon wissen konnte. Doch den Grad der Enttäuschung Strittmatters und vieler anderer Sozialisten versteht man nur, wenn man in die Stimmung der Aufbruchszeit um 1968 eintaucht, die unter dem Signum »Prager Frühling« firmiert. Der Wirkungsschwerpunkt dieser Stimmung war zwar explizit die tschechoslowakische Hauptstadt Prag, sie strahlte aber ebenso nach Ost-Berlin und Warschau, nach Budapest und Belgrad aus – und wurde gerade deshalb so rücksichtslos durch die russische Breschnew-Führung und ihre neostalinistischen Kader in der mittel- und osteuropäischen Staatenwelt bekämpft.
Dabei ist evident, daß Ereignisse, die sich vollziehen, vorher geistig bereits Form annehmen müssen. In modernen Gesellschaften wird, in Anlehnung an Antonio Gramscis Hegemonietheorie, ein Kampf um Begriffe und Deutungshoheiten ausgetragen. Für jede grundlegend argumentierende Gruppe ist es unverzichtbar, vor einem politischen Wechsel die Deutungsmacht über Begrifflichkeiten und inhaltliche Schwerpunktlegungen zu gewinnen.
Die »kulturelle Hegemonie« geht der »politischen Hegemonie« und realer politischer Gestaltungsmacht voraus, und ebendieser Wandel in der Mentalität des Volkes, zunächst über Akzentverschiebungen im vorpolitischen Raum, vollzog sich in der Tschechoslowakei zugunsten der später als Reformer bezeichneten Interessengruppen in den Jahren vor der Zäsur von 1968.
Ein Beispiel für die Prä-68-Umwälzung der politisch-ideologischen Vorstellungen ist Ján Kadárs Film Obžalovaný (Der Angeklagte, fertiggestellt 1964), in dem ein hoffnungsfroher Sozialist, der die Theorie der Gerechtigkeit und der freien Gesellschaft ernst nimmt, mit dem Systemapparat zusammenstößt und begreifen lernt, daß Parteimoral und Regimezynismus den »Verrat der Revolution«, nicht aber ihre Verwirklichung bedeuten.
Ein Skript, das einen an Erwin Strittmatters Roman Ole Bienkopp erinnern läßt, das interessanterweise zur selben Zeit wie Obžalovaný entstand und ebenfalls den Kampf eines an Ideale glaubenden Sozialisten gegen die Windmühlen des realen Bürokratenregimes plastisch darstellt.
Ein weiteres Beispiel stellt die Franz-Kafka-Konferenz im Mai 1963 in Liblice dar. In der Nähe von Prag konferierten Literaturwissenschaftler zum Werk des Prager Schriftstellers, der für die kommunistische Nomenklatura bis dahin – und auch darüber hinaus – ein bourgeois-individualistisches rotes Tuch verkörperte. Eduard Goldstücker betonte einen den Ost-West-Gegensatz überwindenden Geist, der Kafkas Werk innewohne.
Das war in Zeiten des Antonín Novotný-Regimes eine explizite Provokation, die nur davon übertroffen wurde, daß über Entfremdung und die Genese des Selbst in der sozialistischen Gesellschaft debattiert wurde, ja daß von Goldstücker Kafka gegen illusionäres Denken und »-ismus«-Ausrichtung in Stellung gebracht wurde – eine unverkennbare Kritik der real existierenden sozialistischen Depravation.
Dies wurde inner- und außerhalb der Tschechoslowakei durchaus so wahrgenommen. Alfred Kurella, graue Eminenz der DDR-Kulturfunktionäre, griff beispielsweise die Prager Intellektuellen im Ostberliner Sonntag scharf an. Die Konferenz von Liblice sei »nicht die Schwalbe eines Frühlings, sondern eine Fledermaus« – die Wendung vom Frühling als Metapher für Aufbruch und Neubeginn im sozialistischen Osten war also damals schon in Grundzügen bekannt.
