Gleich zu Jahresbeginn, am 3. Januar, sorgte Bundesinnenminister Thomas de Mazière (CDU) für erhebliche Aufregung, als er in einem Gastbeitrag für die FAZ »Leitlinien für einen starken Staat in schwierigen Zeiten« vorlegte. Demzufolge erforderten die »schwierigen Zeiten« – gemeint waren wohl die zwischen dem islamistischen Terroranschlag auf den Berliner Weihnachtsmarkt am 19. Dezember 2016 und der für September 2017 angesetzten Bundestagswahl – umfassende Reformen der bundesrepublikanischen Sicherheitsinfrastruktur sowie eine »nationale Kraftanstrengung zur Verstärkung der Rückkehr von Ausreisepflichtigen«.
Was von dieser sehr späten verbalen Wertschätzung staatlicher Stärke übrigbleiben sollte, zeigte sich nur eine Woche später, als de Mazière und Bundesjustizminister Heiko Maas (SPD) nach internen Gesprächen am 10. Januar eine Reihe von kommenden Gesetzesverschärfungen bekanntgaben. Demnach soll das Terrorpotential eingesickerter Islamisten zukünftig durch elektronische Fußfesseln und verschärfte Wohnsitzauflagen bei Verwendung falscher Identitäten im Zaum gehalten werden.
Tags zuvor hatte sich Bundeskanzlerin Merkel persönlich in die Debatte eingeschaltet und angekündigt, daß die Regierung sicherheitspolitisch »wirklich Flagge« zeigen und schnell handeln werde – nachdem wiederum einen Tag vorher bekannt geworden war, daß das Innenministerium derzeit 548 Personen als potentiell terroristische »Gefährder« einstufe: 224 von ihnen halten sich in Deutschland auf, und ganze 62 sind aufgrund abgelehnter Asylanträge ausreisepflichtig, wie es auch der Attentäter vom Breitscheidplatz war.
Wie »stark« ist unser Staat vor dem Hintergrund solcher Zahlen und Maßnahmen? Fest steht: »Stark« ist ein Staat (der gängigen Anwendung des Begriffs folgend), wenn er formierend und pazifizierend wirkt. Zur Regulation der einander widerstrebenden Partikularkräfte und ‑interessen innerhalb des Systems bedient er sich seiner Staatsgewalt, und zwar nicht nur der heute meist ausschließlich betrachteten – und kritisierten – sanktionierenden Gewalt im engeren Sinne (Exekutivkräfte, Strafgesetze), sondern ebenso der integrierenden Macht, die er besitzt (Verwaltung, Vermittlung). Dabei bedingen diese beiden Durchsetzungsweisen einander unmittelbar, denn die Autorität des Staatswesens beruht in letzter Instanz auf der Androhung von Gewalt bei Ungehorsam.
Die »Spielregeln« für den Umgang der Staatsangehörigen miteinander liegen in Gesetzesform vor, und das Rechtssystem bezieht – ebenso wie der Staat als konkrete Institution – seine Legitimation aus der Zustimmung des Staatsvolkes. Es bedarf also einer »kritischen Masse« an Menschen mit einem hinreichend starken, gemeinsamen Identitätsgefühl, um das Bewußtsein eines »Wir« gegenüber Fremden als Keimblatt des Staatswesens zu begründen. Eben dies besagt der ebenso knappe wie bedeutungsvolle Einleitungssatz zur zweiten Ausgabe (1932) von Carl Schmitts Begriff des Politischen: »Der Begriff des Staates setzt den Begriff des Politischen voraus.« Der (National-)Staat ist demnach die sichtbare Manifestation der politischen Einheit des Volkes, das innerhalb klarer Grenzen als Gemeinschaft gemäß einem Gesellschaftsvertrag (»Verfassung«) lebt.
Diese Form der Staatsentstehung evoziert beinahe zwangsläufig das berühmte allegorische Titelbild des Leviathan: den gewaltigen souveränen Herrscher mit den Insignien geistlicher und weltlicher Macht (letzteres ist nicht von ungefähr das Schwert), dessen Körper durch das Staatsvolk gebildet wird. Eine solche Vorstellung vom Staats-Wesen mit konkreter, schutzbedürftiger Form geht jedoch noch viel weiter zurück als bis zur Frühen Neuzeit und Thomas Hobbes; ihre Rohform läßt sich mindestens bis ins archaische Griechenland zurückverfolgen.
