Dialoge mit H – Wie war der Verlust des Eigenen möglich?

Caroline Sommerfeld

Caroline Sommerfeld ist promovierte Philosophin und dreifache Mutter.

Die Kno­ten­punk­te der Geschich­te ent­ste­hen da, wo ihre Prot­ago­nis­ten um das Sag­ba­re und das Unsag­ba­re gera­de noch strei­ten kön­nen. Es gibt Begrif­fe, die kurz vorm Ver­schwin­den von der dis­kur­si­ven Bild­flä­che sind:

»das Eige­ne / Eigent­li­che / Sub­stanz«, dann: »Volk«, »Hei­mat«, »Natio­nal- staat«, und kon­kre­ter: »Deutsch­sein«.

Ich habe das his­to­risch gro­ße Glück, mit mei­nem Mann ein Schau­spiel zwei­er Gene­ra­tio­nen auf­füh­ren zu kön­nen. Uns ver­bin­det das Gera­de­noch-Sag­ba­re. H ist Jahr­gang 1939, kennt also die oben genann­ten Sub­stanz­be­grif­fe in ihrer rhe­to­risch hei­ßes­ten Pha­se noch, genau­so wie  er bei ihrem Her­un­ter­küh­len und Ver­schwin­den­las­sen hef­tig mit­ge­ar­bei­tet hat.

Ich, Jahr­gang 1975, ken­ne sozia­li­sa­ti­ons­be­dingt alles Wesent­li­che nur aus zwei­ter Hand, der Hand der 68er. In der küh­len Fad­heit der Bun­des­re­pu­blik nach 1990 schwel­te aber unter­grün­dig doch noch eine Fas­zi­na­ti­on für das, was einst­mals Begeis­te­rung ent­facht haben muß­te, was als das »Böse« zu sehen uns mit logi­scher Strin­genz bei­gebracht wor­den war. Es blieb lan­ge Zeit unter­grün­dig, offen nur der Abscheu gegen das all­zu selbst­ver­ständ­li­che »Gute«, und brach sich erst im ver­gan­ge­nen Jahr auf­grund der dra­ma­ti­schen poli­ti­schen Lage ein­deu­tig Bahn. Ich erschrak vor mir selbst, daß ich – ohne es zunächst expli­zit zu wis­sen – mich selbst­ver­ständ­lich mit etwas iden­ti­fi­zier­te, das nicht mehr in den Bereich des Sag­ba­ren gehörte.

Noch vor ein paar Jah­ren glaub­te ich, ich hät­te kei­ne Wer­te. Das »Wir-Gefühl« der ame­ri­ka­ni­schen Kom­mu­ni­ta­ris­ten, allen vor­an mei­nes Lieb­lings­phi­lo­so­phen Richard Ror­ty, war mir fremd, ich setz­te eher dar- auf, die »libe­ra­le Iro­ni­ke­rin« zu ver­kör­pern. In Kon­tin­genz, Iro­nie und Soli­da­ri­tät von 1989 ver­band er ästhe­ti­sche Distanz, Typus Nietz­sche, mit soli­da­ri­schem Enga­ge­ment, Typus Marx. Mir war klar, wel­che Rol­le ich spie­len woll­te und unter wel­cher ich litt, weil sie mir nicht gelang. Daß die­ses Gefühl ein urdeut­sches war, war mir nicht bewußt.

Der Weg die­ser Suche nach den Bedin­gun­gen der Mög­lich­keit, qua­si: einer tran­szen­den­ta­len Deduk­ti­on der Kate­go­rien einer Gene­ra­ti­on, läuft auf ver­schie­de­nen Ebe­nen. Ganz oben ver­läuft die Ebe­ne der Rhe­to­rik, der Argu­men­ta­ti­on. Dar­un­ter die Ebe­ne der Ideo­lo­gie. Noch wei­ter unten die Ebe­ne der Psy­cho­lo­gie einer Alters­ko­hor­te. Und ganz unten die Ebe­ne der per­sön­li­chen Bin­dung, der Horizontverschmelzung.