Auch jenseits der Literatursphäre war einiges in Bewegung. Um den Prager Philosophen Radovan Richta entwickelte eine Forschungsgruppe ein reformsozialistisches Bild einer neuen Gesellschaft, deren Genese sich auf Basis einer wissenschaftlich-technischen Revolution vollziehen würde. Mit Marx über Marx hinaus – das führte Richta zur These, daß die materielle Basis der Gesellschaft sich aufgrund der rasant wandelnden Produktionsverhältnisse im Rahmen des technischen Fortschritts in bisher unvorstellbarer Weise verändern würde.
Die Folge wäre die Selbstermächtigung des Menschen, eine Revolution der Lebensverhältnisse, vor allem aber der Arbeitswelt. Richta formulierte in seinem 1966 veröffentlichten Richta-Report (dt. 1971) die heute mehr denn je aktuelle These, daß Automatisierung in Folge des Wandels der Arbeitswelt nicht nur die Mehrzahl der Arbeitsplätze überflüssig werden, sondern auch eine neue Schicht von Wissenschaftlern und Experten entstehen ließe, die in verantwortliche Position gelangte, weil sie über das nötige Know-how verfügte, den neuartigen Produktionsprozeß zu beherrschen.
Richta hat in diesem Kontext sozialistische, wissenschaftliche und kybernetische Elemente miteinander verwoben; er legte damit im »Bereich der Gesellschaftstheorie« die »wichtigste Programmschrift des Prager Frühlings« (Martin Schulze Wessel) vor.
Der »Sozialismus mit menschlichem Antlitz«, der zum geflügelten Wort werden sollte, wurde im übrigen von ebenjenem Radovan Richta kreiert, der indessen nach 1968 zu den reaktionär-parteikommunistischen Restauratoren überlief.
Neben den literarischen (Kadár), kulturellen (Kafka-Konferenz) und gesellschaftskritischen Ebenen (Richta-Report) ist als viertes Fallbeispiel (unter vielen weiteren) für die metapolitische Resonanzraumverschiebung in der tschechoslowakischen Hemisphäre die Forschungsleistung Ota Šiks anzuführen, der wirtschaftstheoretisch an einer hegemonialen Wende im sozialistischen Diskurs arbeitete.
Der angesehene Ökonom war Direktor des Akademie-Instituts für Wirtschaftswissenschaften, aber auch Mitglied des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei, so daß er selbst eine Schnittstelle von Theorie und Praxis verkörperte.
Es war Šik, der nach dem Scheitern des Prager Frühlings das Schlagwort vom »Dritten Weg« (jenseits von Kapitalismus und sowjetisch-bürokratischem Sozialismus) popularisierte. Vor 1968 konnte er einige Jahre lang umfassend an Reformplänen arbeiten, weil Antonin Novotný, sein Freund aus Jugendtagen, Partei- und Staatschef geworden war und ihn zu Reformen »von oben« animierte.
Šik ging darüber hinaus, wob Marktmechanismen (»Ware-Geld-Beziehungen«) in die starre Wirtschaftsauffassung der KP-Kreise ein, versuchte eine Erneuerung des Sozialismus durch eine behutsame Schritt-für-Schritt-Wende herbeizuführen – und wurde von Arbeitern wie Journalisten bei diesem ambitionierten, geschichtsträchtigen Vorhaben euphorisch begleitet. Im Juni 1966 erreichte Šiks Bemühung einen Höhepunkt, als er auf dem Parteitag vor über 2000 Gästen – der nominellen Elite der CSSR plus Breschnew – gegen Nivellierung und ideologischen Egalitarismus wetterte und umfassende Reformen einforderte.
Nach diesem Parteitag wurden Šiks Arbeiten kritischer gewertet: Novotný war der Weg, den Šik einforderte, politisch unangenehm, und von Breschnew kamen deutlich unzufriedene Signale. Im Januar 1968 mußte Novotný dann zunächst als Parteichef und im März auch als Staatschef zurücktreten: Selbst die Hardliner sahen, daß er dem Volk nicht länger vermittelbar war, und dementsprechend senkte auch Breschnew seinen Daumen.