Schon die Ilias, die mittlerweile auf das 7. oder 8. vorchristliche Jahrhundert datiert wird, zeichnet im 18. Buch in der legendären epischen Beschreibung des neuen Schilds des Achill den wohlgeordneten, Streitfälle regulierenden »starken« Stadtstaat als Gegenbild zum chaotischen, rechtlosen Bürgerkriegszustand (Stasis). Und in der Tat wurden etwa ab der Mitte des 7. Jahrhunderts v. Chr. sogenannte »Versöhner« (Aisymnetai) per Wahl eingesetzt, um in den von zunehmenden ständischen Spannungen destabilisierten Poleis mit Hilfe von Generalvollmachten und Vermittlungsgeschick dem Gewohnheitsrecht Geltung zu verschaffen und, wo nötig, neues Recht zu setzen – Ausgangspunkt der allmählichen Verschriftlichung des Rechts, wie sie in Athen um 621 v. Chr. durch Drakon vorgenommen wurde.
Sein Name steht heute sinnbildlich für das Negativbild von »Staatsgewalt« und tyrannischer Strafjustiz, obgleich er lediglich die bereits gebräuchlichen attischen Rechtsgewohnheiten kodifizierte und so richterliche Willkür verunmöglichte sowie insbesondere die Blutrache zwischen Familien durch Ermächtigung der Gerichte zu unterbinden suchte – ein grundlegender Schritt hin zur Etablierung des staatlichen Gewaltmonopols. Daß die Drakonische Gesetzgebung für eine Vielzahl von Vergehen die Todesstrafe vorsah, hatte vielmehr konstitutive Gründe: Der archaischen Rechtsauffassung zufolge war die Rechtsprechung (Dike) eine göttliche Gabe und stand unter dem Schutz der Musen; den geltenden Gesetzen war »die Übereinkunft« (Nomos) als In-die-Welt-Kommen des göttlichen Willens vorgeschaltet.
Die naturrechtliche Herleitung bedingte eine Wahrnehmung des Straftäters als Gemeinschaftsfeind. Der Nomos galt nicht als kodifiziertes Recht, sondern wurde als Essenz der Staatlichkeit transzendiert. Wer gesetzlos handelte, versündigte sich also an der Legitimation der Polis selbst und durfte (auch vor den Augen des Zeus, der den Menschen das Recht gegeben hatte) keinesfalls ungeschoren davonkommen. Die öffentliche Gerichtsverhandlung und anschließende Bestrafung wurden so zum kathartischen Akt für die Stadtgemeinschaft; ein eindrückliches Zeugnis dieser »Therapie« des Staats-Wesens findet sich in Platons Phaidon, in dem der Sokrates zugedachte Gifttrunk nie als Koneion (»Schierling«), sondern stets als Pharmakon (»Gift«, aber auch »Arznei«) bezeichnet wird.
Diese aus dem Gewohnheitsrecht des Naturzustands entwickelte »starke« Haltung des Staates, vertreten durch als Vermittler zwischen streitenden Parteien, der Allgemeinheit und den Göttern auftretende Richter, entstand in ähnlicher Form auch im frühen Rom. Infolge ständiger Machtkämpfe zwischen Patriziern und Plebejern wurde Mitte des 5. Jahrhunderts v. Chr. – maßgeblich beeinflußt durch Drakon und den attischen Rechtsreformer Solon – das Zwölftafelgesetz als eine Art Gesellschaftsvertrag geschaffen, um für Rechtssicherheit innerhalb der Republik zu sorgen und (auch als Mythos einer ständeübergreifenden Zusammenarbeit) die Gemeinschaft zu stabilisieren; das Römische Recht wurde aufgrund seines Abstraktionsgrads und der Anpassungsfähigkeit an beliebige entwickelte Gesellschaftsformen zum Grundstein aller modernen Rechtsordnungen.
Während dieses frühe Regelwerk eines kleinen Agrarstaates vor allem Straf- und Zivilrecht regelte, entwickelte sich ein tatsächliches Staatsrecht erst mit der Vergrößerung des römischen Einflußbereichs und der dadurch ständig wachsenden Verwaltung. Das Wohlergehen des Staates wurde in die Hände des Senats gelegt, dem alle Mittel zur inneren Befriedung zur Verfügung standen – bis hin zum Senatus consultum ultimum, der Urform der Verhängung des Ausnahmezustands, der zur Rettung der Republik den beiden Konsuln diktatorische Vollmachten übertrug und etwa standrechtliche Hinrichtungen römischer Bürger legalisierte.