1.      Rhetorik

Die Rhe­to­rik wider die Ver­tei­di­gung des Eige­nen lebt von der Behaup­tung ihrer mora­li­schen und ratio­na­len Über­le­gen­heit. Wer das Eige­ne benen­ne, es ver­tei­di­gen wol­le, sei »ego­is­tisch«. Gren­zen und Natio­na­lis­mus drück­ten aus, nichts von den eige­nen (west­li­chen, sozi­al­staat­li­chen, finan­zi­el­len) Pri­vi­le­gi­en abge­ben zu wol­len, nur an sich zu den­ken statt in glo­ba­len Maß­stä­ben. »Sub­stanz­den­ken ist eine Tod­sün­de«, erklär­te mir M, ein befreun­de­ter Sozio­lo­ge, und sei in der funk­tio­nal aus­dif­fe­ren­zier­ten Moder­ne nicht mehr halt­bar. Statt von »Volk« sei von »Bevöl­ke­rung« zu sprechen.

Insis­tie­ren von H, ich müs­se Pless­ners Gren­zen der Gemein­schaft (1924) neu lesen, dar­in gin­ge es doch um die Gewalt und Feind­lich­keit im Innern von homo­ge­nen Gemein­schaf­ten. Der Mensch ist dem Men­schen ein Wolf, nicht: Der Frem­de ist dem Men­schen ein Wolf! Weil Gemein­schaf­ten in sich gefähr­lich sind, ergo Abschied von der Idee des Vol­kes. Das deut­sche Volk müs­se man doch gegen sei­ne ihm inne­woh­nen­de Ten­denz, sich abzu­schot­ten, beschüt­zen. Immer, wenn his­to­risch Aus­tausch mög­lich war, war Frie­den, im 18. und 19. Jahr­hun­dert etwa, und immer, wenn die Deut­schen sich abgren­zen muß­ten, wur­de es katastrophal.

Ich hielt dage­gen, daß die Unei­nig­keit der Volks­ge­mein­schaft doch ohne­hin logisch und die Ein­heit ein heu­ris­ti­scher Begriff sei, wir hin­gen ja kei­nen roman­ti­schen Einig­keits­phan­ta­sien an. Und auch, daß man das nicht umdre­hen dür­fe als Argu­ment: Weil die Deut­schen in sich inho­mo­gen und kon­flikt­be­la­den wären, sei jedes Auf­recht­erhal­ten­wol­len die­ser Ein­heit falsch. H mein­te dar­auf­hin, das Volk weh­re sich gegen Ver­ein­heit­li­chung von rechts und wol­le im Aus­tausch blei­ben. Der Begriff des Aus­tauschs ist natür­lich mas­siv mehr­deu­tig: Wenn man da Mas­sen­im­mi­gra­ti­on und den fried­li­chen Dia­log älte­rer Pro­fes­so­ren oder Ehe­paa­re zusam­men­faßt, lügt man sich in die Tasche.

1.       Ideologie

Ich will ver­ste­hen, was nach 1945 pas­siert sein muß, um die gegen­wär­ti­ge gro­ße Erzäh­lung vom Ver­schwin­den des Eige­nen zu begrei­fen. Zu die­ser Erzäh­lung gehört, daß sich »Gren­zen«, »Natio­nen«, »Volk« und »Vater- land« durch die Glo­ba­li­sie­rung auf­lö­sen, daß an die Stel­le der Natio­na­li­tät Inter­na­tio­na­li­tät tritt, welt­wei­ter Aus­tausch von Waren, Geld­strö­men und Men­schen, und daß dies nicht bloß der Lauf der Geschich­te ist, son­dern in sich gut und not­wen­dig und des­halb zu affir­mie­ren. Wie kommt die Affir­ma­ti­on zustan­de, und was bedeu­tet das für das Selbst­ver­ständ­nis der Generationen?

Auch ideo­lo­gisch ist ein »Gro­ßer Aus­tausch« pas­siert, der  his­to­risch wohl sei­nes­glei­chen sucht. Die alli­ier­ten Besat­zungs­mäch­te haben  im Grun­de eine gemein­sa­me Ideo­lo­gie auf­ge­bo­ten, um das deut­sche Volk auch geis­tig zu besie­gen. Der Sowjet­mar­xis­mus und die ame­ri­ka­ni­sche Ree­du­ca­ti­on kamen mit einem abso­lut nach­voll­zieh­ba­ren Argu­ment: Ihr Deut­schen habt den Krieg ver­lo­ren. Eure gro­ße Erzäh­lung führ­te gera­de­wegs in die Katastrophe.

Also muß das Gegen­teil von dem, wor­an ihr Deut­schen hingt, wahr sein! Wenn die Nazis von »Volk« spra­chen, spre­chen wir vom Indi­vi­du­um oder von der Arbei­ter­klas­se. Wenn die Nazis von »Hei­mat« spra­chen, spre­chen wir vom Inter­na­tio­na­lis­mus. Wenn die Nazis von der »Her­ren­ras­se« spra­chen, spre­chen wir von Anti­ras­sis­mus und Anti­fa­schis­mus. Wenn etwas ein Irr­tum war, ist dann das Gegen­teil die lau­te­re Wahrheit?