Und so kam noch einmal, für die Spanne des Prager Frühlings unter Dubcˇeks Führung, Šiks Stunde: Seine Ideen wurden hegemonial in Medien und Politik – er tourte mit Vorträgen durch Fabriken und Betriebe, das Aktionsprogramm vom April atmete erkennbar Šiks Geist, und die darin geforderte Erhöhung der Produktivität der Wirtschaft war folgerichtig an eine Abkehr von egalitären Grundsätzen gekoppelt, wobei die sozialistische Ordnung durch Mitarbeiterbeteiligung und marktwirtschaftliche Elemente deutlich verändert werden sollte.
Die Besetzung der Tschechoslowakei im August 1968 erlebte Šik in Belgrad, er wurde in Abwesenheit durch Partei-Orthodoxie seiner Ämter enthoben. Šik ging ins Schweizer Exil, wo er eine Professur erhielt. Einer der maßgeblichen Wortführer des fundamentalen Wandels war damit Ende 1968 politisch unschädlich gemacht.
Die bleibende und beispielhafte Leistung war jedoch die Veränderung der Grundstimmungen der Gesellschaft von 1960 bis 1968; eine Kärrnerarbeit metapolitischen Bemühens in Universität, Medien und Betrieben, die den Prager Frühling überhaupt ermöglichte, indem sie Resonanzräume schuf, erweiterte, umdeutete und damit das ideelle Startsignal zum Aufbruch gab.
Das formelle Startsignal zum Drama von 1968 – die kulturellen, ideellen und gesellschaftlichen Stimmungen stellten nur den subkutanen Vorlauf des Wandels dar – gab die tschechoslowakische Parteispitze in Gestalt des Zentralkomitees, das Novotný im Januar als Parteiführer entfernte. Es setzte »eine alles hinwegreißende Dynamik« ein, »von der die Architekten des Prager Frühlings selbst überrascht und auch überfordert waren«, wie der Osteuropa-Historiker Martin Schulze Wessel in seiner Monographie Der Prager Frühling feststellt.
Die Architekten – das waren weniger Oppositionelle und schon gar keine Fundamentaloppositionellen; die Architekten waren sozialistische Intellektuelle und Reformer innerhalb der Kommunistischen Partei und ihres loyalen Organisationsnetzwerks. Sie wollten den Resonanzraum nutzen, um einen »Sozialismus mit menschlichem Antlitz« als Gegenbild zum System aufzubauen, das sich unter Novotný nicht von allen Überbleibseln der stalinistischen Ära lösen wollte.
Anfang Januar 1968 folgte als »Erster Sekretär« der Kommunistischen Partei Alexander Dubcˇek. Der slowakische KP-Chef wollte durch Reformen das sozialistische Miteinander grundlegend wandeln und nationale Autonomie von Moskau erlangen. Dies führte zu spontan-authentischen, nicht gelenkten Begeisterungswellen:
Die Bevölkerung stützte mehrheitlich den Kurs ihrer Führung, die durch den neuen Staatspräsidenten Ludvík Svoboda komplettiert wurde, der seinen Einstand mit einer Amnestie für politische Gefangene gab. Ein Erlaß, der für die von den »Slánský-Prozessen« 1952 – vor allem jüdischstämmige Kommunisten, die teils in NS-Lagern gesessen hatten, waren damals für Scheinverbrechen abgestraft und ermordet worden – nachhaltig verstörte Gesellschaft vergangenheitspolitisch kurierend wirkte.
Ebenfalls kurierend wirkte der Umstand, daß das auf zwei Jahre ausgelegte »Aktionsprogramm« der KP, das am 5. April vom Plenum des Zentralkomitees verabschiedet wurde, mit zentralen Dogmen der realsozialistischen Staatenwelt brechen wollte. Hervorzuheben sind vor allem das Ende des Machtmonopols der KP in der Gesellschaft und die Zulassung oppositioneller Fraktionen, sogar organisierter ehemaliger politischer Gefangener im Klub »K‑231«, die Erlaubnis von Privatisierungen kleiner und mittlerer Betriebe, Rede- und Versammlungsfreiheit und die föderale Neugliederung des Verhältnisses zwischen Tschechen und Slowaken.