Doch das Römische Reich zerbrach letzten Endes; seine ausgefeilte Staatsordnung verkam zum leeren Gerüst, innerhalb dessen unkontrollierbar weit aufgespannter Grenzen Dekadenz und Parteienkonflikte (als Verfallszeichen des verbindenden Nomos) ebenso Einzug hielten wie fremde Volksmassen, die das schwindende Integrationsvermögen des Imperiums überforderten. Sein Niedergang wurde zum Abziehbild für das wiederkehrende Zerfallsmuster eines ehemals »starken Staates« in immer mächtigere Partikularkräfte bis hin zu seinem faktischen politischen Verschwinden nach Aufgabe des staatlichen Suprematieanspruchs. Nichtsdestoweniger bestanden die europäischen Feudalreiche des Mittelalters wesentlich nach klassisch-römischem Vorbild fort, ehe die institutionalisierte katholische Kirche (die den jeweiligen Staaten/Reichen einen großen Teil ihrer Funktion als befriedende Gewalt abgenommen hatte) an Einfluß verlor, die Reformation einsetzte und sich ungeahnte religiöse Bruchlinien durch Europa zu ziehen begannen. In dieser Bedrohungssituation schuf Thomas Hobbes die theoretische Grundlage des modernen Staates.
Sein 1651 veröffentlichter Leviathan fußt ganz auf Hobbes’ persönlicher Erfahrung des Englischen Bürgerkriegs (1642–1649), der sich ihm unterhalb der politischen Ebene (Royalisten vs. Republikaner) vor allem als Auseinandersetzung der unversöhnlichen Religionsgemeinschaften innerhalb des Landes – Katholiken, Puritaner, Anglikaner, Presbyterianer – darstellte, als ein »pluralistischer Totalitarismus« (Helmut Schelsky). Sein Vorschlag zur Rettung vor dem barbarischen Bellum omnium contra omnes trug »klassische« Züge: Der ideale Souverän sollte zur innerstaatlichen Friedenssicherung die überkommene Zwei-Schwerter-Lehre des Mittelalters verwerfen und die geistliche Macht seiner weltlichen unterwerfen.
Alle gesellschaftlichen Partikularkräfte, insbesondere aber die Kirche, müßten der vermittelnden Autorität des »großen Ganzen« unterworfen werden, um die maximale Integration der Staatsbürger zu gewährleisten. Die Möglichkeit dazu biete ein ausnahmslos christliches Volk; Schmitt vermerkte diese Voraussetzung in seinem Glossarium zu Recht als einen in vormultikulturellen Zeiten selbstverständlichen Aspekt. Bereits in seiner Schrift Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus (2. Aufl. 1926) hatte er festgehalten, daß den modernen demokratischen Staat »notwendig erstens Homogenität« konstituiere – und zweitens die Bereitschaft zur Aufbietung der vollen Staats-Gewalt, um den inneren Frieden in Frage stellende Abweichler (»das Heterogene«) auf die eine oder andere Weise zu neutralisieren, ehe sie eine destabilisierende Wirkung bis hin zum Bürgerkrieg entfalten würden.
Der Gesellschaftsvertrag, wie ihn sich Hobbes und nach ihm »liberalere« Denker wie John Locke und Jean-Jacques Rousseau in unterschiedlichen Schattierungen vorstellten, basiert wesentlich auf der Gewaltdelegation der Bürger an ihren Staat, also die grundsätzliche Bereitschaft zur Einhaltung des inneren Friedens, solange der Staat im Gegenzug mittels der akkumulierten Gewalt die Bürger vor Regelbrechern schützt und ihnen ermöglicht, ungestört für das höhere Wohl zu arbeiten.
Diesen Idealzustand vorausgesetzt, kam dem Souverän lediglich noch die Rolle eines Pouvoir neutre et intermédiaire zu, der als Nachtwächterstaat bei der Sicherung nach außen verharren und sich nach innen zurückhalten sollte. Im Zusammenhang mit Aufklärung und Säkularisierung vollzog sich jedoch parallel zur Heraufkunft des Zeitalters der europäischen Nationalstaaten eine positivistische Wendung: Die juristische Verfassung ersetzte den volklich-naturrechtlichen Nomos als Letztbegründung des staatlichen Systems.