Die Nach­kriegs­ge­nera­ti­on hat, so sieht es H, nicht erzwun­ge­ner­ma­ßen ein frem­des Glau­bens­sys­tem über­nom­men (dies gilt allen­falls für den Kon­su­mis­mus der »Kul­tur­in­dus­trie«), son­dern der Attrak­ti­ons­punkt war: die Befrei­ung. Befreit wor­den zu sein, setz­te para­do­xer­wei­se eige­ne Befrei­ungs­im­pul­se frei. Und die rich­te­ten sich gegen die »ver­krus­te­ten Struk­tu­ren« der Väter­ge­nera­ti­on, über­nah­men aus dem Mar­xis­mus die mate­ria­lis­ti­sche Ideo­lo­gie­kri­tik und aus den USA die wei­ter­ent­wi­ckel­te Psy­cho­ana­ly­se der Frank­fur­ter Schu­le. »Volk und Hei­mat, Ras­se und Nati­on« hät­ten, als sie ent­stan­den und ihre Hoch­blü­te erleb­ten, in sich schon den Keim ihrer Radi­ka­li­sie­rung und Zer­stö­rungs­wut getra­gen. Georg Lukács’

The­se von der Anla­ge des Faschis­mus in der Fran­zö­si­schen Revo­lu­ti­on (Die Zer­stö­rung der Ver­nunft, 1954) wur­de zu einer Lei­ter­zäh­lung der 68er-Gene­ra­ti­on. Mit die­sem dop­pel­ten Rüst­zeug (Mate­ria­lis­mus und Psy­cho­ana­ly­se) blieb rela­tiv schnell ideo­lo­gisch kein Stein mehr auf dem ande­ren. Das Sinn­zen­trum aller Argu­men­ta­ti­on wur­de der Natio­nal­so­zia­lis­mus. Von ihm ließ sich alles her­lei­ten, auf ihn lief his­to­risch alles zu, an ihm als Kri­tik­fo­lie ließ sich fort­an alles beur­tei­len, nicht nur »Lyrik« war »nach Ausch­witz« nicht mehr zu den­ken. Wer sol­ches Rüst­zeug in Hän­den hält, hat eine Sou­ve­rä­ni­tät gewon­nen, mit der er kämp­fen kann, statt zu verzweifeln.

Lin­kes Den­ken zeh­re nach­hal­tig von der Alles-läuft-auf-den- Faschis­mus-zu-The­se. Die his­to­ri­sche Auf­ga­be der 68er sei die Auf­klä­rung über die Ver­bre­chen der Deut­schen gewe­sen, den auto­ri­tä­ren Cha­rak­ter, die gräß­lich ver­heu­chel­ten 50er Jah­re vol­ler zuge­schüt­te­ter Alt­las­ten. Ob ich denn die­se  Auf­klä­rung etwa nicht hät­te haben wol­len und lie­ber im Ade­nau­er- Deutsch­land hin­term Herd ste­hen woll­te? Dann wäre im übri­gen auch mein gan­zes Phi­lo­so­phie­stu­di­um unmög­lich gewe­sen, alles das Ver­dienst sei­ner Gene­ra­ti­on, und ich gin­ge so leicht­fer­tig lachend damit um. Ich lach­te ein­fach weg, was sie erkämpft hät­ten, und das aus purer Nai­vi­tät und Geschichtsvergessenheit.

1.      Psychologie

Dem­je­ni­gen, der kein Gespür und kei­ne Rezep­to­ren mehr für das »Eige­ne« und kei­nen Begriff mehr davon hat, kann man kaum mehr demons­trie­ren, was das ist oder ein­mal war. Man wird irre an sei­nen Begrif­fen, hat man es mit einem Gegen­über zu tun, der sie nicht bloß in Fra­ge stellt oder für obso­let hält, son­dern den Ein­druck ver­mit­telt, es habe die­se Begrif­fe nie gegeben.

Zum »Deutsch­sein« gehör­te auch immer wie­der das Para­dox des »Nicht­deutschs­ein­wol­lens«, davon dür­fen wir getrost aus­ge­hen. Es ist also kei­ne Erfin­dung der Nach­kriegs­ge­nera­ti­on, son­dern eine meta­phy­si­sche Vor­aus­set­zung deut­scher Iden­ti­tät, völ­ker­psy­cho­lo­gisch viel­leicht einzigartig.