Mag dies für heutige Maßstäbe banal klingen, war es damals ein unverhohlener Affront gegen die eigenen restaurativen Kräfte, gegen die »sozialistischen Bruderländer«, gegen die Sowjetunion. Und diese Mächte nahmen das auch genau so wahr, zumal am 24. April seitens der tschechoslowakischen Reformführung nachgelegt wurde: In einer Regierungserklärung erklärte man eine Parteireform, verkündete die Aufhebung der rigiden Pressezensur und versprach die im Aktionsprogramm enthaltenen Reiseoptionen:
Tausende Tschechen und Slowaken besuchten westeuropäische oder dissident-sozialistische Länder wie Jugoslawien, im Gegenzug kamen beispielsweise sudetendeutsche Vertriebene für Visiten nach Karlsbad oder Marienbad. Die Zustimmungswerte für die KP-Regierung – die Tschechoslowakei dieser Zeit war einer der Motoren der Demoskopie – erklommen ungeahnte Höhen.
Die »alles hinwegreißende Dynamik« wurde noch bestärkt durch das »Manifest der 2000 Worte« des Intellektuellen Ludvík Vaculík und ihm nahestehender Publizisten. Wurde bisher von oben reformiert, ohne aber essentielle Grundlagen der sozialistischen Herrschaft zu negieren, kamen nun Forderungen auf, Veränderungen jenseits der KP und ihrer Formationen zu wagen.
Breschnew reagierte mit einem Anruf bei Dubcˇek: Er forderte den Einsatz parteiloyaler Volksmilizen gegen die »Konterrevolution«, die zur Restauration des Kapitalismus und zur Zersplitterung des Warschauer Paktes führen müsse, immerhin war die Tschechoslowakei neben der hyperloyalen DDR sicherheitspolitisch von zentraler Bedeutung für das sozialistische Militärbündnis. Doch die Verzückung relevanter Teile des Volkes und ihrer medialen Verstärker in den – für Ostblock-Verhältnisse – plural anmutenden TV-Sendungen und Zeitungen trieb Dubcˇek dazu, das Manifest und seine Autoren nicht zu verdammen, sondern Zwischenpositionen jenseits restaurativ-orthodoxer Kräfte und dynamischer Reformisten zu suchen.
Der Prozeß war indes nicht aufzuhalten. Durch das Manifest der 2000 Worte erzürnt, entschlossen sich die Widersacher des Dubcˇek-Kurses zum Handeln. Die »Konservativen« innerhalb der tschechoslowakischen KP kungelten bereits seit März (dem »Dresdner Treffen«) mit den Parteiführungen aus der DDR (Walter Ulbricht), Polen (Władysław Gomułka), Ungarn (János Kádár), Bulgarien (Todor Schiwkow) und eben der Sowjetunion, um Dubcˇek und die ihn stützenden Strömungen zu stoppen.
Der »Warschauer Brief« vom Juli, unterzeichnet von den fünf Parteichefs (Rumänien unter dem nationalkommunistischen Diktator Nicolae Ceausescu enthielt sich), rief die KP-Führung in Prag explizit zur umfassenden Kurskorrektur auf, wobei »äußerste Maßnahmen« vermieden werden könnten, wenn umgehendes Einlenken erfolgte.
Freilich liefen derweil bereits seit vier Monaten hinter den Kulissen die Vorbereitungen für eine Intervention, obwohl Ende Juli in Cierná nad Tisou (Schwarzau a.d. Theiß) an der slowakisch-ukrainischen Grenze vorgeblich ergebnisoffen zwischen den Parteiführungen der Tschechoslowakei und der Sowjetunion konferiert wurde. Im Nachgang traf man sich in Bratislava, wo eine gemeinsame Erklärung unterzeichnet wurde, die letztlich das Ende des Prager Frühlings bedeutete.