Gleichzeitig wurde mit der Französischen Revolution und ihren Nachwehen politisch, mit der Industrialisierung wirtschaftlich der Wechsel von der Standes- hin zur Klassengesellschaft unübersehbar. Die zeitgenössischen Staaten, in der Mehrzahl konstitutionelle Monarchien, richteten jedoch ihre Machtmittel weiterhin auf die Integration des Bürgertums, was spätestens ab Ende des Ersten Weltkriegs zum Problem werden sollte.
Denn ab 1918 sah sich der unvorhersehbar neugeordnete Kontinent in seinen staatlichen Ordnungen nicht nur mit der neuen Partikularkraft des Industrieproletariats konfrontiert, das in die Gemeinschaft prekärer neuer Staaten wie der Weimarer Republik zu integrieren eine Mammutaufgabe darstellte. Hinzu kam eine politische Lehre, die in ausdrücklicher Umkehrung der vorangegangenen Lehren die qualitative »Stärke« eines Staates aus seiner innenpolitischen Schwäche herzuleiten suchte: der während des Krieges durch den englischen Sozialisten Harold Joseph Laski aus der Philosophie in die politische Theorie übertragene, polemisch gegen eine befürchtete Allmacht des Staates gerichtete Begriff des Pluralismus.
In Deutschland begann die Auseinandersetzung mit Laskis Position erst in den späten 1920er Jahren, und Carl Schmitt nahm darin von Anfang an eine radikale Gegenposition ein, da er – in Übereinstimmung mit Hobbes – den (Weimarer) Staat in Gefahr sah, von radikalen Partikularinteressen ohne Rücksicht auf territoriale und gesellschaftliche Strukturen gekapert und durch das damit einhergehende Zerbrechen der volklichen Einheit entpolitisiert zu werden: »Der Pluralismus bezeichnet die Macht mehrerer sozialer Größen über die staatliche Willensbildung«, schrieb er 1931 im angesichts der historischen Umstände bereits alarmistischen Hüter der Verfassung, und schon 1927 hieß es in der Urfassung des Begriff des Politischen: »Der Staat verwandelt sich in eine Assoziation, die mit anderen Assoziationen konkurriert. Er wird eine Gesellschaft neben und zwischen manch andern Gesellschaften, die innerhalb oder außerhalb des Staates bestehen.«
Der vor allem durch die radikalen Parteien, die den geregelten politischen Ablauf bereits lähmten, unmittelbar drohenden Gefahr war mit sturem Nomos-losen Rechtspositivismus nicht beizukommen, was den Dezisionisten Schmitt auf den Plan rief – seine Abhandlung Legalität und Legitimität von 1932 war der Versuch der Legitimierung des präsidial verordneten Staatsnotstands, eines modernen Senatus consultum ultimum ohne Senat, um zum Schutz von Reich und Reichsverfassung die Diktatur auszurufen. Unvoreingenommen betrachtet, stellt die Schrift fast das Manifest einer »wehrhaften Demokratie« avant la lettre dar, doch bekanntlich sollte es nicht mehr dazu kommen.
Die seit 1949 bestehende Bundesrepublik hat sich vor dem historischen Hintergrund ihrer Existenz aller Voraussetzungen begeben, in den Ruch eines »starken Staates« zu geraten. Abgesehen von bis 1990 geltenden besatzungsrechtlichen Beschränkungen wurden die letztinstanzlichen staatlichen Gewaltmittel zwischen Exekutive und Judikative aufgeteilt: Während sich seither die Polizei mit Strafverfolgung und ‑vollzug befaßt (unter teilweise kreativer Auslegung durch die Innenministerien), liegt die Funktion des »Hüters der Verfassung« und damit des letzten Bollwerks des Staates beim 1951 geschaffenen Bundesverfassungsgericht.
Dieses handelte in seiner Frühphase zwar auf den ersten Blick betont »stark« und scheinbar um den inneren Frieden der »nivellierten Mittelstandsgesellschaft« (Schelsky) besorgt, konkret im Rahmen der erfolgreichen Verbotsverfahren gegen die Sozialistische Reichspartei 1952 und die Kommunistische Partei Deutschlands 1956. Diese beiden bis heute einzigen Parteiverbote der Bundesrepublik nehmen sich im Rückblick jedoch eher als Teil eines größeren Plans aus, nämlich der Westbindung inklusive Wiederbewaffung und NATO-Beitritt; wurden doch durch die Verbote die beiden einzigen, wenn auch aus unterschiedlichen Motiven heraus dezidiert neutralistischen Parteien aus dem Weg geräumt.