Übri­gens habe ich gewagt, anzu­mer­ken, daß ich Herrn Gau­lands Vor­be­hal­te gegen­über Boat­eng durch­aus berech­tigt fin­de (also nichts über des­sen fuß­bal­le­ri­sche Qua­li­tä­ten, die sind mir egal und ich ver­ste­he nichts davon, aber dazu, daß ich es ei–   nen idio­ti­schen Dis­kurs fin­de, wenn ein Schwar­zer gera­de wegen sei­nes Schwarz­seins osten­ta­tiv als der bes­se­re Deut­sche prä­sen­tiert wird und stän­dig als leben­des Inte­gra­ti­ons­mo­dell her- hal­ten muß), dar­auf­hin zeig­te sich H zutiefst erbost, ich sei end­gül­tig ras­sis­tisch ver­gif­tet usw. – das­sel­be Lied wie immer, nur eine Stu­fe auf­ge­brach­ter. Was mich wirk­lich bestürz­te, war, als er mein­te: »Nach dem Krieg kamen die schwar­zen GIs und haben uns von dem Fluch der wei­ßen Ras­se erlöst!«

 Das ist der Extrem­punkt des Kon­flikts. Viel­leicht sein pas­sen­der Schlüs­sel? Denn daß ihnen gewis­se Grund­be­grif­fe sys­te­ma­tisch aberzo­gen wor­den sind, so daß sie in die­sen Kate­go­rien nicht mehr den­ken kön­nen, setzt vor­aus, daß die­se Kate­go­rien erkennt­nis­theo­re­tisch vor­gän­gig sind. Sind sie das? Wenn H sagt, er sei irgend etwas, aber kein Deut­scher, dann ist das erst­mal ein Kate­go­rien­feh­ler. Natür­lich ist er das. Was er meint, ist, er sei kein Deut­scher in einem empha­ti­schen Sin­ne: daß er sich nicht damit identifiziert.

Mit dem Iden­ti­fi­zie­ren ist es so eine Sache: a= a ist Iden­ti­tät, auf der Sach­ebe­ne, nicht auf der Aus­sa­ge­ebe­ne. a ∈ (a, b, c, d …) ist auch Iden­ti­tät auf der Sach­ebe­ne (also: a ist Teil einer Men­ge, der a, b, c usw. ange­hö­ren). Daß H Deut­scher ist, ist ein allen Aus­sa­gen dar­über vor­gän­gi­ger Sach­ver­halt, genau­so wie daß er ein Mann ist, ein Vater ist usw. Das ist Iden­ti­tät. Alles wei­te­re ist: Iden­ti­fi­zie­ren. Das geht so: H sagt, daß er kein Deut­scher sei, son­dern Rhein­län­der, Mön­chen­glad­ba­cher, ein Kind aus der Rubens­stra­ße 7. Oder auch: Der ira­nisch­stäm­mi­ge Münch­ner Amok­läu­fer sagt, daß er Deut­scher sei. Auf die­se Wei­se kann man der Iden­ti­tät ein Schnipp­chen schla­gen: Man iden­ti­fi­ziert sich ein­fach nicht damit. Ob dies nun aller­dings ein Akt der Sou­ve­rä­ni­tät ist, wäre genau die pro­ble­ma­ti­sche Frage.

Die Wer­te und Über­zeu­gun­gen der 68er-Gene­ra­ti­on bestim­men die­ser Tage kul­tur­he­ge­mo­ni­ell den media­len Main­stream, das muß man sich vor Augen hal­ten, es geht also nicht um die His­to­ri­sie­rung eines psy­chi­schen Mus­ters. Die see­li­sche Über­frem­dung (Besat­zung, Schuld­kom­plex, »Alles Frem­de ist bes­ser als alles Eige­ne«) hat dazu geführt, daß ihre Prot­ago­nis­ten aus der Feind­schaft gegen das Eige­ne inzwi­schen ein Nicht­er­ken­nen des Eige­nen ent­wi­ckelt haben. Daher nimmt es dann nicht län­ger wun­der, wenn in der Nach­kriegs­zeit auf­ge­wach­se­ne Men­schen offen­sicht­lich mit den Dis­kur­sen ihrer frü­hen Kind­heit kom­plett gebro­chen haben: Sie sind kom­plett gebro­chen wor­den.