Erschwerend kam hinzu, daß die Partei-Stalinisten um Vasil’ Bil’ak und Gustáv Husák, die sich als die »gesunden Kräfte« inszenierten, im Hintergrund um eine »kollektive Hilfsaktion« der Brüderländer baten, um die Verhältnisse in Prag und Bratislava wieder geradezurücken. Dubcˇek unterschrieb in Bratislava zwar, schritt aber nicht zur Tat und beließ die Maßnahmen des Aktionsprogramms vom April des Jahres unangetastet; auch personelle Konsequenzen in Partei, Rundfunk und Zeitungen, die sowjetischerseits zur Bedingung gemacht wurden, blieben aus.
Am 17. August wurde in Moskau die Entscheidung gesucht: Das Politbüro der sowjetischen KPbeschloß den Einmarsch in die Tschechoslowakei, der in der Nacht vom 20. auf den 21. August 1968 erfolgte. Die »Operation Donau« erwischte das ZK der tschechoslowakischen KP kalt (außer die Kollaborateure); man befahl der Armee, den einmarschierenden Truppen des Warschauer Pakts – nur die Nationale Volksarmee der DDR durfte auf Bitten der Bil’ak-Fronde aus historischen Gründen nicht mitwirken – keinen Widerstand zu leisten.
So kontrollierten die Besatzer bald die Schlüsselstellen des Landes, internierten die tschechoslowakische Parteispitze in Rußland und bereiteten die Einsetzung einer loyalen Übergangsregierung vor. Doch der passive Widerstand des Volkes, das in den vergangenen Jahren »metapolitisch« auf den Wandel vorbereitet worden war, und dessen fehlende Bereitschaft, die eigene Führung zu verraten, zahlte sich aus: Breschnew empfing Svoboda, den tschechoslowakischen Staatspräsidenten, in Moskau. Die Situation erlaubte keine Marionettenregierung, und ein Bürgerkrieg wäre einem Fiasko gleichgekommen. So holte man den internierten Dubcˇek heran, um mit ihm in Verhandlungen einzutreten.
Das Ergebnis in Form des »Moskauer Protokolls« sah vor, daß Dubcˇeks Gruppe zwar einstweilen im Amt bliebe, aber alle Reformen des Jahres 1968 unter starkem Einfluß des slowakischen Neostalinisten Gustáv Husák (Parteichef ab April 1969) revidiert würden, was insbesondere die Wiedereinführung der Zensur mit sich brachte. Verheerend war zum einen die Klausel, daß sowjetische Truppen auf unbestimmte Zeit für eine Normalisierung der Zustände in der Tschechoslowakei sorgen dürften, und zum anderen die Roll-back-Verfassungsreform vom 28. Oktober 1968, die das Ende des Prager Frühlings zementierte.
Einzelnes Aufflackern des tschechoslowakischen Protests gegen das repressive Regime von Moskaus Gnaden konnte indes nicht verhindert werden: Legendär ist die Selbstverbrennung des Studenten Jan Palachs vom Januar 1969, die zu – wirkungslosen – Massenprotesten führte. Auch die Selbsttötungen von Jan Zajic (Februar) und Evžen Plocek (April) konnten keine Wende herbeiführen, sondern blieben Fanale des Widerstands auf verlorenem Posten.
Wie tief aber der Haß in Folge der militärisch beendeten Prager Frühlingsgefühle im tschechischen Volk saß, wurde nicht zuletzt im Zuge der Eishockeyweltmeisterschaft in Schweden deutlich: Nachdem die Tschechoslowakei den »großen Bruder« UdSSR Ende März 1969 besiegt hatte, kam es im ganzen Land zu Massenausschreitungen gegen sowjetische Einrichtungen. Das Resultat waren weitere Repressalien durch das Husák-Regime.