Deutlich nachhaltigere Wirkung zeigten indes die zeitgleich beginnende Unterminierung des ohnehin weitgehend hypothetischen staatlichen Suprematieanspruchs durch verschiedenste aus dem westlichen Ausland importierte kulturelle Kampfmittel von Kritischer Theorie bis (Post-)Strukturalismus und die damit verknüpfte, zersetzende Selbstermächtigung aktivistischer Partikularkräfte: »Die Bedrohung der Freiheit in der modernen Gesellschaft kommt nicht vom Staat, wie der Liberalismus annimmt, sondern von der Gesellschaft«, schrieb Hannah Arendt in Vita activa (1960), und Schmitt gab im Vorwort zur 1963er Ausgabe des Begriffs des Politischen bereits alles verloren: »Die Epoche der Staatlichkeit geht jetzt zu Ende. Darüber ist kein Wort mehr zu verlieren.«
Daß die verbliebene selbsterhaltende Gewalt der Bundesrepublik potentiell ausschließlich gegen das angestammte Staatsvolk als am leichtesten beherrschbare Zielgruppe gerichtet ist, rührt nur zum Teil aus der Nachkriegslage und dem Wehren gewisser Anfänge her. Es schwingt darin auch das Versagen mit, sich rechtzeitig politisch an die drastischen Veränderungen durch Globalisierung und technologische Neuerungen anzupassen. Dem sicherheitsbedürftigen Bürger wird das Pharmakon umfassender öffentlicher, digitaler und biometrischer Überwachung offeriert, ohne daß er ablehnen könnte – ein »Schutz«-Wirtschaftszweig, der illegitime Gewalt in keiner Weise verhindern kann, sondern lediglich einen vagen Abschreckungsanspruch erhebt und gleichzeitig den Bürger selbst als potentielles Zielobjekt katalogisiert.
Das völlig überzogene, auf Abschreckung zielende Vorgehen gegen die Urheber einwanderungskritischer »Haßparolen« im Internet bei gleichzeitiger (Juli 2016) Hilflosigkeit gegenüber ersten islamistischen Terrorakten im Land belegt die Fokussierung des staatlichen Apparats auf mediale Inhalte und Wirkungen – Symbolpolitik – unter völliger Verkennung der agonalen Gesamtsituation. Der »real existierende Pluralismus, der sich seiner Strukturlosigkeit rühmt« (Thor v. Waldstein), hat in seiner Vermengungstendenz den Staat zur gesellschaftlichen Gruppe unter unübersichtlich vielen in einem extrem volatilen Zusammenhang bei simultanem Verschwinden zwischenstaatlicher Grenzen gemacht, und in diesem Kontext scheint die Verweigerung einer realistischen politischen Bestandsaufnahme und des entsprechenden Handelns bis hin zur offenbar bevorstehenden Kriminalisierung unliebsamer Informationsangebote – Fake news – selbst ein schwacher, verzerrter Versuch der Pazifizierung zu sein.
Eine unaufgeregte Anamnese des bestehenden systemischen Problems kann offenbar nur zu einem ernüchternden Schluß gelangen: Die Bundesrepublik ist in ihrem gegenwärtigen Zustand – den Willen einmal vorausgesetzt – zur politischen Einigung und Mobilisierung gegen eine existentielle Bedrohung, insbesondere eine innere, gar nicht imstande.
Dazu fehlt ihr schon die Souveränität, die Grundlage jeder konsequenten Entscheidung und Vollstreckung sein muß. Die »nationale Kraftanstrengung« läuft auf die Anpassung von Verwaltungsabläufen hinaus, nicht auf grundsätzliche Veränderungen. Dieser Apparat, der zwar über Macht verfügt, die Gewalt jedoch von sich weist, mag vieles sein – er ist und wird aber keinesfalls ein »starker Staat«, und Schönheitskorrekturen werden das nicht ändern. Schmitt schrieb bereits 1914, kurz vor Beginn der Dämmerung der abendländischen Staatlichkeit, in seiner späteren Habilitationsschrift Der Wert des Staates und die Bedeutung des Einzelnen:
Was inhaltslos ist, kann nicht widerlegt, was ganz im Absurden steckt, kann nicht ad absurdum geführt werden. Man muß es der Zeit überlassen, auf die es sich beruft.