Daß der­ge­stalt gebro­che­ne Figu­ren sich all­zu­meist wohl­füh­len in der Gegen­wart, ist nur auf den ers­ten Blick para­dox. Denn das psy­chisch degra­die­ren­de Schul­dig­spre­chen, die Ernied­ri­gung des Besieg­ten, die Erzie­hungs­be­dürf­tig­keit wur­de mit der Frei­set­zung eines Auf­bruchs in die Frei­heit ver­knüpft. Wer die Kol­lek­tiv­schuld erkennt und auf sich bezieht, der sei berech­tigt, alle alten Moti­ve des Schul­dig­wer­dens als »Faschis­mus« zu erken­nen und sich im »Anti­fa­schis­mus« neu zu ent­wer­fen. Das gilt für Ost- wie für West­deutsch­land, in Son­der­heit für die »revo­lu­tio­nä­re Pra­xis« der lin­ken Intel­lek­tu­el­len seit den frü­hen sieb­zi­ger Jah­ren und die mehr­heits­fä­hi­ge Fort­füh­rung der­sel- ben bis in die unmit­tel­ba­re Gegenwart.

2.       Bindung

Einen Punkt ver­stand ich zuerst nicht: War­um H glaubt, wir   (d. h. »die Rech­ten«) wären »Schma­rot­zer«. Er mein­te damit, daß Libe­ra­lis­mus­kri­tik doch nur im libe­ra­len Sys­tem über­haupt mög­lich sei. Wenn wir Phan­ta­sien hät­ten, dies  abzu­schaf­fen, und uns Orbán als wün­schens­wert vor­schweb­te, dann säg­ten wir den Ast ab, auf dem wir säßen. Die Errun­gen­schaf­ten von ’68 lie­ßen mei­ne Hal­tung über­haupt erst zu, rich­te­ten sich aber gegen sie. Qua­si: Libe­ra­lis­mus­kri­tik invers.

Aber muß man nicht Gene­se und Gel­tung immer noch tren­nen? Die post­mo­der­ne Belie­big­keit erlaubt natür­lich, daß dar­in belie­big­keits­feind­li­che Ten­den­zen ent­ste­hen. Daß aber dies gegen eine Kri­tik der Belie­big­keit sprä­che, sie gleich­sam ad absur­dum füh­re, sehe ich nicht. Außer­dem: Wir sind nicht für eine auto­ri­tä­re Gesell­schaft! Nur für eine weni­ger strom­li­ni­en­för­mig lin­ke, dum­me, deka­den­te, heuch­le­ri­sche, ein­sei­ti­ge, sich selbst unter­gra­ben­de, sich ihrer­seits selbst den Ast, auf dem sie sitzt, absägende.

 »Wider­sprüch­lich­keit bin­det, Wider­spruchs­frei­heit löst Bin­dun­gen auf.« Albrecht Koschor­ke hat unter die­ses Gesetz das Erzäh­len als wesent­li­ches Medi­um der Wider­sprüch­lich­keit einer Gesell­schaft gestellt. Und wie wir uns wider­spre­chen! Wir stel­len gro­ße Erzäh­lun­gen para­dig­ma­tisch gegen- ein­an­der, Lyo­tards Wider­streit fei­ert fröh­li­che Urständ. Das erzeugt eine tie­fe­re Bin­dung, als wir Ehe­leu­te ahn­ten, bevor wir uns ideo­lo­gisch ab- han­den kamen.

Indes: Anders als 1983, als Der Wider­streit erschien, ist gegen­wär­tig das Risi­ko grö­ßer, weil nicht nur post­mo­dern-dis­kur­siv »Erzäh­lun­gen« (Récits) auf dem Spiel ste­hen, son­dern dar­an glo­ba­le Macht­ver­hält­nis­se fest­hän­gen. Lyo­tards »Ende der gro­ßen Erzäh­lun­gen« hat sich nicht bewahr­hei­tet. In mei­ner Erzäh­lung über den Gro­ßen Aus­tausch, die Neue Welt­ord­nung, den Ver­lust des Eige­nen und die gebo­te­ne Ver­tei­di­gung des Eige­nen kommt ech­te Gefahr vor. Bin­dung bringt in nicht uner­heb­li­chem Maße Sor­ge mit sich. Womög­lich ist es schie­rer Für­sor­ge­trieb, der Selbst­ver­leug­nung die­ser Gene­ra­ti­on einen Halt ent­ge­gen- zuset­zen, und zwar auch dann, wenn sie die­sen Halt unbe­irr­bar für das schlecht­hin Böse hal­ten wird. ¡

Caroline Sommerfeld

Caroline Sommerfeld ist promovierte Philosophin und dreifache Mutter.

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