1970 und 1971 wurden die letzten Ergebnisse von 1968 rückgängig gemacht: Parteiausschlüsse, Berufsverbote und Vereinsverbote straften all jene, die sich aus der Deckung gewagt hatten, und ebenso all jene, die denen geholfen hatten, die in der ersten Reihe standen. Die letzte Chance auf einen alternativ-sozialistischen Aufbruch war endgültig verspielt; das Regime ging in einem tristen Alltag seinem Untergang im Zuge der »Samtenen Revolution« von 1989 entgegen.
In dieser spielten allerdings die Protagonisten von 1968, die von innen heraus das System substantiell ändern wollten, keine Rolle, sondern liberale, konservative und rechte Systemoppositionelle waren am Zuge. Diese Generation um Václav Klaus und Václav Havel tat sich offenkundig schwer mit den Reformsozialisten, die letztlich eben doch Sozialisten blieben, auch wenn sie dem Regime grundlegende Veränderungen in allen relevanten Bereichen – von Justiz bis Ökonomie – auferlegen wollten.
Noch heute verläuft die Rezeption des Prager Frühlings in Tschechien weniger enthusiastisch als im Westen im allgemeinen und in Deutschland im besonderen, wo ausgerechnet der eher »antinational« und transatlantisch ausgerichtete Flügel der Linkspartei sein Periodikum Prager Frühling nennt.
Dieser blendet dabei völlig aus, daß der emanzipatorische Charakter des tschechoslowakischen 1968 in den Bereichen technologischer Wandel, Zensurgegnerschaft und nichttotalitärem Sozialismus untrennbar mit einem nationalkulturell-patriotischen Bewußtseinswandel wider imperiale Besatzungspolitik und geistig-theoretische sowie politisch-praktische Fremdherrschaft verknüpft war, ja daß der Prager Frühling in seinem Ursprungsland explizit als Prozeß der Wiedergeburt (»obrodný proces«) der beiden Staatsvölker firmierte – einer nationalen Wiedergeburt, der man sich im Spektrum um Katja Kipping wohl kaum verpflichtet weiß, und die in der Tschechoslowakei 1968 ebenso scheiterte wie sie in Deutschland und Europa 2018 noch nicht zu erwarten ist.
Es gilt, Lehren aus dem Frühlingserwachen in Prag zu ziehen, das kein plötzlicher Weckruf war, sondern vieler Jahre kultur- und ideenpolitischer Vorarbeit bedurfte. Denn der Prager Frühling kann – weitaus besser und zeitgemäßer als das im konservativen Milieu gern genutzte Beispiel der Französischen Revolution und theoretischen Gegenrevolution um Joseph de Maistre – aufzeigen, welch unaufhebbare Einheit Metapolitik und Politik im Zeichen einer »revolutionären Realpolitik« (siehe Sezession 81) bilden, ja welch eminente Bedeutung im Gramsci-Dreischritt aus kultureller Hegemonie, politischer Hegemonie und Regierungsantritt/Regierungsmacht den ersten beiden Faktoren zwingend zukommt.
Der dritte Faktor kam in der Tschechoslowakei 1968 nicht zum Zuge, weil die objektiven geopolitischen Machtverhältnisse es nicht zuließen. Ebendieser dritte Faktor kommt – um ein aktuelles Beispiel anzuführen – in Österreich 2018 für das rechte Lager zu früh, weil kulturelle und politische Hegemonie nicht erlangt wurden, bevor man glaubte, in Regierungsverantwortung ziehen zu müssen. Statt Studien über die Privatisierung hätten Gramscis Gefängnishefte Orientierung geben können.
Für Deutschlands Rechte ist indes einerseits die Lehre zu ziehen, daß kein substantieller Wandel in der Gesellschaft denkbar ist, der die Reihenfolge des Dreischritts nicht beachtet und die Tiefenstruktur des Denkens der Menschen – die Mentalität bzw. den »Alltagsverstand«, das »volkstümliche Element« (Gramsci) – nicht zuallererst in den Fokus nimmt. Andererseits gilt es daran festzuhalten, daß Geschichte in Sprüngen und niemals linear verläuft.
Es verhält sich also so, daß ein »Manifest der 2000 Worte«, das manchen Zeitgenossen 1968 als randständige Äußerung enttäuschter, systemimmanent argumentierender Intellektueller erscheinen mußte, ebenso wie eine »Erklärung 2018« in der Gegenwart noch kein Beleg für eine politische Wende darstellen – daß aber gerade solche Unmutsäußerungen seitens eines abgespaltenen Teils des bisherigen Establishments ein Indiz für eine Krise des gesamten Establishments darstellen.
Nach 1968 folgte 1989 in der Tschechoslowakei eine Wende mit anderen ideologischen Kernmarkern und mit anderen entscheidenden Akteuren als jenen, die ursprünglich prägend wirkten. Noch kann keiner sagen, ob auch in Deutschland auf das Krisenjahr 2018 ein erfolgreicheres Wendejahr – fünf, zehn oder zwanzig Jahre später – folgen wird: mit entsprechend neu gemischten Karten, mit anderen ideologischen Kernmarkern, mit anderen entscheidenden Akteuren.
Die Lehren der jüngeren Geschichte geben dabei durchaus Anlaß zur Hoffnung.
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Die 84. Sezession (72 Seiten, Juni 2018) können Sie hier oder hier bestellen.
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Literaturhinweise:
Vasil Bilak: Wir riefen Moskau zu Hilfe. Der »Prager Frühling« aus der Sicht eines Beteiligten,Berlin 2006;
Angelika Ebbinghaus: »Das Jahr 1968 in Ost und West«, in: dies.: (Hrsg.): Die letzte Chance? 1968 in Osteuropa,Hamburg 2008, S. 9–26;
Jan Fojtik/Bernd Hartmann/Fred Schmid: Die CSSR 1968. Lehren der Krise,Frankfurt a.M. 1978;
Stefan Karner: »Der kurze Traum des ›Prager Frühlings‹ und Moskaus Entscheid zu seinem Ende«, in: Angelika Ebbinghaus: (Hrsg.): Die letzte Chance? 1968 in Osteuropa, Hamburg 2008, S. 28–44;
Pavel Kohout: Aus dem Tagebuch eines Konterrevolutionärs, Hamburg/München 1985;
Zdenek Mlynár: Nachtfrost. Das Ende des Prager Frühlings, Frankfurt a.M. 1988;
Jan Pauer: »1968 in der Tschechoslowakei«, in: Osteuropa 7/2008,
S. 31–46;
Jirí Pelikán: Ein Frühling, der nie zu Ende geht. Erinnerungen eines Prager Kommunisten, Frankfurt a.M. 1976;
Martin Schulze Wessel:Der Prager Frühling. Aufbruch in eine neue Welt, Stuttgart 2018;
Ota Šik: Prager Frühlingserwachen. Erinnerungen, Herford 1988;
Erwin Strittmatter: Nachrichten aus meinem Leben. Aus den Tagebüchern 1954–1973, Berlin 2014.
Der_Juergen
Da es sich immer lohnt, sich in die Position des Widerparts zu versetzen, stelle ich die These auf, dass Moskau damals keine andere Wahl hatte, als seine Panzer rollen zu lassen. Da sich ein erst einmal in Gang gekommener Demokratisierungsprozess kaum gewaltlos stoppen lässt, hätte sich die CSSR rasch vollständig demokratisiert, und der Funke wäre bald auf Ungarn und Polen, und später auf die übrigen Ostblockstaaten, übergesprungen. Dies musste die Sowjetunion aus zwingenden geopolitischen Gründen vermeiden.
Ich hatte übrigens letzte Woche ein Gespräch mit einen früheren sowjetischen Offizier, der, obgleich kein Kommunist (mehr), das damalige Vorgehen seiner Führung für unumgänglich hielt. Ich kann ihn verstehen. Eine moralisierende Betrachtung der Geschehnisse ist abzulehnen; dies hat Benedikt Kaiser natürlich begriffen, denn in seinem dankenswert ausführlichen Beitrag findet sich kein Ansatz zu einer solchen.